taz.gespräch am 07.12.2015: Welche Gesellschaft werden wir?

Die Flüchtlingskrise hat unsere Gesellschaft verändert. Nur, wie geht es weiter? Die taz lud ein zur Diskussion.

Es wurde lebhaft diskutiert und gestritten, aber immer fair und sachlich. Bild: Video-Screenshot

Die sich entwickelnden globalen Prozesse sind in diesem Jahr in Europa und in Deutschland angekommen. Die deutsche Gesellschaft hat sich politisiert. Die Frage ist nun: Was machen wir daraus? Zu dieser Fragestellung diskutierten beim achten taz.gespräch im Neuen Schauspiel Leipzig Welt-Redakteur Robin Alexander, der wirtschaftspolitische Sprecher der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Grüne Diether Janecek und Marco Böhme, Mitglied des Sächsischen Landtags für Die Linke, in Vertretung der erkrankten Jule Nagel.

Zwei Lesarten würden, so Moderator, taz-Chefreporter und zeozwei-Chefredakteur Peter Unfried zum Beginn, derzeit in der deutschen Gesellschaft und Politik vorherrschen: Deutschland drohe der Ordnungsverlust und Deutschland würde eine wünschenswerte, normative Führungsrolle in der Flüchtlingsfrage übernehmen.

    Merkel-Kenner Robin Alexander beschrieb die Politik der Bundesregierung davon ausgehend als der Situation angemessen, machte aber auch deutlich, dass der derzeitige Kurs der Bundesregierung nicht in Stein gemeißelt sei: „Wenn sich die Situation mit dem Zustrom nicht verändert und eine europäische Lösung scheitert (…),dann wird es eine Lösung geben, die einen kleineren Schengen-Raum beinhaltet oder sogar richtige Kontrollen.“

    Dem hielt Marco Böhme entgegen, dass die Aufnahmefähigkeit Deutschlands noch bei Weitem nicht erschöpft sei und er nicht zwischen guten und schlechten Zuwandereren unterscheiden möchte. „Es darf nicht die Diskussion sein, ob wir eine Obergrenze brauchen oder eine Mauer oder ein Schild aufstellen. (…) Jeder Mensch, der hier reinkommt, ist eine Bereicherung für alle.“ Man müsse stattdessen aufhören, bei den Leuten Ängste zu schüren, so der 24-Jährige.

    Den Einwanderungsprozess steuern – aber wie?

    Diether Janecek plädierte zwar auch für eine optimistischere Sichtweise, gerade im Hinblick auf die große Leistung und Einsatzbereitschaft der Zivilgesellschaft, stellte aber auch klar: „Der Deutsche braucht am Ende immer die Ordnung.“ Eine Kanzlerin, die weder genau sagen könne, wie viele Menschen kämen und wie lange die Situation anhalte, verunsichere die Leute zu Recht.

    „Ich möchte, dass die Stimmung kippt. Dass Menschen aufstehen und für soziale Gerechtigkeit, für Flüchtlinge und für Menschenwürde streiten.“

    Robin Alexander ging da noch einen Schritt weiter. Es brauche eine Regulation der Einwanderung aus Gründen der Humanität: „Natürlich muss man einen Einwanderungsprozess steuern, weil wenn man ihn nicht steuert, wird er darwinistisch organisiert. (…) Selbst wenn man diese Menge an Zustrom erhalten will, muss man sich darüber Gedanken machen, wie man ihn organisiert.“ Entscheidend sei, wie diese Fragen in der Gesellschaft diskutiert werden. Dabei dürfe man weder die Herausforderungen marginalisieren, noch aufhören, konstruktiv um politische Lösungen zu ringen.

    Doch genau in solchen politischen Kompromissen der Vergangenheit sah Marco Böhme die Ursachen für die Probleme der Gegenwart, wie beispielsweise den Sozialabbau und zahlreiche Versäumnisse in der europäischen Flüchtlingspolitik. Deshalb vertrat er die Position: „Ich möchte, dass die Stimmung kippt. Dass Menschen aufstehen und für soziale Gerechtigkeit, für Flüchtlinge und für Menschenwürde streiten“.

    Verantwortung zu übernehmen – in Politik wie Gesellschaft

    Diether Janecek befürchtete hingegen ein Kippen der Stimmung in die entgegengesetzte Richtung. Das wichtigste sei es, dem Erstarken des rechten und linken Randes entgegen zu wirken: „Wie kann man die Mitte der Gesellschaft zusammenhalten“, fragte er deshalb. „Wenn man sich aus der Verantwortung zieht, dann tut man nichts Gutes“, so der Bundestagsabgeordnete. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, müssten die Menschen allerdings die Opfererzählungen hinter sich lassen und selbst mit anpacken.

    Auch das Publikum wurde immer wieder in die Diskussion mit einbezogen. Die ZuschauerInnen äußerten ihre Befürchtungen, übten Kritik an der praktizierten Politik, aber formulierten auch Visionen einer offeneren Gesellschaft. Am Ende war es ein kontroverses und emotional aufgeladenes taz.gespräch, das durch die Einbindung des Publikums definitiv an Fahrt gewinnen konnte und gut veranschaulichte, wie unterschiedlich die derzeitige Situation wahrgenommen wird und angegangen werden kann.

    JAKOB WERLITZ