Umweltbewegung: Die neue Öko-Power

TTIP, VW-Skandal, Glyphosat: Der Einfluss der deutschen Umweltverbände scheint so groß wie lange nicht. Doch was steckt dahinter?

Die Anti-TTIP-, Anti-CETA-Bewegung bleibt aktiv. Tausende Unterstützer waren letztes Wochenende erneut auf den Straßen Bild: AP

Der SPD-Parteichef Sigmar Gabriel ist schon gegangen. Am frühen Abend des 10. Mai in diesem Jahr sieht es nach einer Routinesitzung der SPD-Bundestagsfraktion im Berliner Reichstag aus. Und nicht nach einer Entscheidung, die das Klima in der großen Koalition vergiften wird. Plötzlich kommt die Sprache auf Glyphosat, das umstrittene Unkrautmittel.

Die EU will das Mittel wieder genehmigen. Die Bundesregierung hat das eigentlich schon gebilligt. Dass nicht geklärt ist, ob Glyphosat Krebs erzeugt – unerheblich. Die Regierung Merkel hat andere Probleme. Immer mehr Flüchtlinge kommen nach Deutschland. Der Euro schwächelt. In England droht der Brexit. Aber die Umweltschützer geben keine Ruhe.

Seit Wochen häufen sich – fein dosiert vor entscheidenden Abstimmungen – die Nachrichten in Fernsehen, Radio, Zeitung. „Glyphosat im Urin.“ „Glyphosat in deutschem Bier.“ Die Onlineplattform Campact sammelt für die Forderung „Glyphosat muss vom Tisch“ gut sechshundertzehntausend Unterschriften.

Politische Debatten verändern

Der Ton hat sich geändert. Jahrelang haben die Landwirte Glyphosat wie sonst kein anderes Unkrautgift weltweit auf ihre Felder gesprüht. Doch nun erreicht die Ökokampagne die Gesellschaft. Und die SPD reagiert. An diesem Dienstag echauffieren sich ihre Abgeordneten. Es geht jetzt Schlag auf Schlag.

Umweltministerin Barbara Hendricks wirft den SPD-Gesundheitsleuten vor, sie hätten sich nicht genug eingemischt. Karl Lauterbach, selbst Mediziner, fühlt sich angegriffen. Fraktionschef Thomas Oppermann, Prominente wie Ute Vogt und Matthias Miersch – auf einmal mischen sich alle ein gegen die Zulassung.

Die Umweltverbände gewinnen. Wie in den letzten Monaten oft. Die Deutsche Umwelthilfe deckt den Dieselskandal auf. Greenpeace veröffentlicht TTIP-Leaks, die Geheimdokumente über das geplante transatlantische Freihandelsabkommen. Jede Aktion für sich ist ein Coup. Jede ändert die politische Debatte.

Dicke Luft in der Koalition

Der Mittwoch nach der hitzigen SPD-Fraktionssitzung, die SPD-Ministerinnen und -Minister frühstücken zusammen wie immer vor der üblichen Kabinettssitzung. Hendricks eröffnet ihren verdutzten Parteikollegen, dass die SPD-Abgeordneten wünschen, dass Glyphosat abgelehnt wird.

Kurz darauf geht beim vom CSU-geführten Agrarministerium eine E-Mail aus Sigmar Gabriels Wirtschaftsressort ein. Darin heißt es: „Bezüglich der Ressortabstimmung zur Wiedergenehmigung des Pflanzenschutzmittels Glyphosat habe ich Sie von der Entscheidung des Ministers zu unterrichten, sich seitens des Mitgliedstaats Deutschland bei der Abstimmung am 18./19.05.2016 zu enthalten.“

Es kracht in der Koalition. Agrarminister Christian Schmidt wirft dem Koalitionspartner „Politik nach Belieben“ vor. Das Kanzleramt mischt sich ein. Die SPD bleibt hart. Den Ärger mit dem Koalitionspartner nimmt sie in Kauf, den der verunsicherten Wähler nicht. Der Einfluss der Umweltverbände scheint groß wie lange nicht. Ändern sie sich – oder ändert sich die Gesellschaft?

Eine neue Generation von Klimaschutzaktivisten: Jung, anti-kapitalistisch, kompromisslos? Bild: Ende Gelände/Jo Syz/flickr (CC BY 2.0)

Immer auch ein bisschen Glück

Für die Antwort ist wichtig zu wissen, was sich genau getan hat. Heike Moldenhauer arbeitet seit Jahren beim Umweltverband BUND. Sie hat geholfen, den Aufstand gegen das Unkrautgift ins Rollen zu bringen. Glyphosat fiel ihr schon Mitte der Neunzigerjahre auf, ab 2012 beschäftigte der Stoff sie dann richtig: Sie forderte Alternativen und ein Umdenken in der Landwirtschaft.

