Der zeozwei-Wochenüberblick #21: Was ist grüne Haltung?

Die Fünf-Minuten-Lektüre für Ökos und solche, die das eigentlich nie werden wollten.

Der Trainer des SC Freiburg, Christian Streich, zeigt eine mäßig gute Haltung auf Grün. Aber wie genau sieht eigentlich grüne Haltung aus? Bild: dpa

Die verstärkte Sehnsucht nach einer klaren „Haltung“ ist eine Reaktion auf die zunehmende Komplexität der Welt. Und die eigene Ratlosigkeit. Deshalb ist das gerade bei Grünen so verbreitet – alle rufen sie neuerdings „Haltung!“. Können aber nicht sagen, was sie mit der „Haltung“ genau meinen, die sie so gern haben möchten.

Ist das Problem der Gegenwart, dass alles so „mittig“ ist oder ist das Problem, dass die Mitte bröckelt? Beides. Wir haben es mit der paradoxen Situation zu tun, dass das Jahrhundert der klassischen Sozialdemokratie vorbei ist, aber alle im Bundestag vertretenen Parteien mehr oder weniger sozialdemokratisch drauf sind. Gleichzeitig und auch deshalb gewinnt die AfD und gewinnen überhaupt in Europa rechte und rechtspopulistische Parteien und Positionen an Wählern.

Dadurch scheint einen Moment lang die Möglichkeit auf, doch wieder mit klarer Kante denken, sprechen und agieren zu können. Durch Ausgrenzung jener, die ausgrenzen wollen. Das ist doch jetzt wirklich Bürgerpflicht?

Eine Haltung der Gegenwart ist lösungsorientiert

Kommt drauf an. So wie die einen nicht differenzieren und den Menschen sehen, sondern sich konzeptionelle Andere basteln (Muslime, Flüchtlinge), so basteln die anderen sich konzeptionelle Nazis und moralische Untermenschen, die als Gruppe diffamiert werden: AfD-Wähler, Ossis, Österreicher oder einfach „Pack“, wie Sigmar Gabriel sagte. Haltung soll hier bedeuten: Mit euch rede ich nicht, ich rede über euch.

Das ist in extremen Fällen völlig angemessen. Aber es ist kein Prinzip, mit dem man durchgehend agieren kann. Vor allem ist die AfD nicht daaas Problem. Die AfD verschärft bestimmte Probleme oder hat Probleme sichtbar gemacht. Etwa die Probleme der (Ex-)Volksparteien, auf die Entwicklungen der Gegenwart Antworten zu geben. Folge: Verlierer des politischen Verteilungskampfes wenden sich von der Demokratie ab. Statt sich auf AfD-Verdammung zu fokussieren, muss man den erreichbaren Teilen ihrer Wähler eine Chance bieten, wieder Teil zu haben.

Eine Haltung der Gegenwart ist daher lösungskonzentriert. Der Haltungs-König des linksalternativen Sandkastens, der sich von den Zumutungen der Wirklichkeit und oft auch von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzt, ist der Loser der Wirklichkeit, denn seine Empörung ist eine Moral-Flucht. Das aber ist komplett unmoralisch und unpolitisch, weil es weder Geflüchteten oder alleinerziehenden Müttern etwas bringt, noch den Klimawandel bremst und schon gar nicht den Zusammenhalt der Gesellschaft befördert.

Kein „Feel-good“-Faktor

Haltung muss sich handelnd einlösen. Das ist bei der energetischen Sanierung in einer komplizierten blockierenden Hausgemeinschaft nicht anders als bei Koalitionskompromissen zur Einwanderungspolitik oder internationalen Klima-Verhandlungen.

Haltung zeigen ist kein „Feel-good“-Faktor. Haltung, sagt Daniel Cohn-Bendit, ist die Fähigkeit, wenn die Realität dir widerspricht, dich dieser Realität zu stellen. Und nicht weiterzuplappern, was du immer gesagt hast. Das hat Angela Merkel nach Fukushima geschafft. Die Rückkehr zum Atomausstieg war kein Opportunismus oder Verrat an CDU-Idealen; die Kanzlerin hat sich in dieser Frage endlich der physikalischen und auch der gesellschaftlichen Wirklichkeit gestellt.