Gehör fand sie damit aber erst so recht, „als die internationale Krebsagentur der Weltgesundheitsorganisation das Urteil ‚wahrscheinlich krebserregend‘ fällte“, sagt sie. Der Erfolg – eher ein Zufall? „Ein bisschen Glück ist immer dabei“, sagt Axel Friedrich, der zusammen mit der Deutschen Umwelthilfe die Lüge vom sauberen Diesel auffliegen ließ.

Früher war er Abteilungsleiter Verkehr im Umweltbundesamt, heute berät er verschiedene Umweltverbände, auch Regierungen in anderen Ländern. Die Aufdeckung des Dieselskandals habe mit einem Irrtum begonnen, erzählt er: „Wir wollten in den USA zeigen: Seht her, hier schaffen die Autos aus Deutschland die viel strengeren US-Grenzwerte, dann müssten sie das zu Hause doch auch hinbekommen.“

Seine Kollegen vom „Internationalen Rat für sauberen Verkehr“, kurz ICCT, und er testeten unter anderem den Stickoxidausstoß von VW-Dieselwagen. Das Ergebnis war eine Überraschung: Die Autos schafften die US-Werte gar nicht, sie überschritten sie um ein Vielfaches. VW stritt zunächst aber eigene Fehler ab und erklärte den US-Behörden stattdessen, dass es sich um einen bedauerlichen Softwarefehler handele.

Konzernchefs unter Druck

„So wurde der Fall erst richtig groß“, sagt Friedrich. Die US-Regierung geht im Zweifel anders als die deutsche mit voller Härte gegen Umweltsünder vor. Friedrich und seine Mitstreiter testen weiter, treten vor die Presse, lancieren Exklusivberichte. Friedrich hat für den Katalysator, den Rußfilter, für die grüne Plakette und für einen anderen Verkehr gekämpft. Umweltschützer schätzen sein Engagement schon immer, die Autobranche fürchtet ihn.

Aber jetzt hat er weltweit einen Namen, selbst die New York Times druckte ein Foto von ihm ab. Und plötzlich steht infrage, ob die europäische, aber vor allem die deutsche Autobranche die notwendige Modernisierung schafft, die etwa der kalifornische E-Autohersteller Tesla vormacht.

Die Konzernchefs stehen unter Druck. Matthias Müller von VW erklärt, dass er sich die Hälfte seiner Arbeitszeit mit der Mobilität der Zukunft beschäftigt. Dieter Zetsche verspricht, Daimler „radikal“ zu einem anderen Unternehmen zu entwickeln.

Die neue Macht der Umweltverbände

Einst kletterten Umweltaktivisten als Hippies die Fassaden und Schornsteine von Chemiefabriken rauf oder machten sich in Schlauchbooten gegen Atomtests auf. Mittlerweile sind sie zudem effiziente Lobbyisten, Interessenvertreter wie andere auch. Sie bespielen klug die Medien. Sie machen ihren Einfluss geltend. Nur: Wie groß ist die Macht, die sich daraus jetzt entfaltet?

Zu groß – aus Sicht der Wirtschaft. Sie sieht sich unter „erhöhtem Rechtfertigungsdruck“. Thomas Holtmann ist Abteilungsleiter Umwelt und Nachhaltigkeit beim Bundesverband der deutschen Industrie, BDI. Er meint: „In weiten Bereichen haben die Umweltverbände in Deutschland die alleinige Deutungshoheit.“ Die Medien übernähmen oft ungeprüft die Positionen der Umweltverbände, ließen etwa eine Differenzierung bei angeblich krebserregenden Chemikalien weg.

„Deutungshoheit.“ Das ist die eine Seite. Es gibt aber auch die andere Seite. Denn was ändert sich tatsächlich? Landwirte versprühen ein anderes Gift, wenn Glyphosat vom Markt verbannt wird. 21 Dieselwagen verkaufen sich nach wie vor. Und die Bundesregierung hält offiziell immer noch an TTIP fest.