Auch die sozialökologische Transformation kann nur mit einer Hinwendung der Ökos zur Gesellschaft an Unterstützung und Dynamik gewinnen. Sie kann keine Minderheiten-Angelegenheit sein, sondern muss das zentrale Projekt sein, das aus der Mitte der Gesellschaft heraus politisch verlangt wird. Die Protagonisten bei den Grünen und gern auch anderen Parteien müssen der Gesellschaft sagen können, was gehen kann. Mit der Kraft einer dialogischen Sprache und Persönlichkeit Bündnisse schließen. Die Bündnisse im Handeln verbreitern und die Transformation mit wachsender Akzeptanz radikalisieren.

Eines muss man kapieren: Haltung kann man sich nicht selbst beim Grünen Parteitag attestieren. Sie muss einem von den anderen zugeschrieben werden.

PETER UNFRIED ist zeozwei-Chefredakteur

Was ist grüne Haltung? – Das ist eine der Debatten, die wir in der aktuellen Ausgabe von zeozwei führen. Weitere Fragen sind: Wie gelingt Leben mit Einwanderung? Soll man sein Smartphone wegschmeißen? Kann man politisch essen? Was muss im Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung stehen? Sind E-Autos Zukunft oder Unfug? Müssen Klimaschützer die Arbeit am gesellschaftlichen Bewusstsein aufgeben?

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Den zeozwei Wochenüberblick vom zeozwei-Chefredakteur Peter Unfried können Sie gerne auf unserer Facebook-Seite diskutieren.

„Um die von Union und SPD gewünschte massive Drosselung des Ausbaus der Erneuerbaren Energien zu verhindern, sind nun alle gesellschaftlichen Kräfte gefragt, ihre Aktivitäten in die Energiewende dennoch wieder zu verstärken. Vom EEG unabhängige Investitionen in Ökostromprojekte, in neue Geschäftsmodelle, in Kombikraftwerke, in die Verbindung mit Wärme- und Verkehrssektor und in autarke oder autarkiefähige Eigenenergieerzeugung sind einige Stichworte. Es gibt nichts wichtigeres für den Klimaschutz und den Atomausstieg, als dass die Gesellschaft daran arbeitet, dass die von der Bundesregierung vorgelegten Ausbauziele weit übertroffen werden.“

 

Hans-Josef Fell, Präsident der Energy Watch Group, zur Novellierung des EEG durch die Regierungskoalition von Union und SPD.

Atomendlagersuche: Jahrzehntelang haben die Grünen die Atomkraft bekämpft. Jetzt machen sie sich unbeliebt, weil sie in Regierungsverantwortung dieses dreckige Erbe angenommen haben. Bernhard Pötter skizziert die Lage.

 

Anton Hofreiter vs. Massentierhaltung: „Ungern lasse ich mich von den Grünen verarschen und mir Marketing-Slogans wie ‚100 Prozent fair‘ andrehen, wenn tatsächlich ‚10 Prozent weniger übel‘ gemeint ist.“ Ein Wutausbruch von Hilal Sezgin.

 

Endlich mal kein Fußball.

Was jetzt?

Von der zeozwei-Liste „10 Bücher für den Sommer“, hier der Tipp von taz-Kulturredakteurin Tania Martini.

Paul Mason: Postkapitalismus. Suhrkamp, 2016. 26.95 €

Bis 2050 geht das gut. Dann zerstören wir uns selbst. Paul Mason, von vielen als neuer Visionär gefeiert, ist nicht einfach alarmistisch, er streitet für den Postkapitalismus: Eine Zukunft, in der Eigentum und Einkommen völlig anders organisiert sind. Die Gesellschaft als große Genossenschaft? Ein erhellendes, optimistisches Buch, das den Glauben an den Fortschritt wiederentdeckt.

Die vollständige Liste finden Sie in der Sommerausgabe von zeozwei „Hallo, Nachbarn“.

Bremen, noch bis 12. August: Spuren der Beraubung – Ideen für ein Bremer „Arisierungs-“ Mahnmal, Festsaal der Bremischen Bürgerschaft, Montag bis Freitag von 10 bis 17 Uhr

Deutschlandweit: Die offene Gesellschaft – welches Land werden wir? Sommerpause. Nächste Veranstaltung ist am 1. September in Düsseldorf.

 

That wraps it up for today. Until next week: Keep your feet on the ground and keep reaching for the stars.