Greenpeace landete einen Coup

Dabei ist der Widerstand gegen den geplanten Handelspakt zwischen der EU und den USA gewachsen, seit Greenpeace vor dem Brandenburger Tor im Mai einen TTIP-Leseraum aufgestellt hat. Den Ökoaktivisten waren vertrauliche Dokumente zugespielt worden. Nun bekam ihre seit Längerem laufende Anti-TTIP-Kampagne erstmals Wucht.

Die EU-Kommission ist so erbost, dass sie intern intensiv nach dem heimlichen Informanten fahndet. Greenpeace hat ihm absolute Verschwiegenheit zugesagt. Deshalb sagt Stefan Krug auch nichts mehr über den Polit-Coup der Umweltschützer.

Die TTIP-Leaks von Greenpeace ermöglichen Einblicke in geheime Verhandlungsdokumente Bild: Reuters

Krug leitet die politische Vertretung von Greenpeace in Berlin. Von einer neuen Rolle der Umweltverbände will er jedenfalls nichts wissen. Er meint: „Das ist ein Mythos unserer Gegner.“ Die Ökoverbände sollten größer und mächtiger erscheinen, als sie sind. „Wir tun das, was eigentlich Regierung und Behörden tun sollten“, sagt er – politische Entscheidungen erklären, die Einhaltung von Grenzwerten kontrollieren.

Die Umweltbewegung im Aufbruch

Die Rolle mag nicht neu sein, die Seriosität, mit der die Ökoaktivsten sie über die Jahre ausfüllen, ist es sicher. „Die Umweltdebatte hat sich deutlich verfachlicht und versachlicht“, sagt Dieter Rucht. Als Professor für Politologie in Berlin erforscht er seit den Siebzigerjahren die sozialen Bewegungen.

Die Aufbruchstimmung und Euphorie der Umweltbewegung in den Siebzigerund Achtzigerjahren sei verflogen. Die Aktivisten erledigten ihren Job nicht nur mit der spektakulären Aktion. Sie seien selbst zu Experten geworden, die es mit jenen in Industrie und Behörden aufnehmen, meint Rucht: „Das hat ihnen Einfluss gebracht, sie aber auch gezähmt.“

28 Prozent des WWF-Etats, also 18,7 von 66 Millionen Euro, sind öffentliche Gelder. Die Umweltschützer machen Projekte im Auftrag des Bundesumweltministeriums oder der Kreditanstalt für Wiederaufbau. Das ist nur ein Beispiel von vielen.

Der lange Marsch durch die Institutionen

Die Ökoverbände üben sich alle nicht mehr allein in Konfrontation, sie sind zur Kooperation übergegangen. Sie schicken ihre Leute in den Nachhaltigkeitsrat der Bundesregierung, in Ausschüsse der Parlamente oder in Expertenzirkel mit der Industrie. Der NABU schließt eine „strategische Partnerschaft“ mit dem Handelskonzern Rewe. Die Deutsche Umwelthilfe arbeitet in Projekten mit Autokonzernen wie Toyota, Ford oder Daimler zusammen.

Auch im politischen Betrieb verweigern sich Ökoverbände nur im Ausnahmefall. Bei der Endlagerkommission des Bundestags, die zwei Jahre lang gearbeitet und Ende Juni ihre Empfehlungen für eine Suche nach einem Platz für Atommüll vorgelegt hat, machten von den Umweltverbänden nur der BUND und die Deutsche Umweltstiftung mit. Greenpeace lehnte eine Teilnahme ab. Und der BUND-Vertreter stimmte am Ende gegen den Abschlussbericht.

Manche Umweltlobbyisten haben ganz die Seite gewechselt, machen nun einen Job im Industrieverband, in der Verwaltung oder in der Bundesregierung. Prominentes Beispiel für den langen Marsch durch die Institutionen: Jochen Flasbarth, SPD-Mann. Der ehemalige NABU-Vorsitzende wurde Abteilungsleiter Naturschutz im Umweltministerium in Berlin, dann Chef des Umweltbundesamtes und ist jetzt Staatssekretär bei Ministerin Hendricks.

Dagegen zu sein, ist nicht genug

Man kennt sich. Man schätzt sich. Man verhandelt. Die Welt ist obendrein komplizierter geworden. Der Dirigent Enoch zu Guttenberg hält krachende Reden gegen den Ausbau der erneuerbaren Energien. Früher habe man „bis zum Umfallen gekämpft“, einer kleineren Blaukehlchen-Population wegen. Heute würden „See- und Schreiadler, Störche, Eulen, Uhus, Rotund schwarze Milane, ganze Zugvogelzüge nüchtern im deutschen Naturschutz unter Kollateralschäden abgeheftet“. Er spricht schon mal von einer „Windwahnerkrankung“.

Zu Guttenberg ist nicht irgendwer. Er hat den Umweltverband BUND einst mit gegründet, wegen der Energiepolitik ist er schon vor vier Jahren ausgetreten. Genauso wie Hans-Josef Fell, grüner Energieexperte – aber der aus dem genau entgegengesetzten Grund: Fell wirft dem BUND vor, den Ausbau der erneuerbaren Energien zu bremsen. Die von Ökos mit erkämpfte Energiewende birgt nun selbst einen Ökokonflikt.

Im Sommer forderten Aktivisten von „Ende Gelände“ den umgehenden Ausstieg aus der Kohleenergie Bild: dpa

Den Planeten zu retten bedeutet heute mehr, als Wale oder Kraniche zu schützen. Einfach „dagegen“ oder „dafür“ zu sein – das reicht kaum. „Wenn …, dann“-Überlegungen, „Ja, aber“- Aussagen oder Datenkolonnen prallen jedoch leicht am Publikum ab. Auch wird es sich schnell abwenden, wenn Verzicht gepredigt wird. Fliegt weniger, fahrt kein Auto – das hört kaum jemand gerne. Bewegungsforscher Rucht erklärt die Funktionslogik der Ökoverbände so: „Ich gebe Geld, ihr macht!“

Die Zahl der Unterstützer steigt

Die Sehnsucht nach „ihr macht“ wächst allerdings. Greenpeace bekam im Jahr 2015 im Vergleich zu 2014 satte fünf Millionen Euro mehr an Spenden, insgesamt 57,7 Millionen Euro. Die Zahl der Förderer und Mitglieder steigt bei allen großen Umweltverbänden. Rucht nennt die Unterstützer „Scheckbuch- Aktivisten“. Sie zahlen, damit andere die Gesellschaft verändern. Es ist ein Deal.

Um diesem Deal nachzukommen, brauchen die Ökoaktivisten Professionalität. Vor allem Hartnäckigkeit. Und Glück. Das haben die vergangenen Monate gezeigt. Am Anfang kann alles schleppend und dann überraschend schnell gehen. In jedem Fall dringen sie mit klaren Botschaften am leichtesten durch. Sie heißen heute „Nein zu Glyphosat“ oder „Stopp TTIP“.

Wer aber dem wohl drängendsten Weltproblem, dem Klimawandel, den nötigen Platz in der gesellschaftlichen Debatte einräumen will, braucht ein neues „Atomkraft – nein danke!“. Eine Botschaft, die dem komplexen Thema vielleicht nicht ganz gerecht wird, die sich aber in den Köpfen und politischen Strömungen festsetzt.

Eine junge Generation von Umweltaktivisten

In diesem Sommer blockierten Demonstranten von „Ende Gelände“ zu Tausenden die Kohletagebaue in der Lausitz und im rheinischen Revier. Sie forderten den sofortigen Kohleausstieg. „Fossile Brennstoffe verursachen Klimawandel und von den fossilen Brennstoffen ist die Braunkohle der dreckigste“, so ein Initiator des Protestes.

Die Aktivisten sind zum großen Teil jung, denken anti-kapitalistisch und nicht in politischen Kompromissen wie mittlerweile die etablierten Ökolobbyisten der großen Umweltverbände. Damit sind Draufgänger unterwegs, die die notwendige Entschlossenheit zu haben scheinen wie einst die Anti-Atom-Leute.

Forscher Rucht war überrascht: „Als jemand vor ein paar Jahren eine deutsche Anti-Kohle-Bewegung ins Gespräch brachte, habe ich gedacht: Das klappt nie.“ Seit einiger Zeit macht er jedoch eine Protestszene aus, die sich schnell bewegt zwischen Flüchtlingshilfe, Anti-Nazi-Demos, Veganismus – und Braunkohlegruben. Die Leute binden sich nicht fest, nicht an die Kirchen, nicht an Gewerkschaften und auch nicht an die Ökoszene. Die Klimadebatte aber hat sie erreicht.

Die SPD und andere Parteien registrieren genau, was Wähler beschäftigt. Vor allem jetzt, wo sie ihre Strategien für den Bundestagswahlkampf 2017 festlegen. „Kohlekraft abschalten!“ könnte die prägende neue Ökobotschaft werden.

HANNA GERSMANN ist zeozwei-Chefredakteurin der zeozwei. BERNHARD PÖTTER ist taz-Redakteur und zeozwei-Korrespondent

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