„Ich will, daß der Kreis sich wieder schließt“

Gesichter der Großstadt: Der 67jährige Fred Gerstle warnte mit einer ungewöhnlichen Todesanzeige vor neuem Antisemitismus/ Jüdischer Vater wurde von den Nazis in den Tod getrieben  ■ Von Severin Weiland

Vier Tage vor Weihnachten erscheint in zwei großen Abonnementzeitungen der Stadt eine ungewöhnliche Anzeige. Sie ist einem Mann gewidmet, der seit 58 Jahren auf dem Jüdischen Friedhof in Weißensee liegt. Am 12. Dezember 1934, so heißt es da, sei der Bankier Fritz Gerstle „gehetzt, verleumdet und verraten“ von der Gestapo in den Freitod getrieben worden. Der Text endet mit einer Frage und einem Bekenntnis: „Ist es schon wieder soweit in Deutschland? Stolz sein Sohn zu sein, wird mir mein Vater als ein Vorbild von Güte und Humanität unvergessen bleiben.“

Fred Gerstle, 67 Jahre alt und Verfasser der Anzeige, hat seinen jüdischen Vater überlebt. Aber die Erinnerung an ihn und die Hellhörigkeit gegenüber blindem Haß ist geblieben und wird immer wieder hochgespült – nicht erst seit Rostock und den Anschlägen der letzten Monate. Zwei Dinge waren es, die ihn zur Annonce bewegten, eine Öffentlichkeit zu suchen, die er keineswegs liebt. Da tauchte zum einen das Testament seines Vaters aus dem Jahre 1930 beim Amtsgericht Charlottenburg auf. Und da war die Wiederbegegnung mit einem längst totgeglaubten Freund.

Im Fernsehen erkannte er das Gesicht von Lothar Baruch, heute Leslie Brent. Seinen früheren Jugendgefährten, heute Professor in London, hatte er vor 54 Jahren zum letzen Mal gesehen. Das war Ende 1938 im 2. Jüdischen Waisenhaus in Pankow. Zusammen mit anderen Kindern saßen sie auf gepackten Koffern und sollten nach England verschickt werden. Fred Gerstle erinnert sich genau: „Das Telefon klingelte, Anruf von der Jüdischen Gemeinde: Der Transport sei überfüllt, drei Kinder müßten zurückbleiben. Zweimal läutete noch das Telefon, und jedes Mal wurde ein weiteres Kind gerettet. Ein drittes Mal jedoch nicht. So blieb ich bei diesem Transport als einziger zurück.“ Das war das Ende einer Jugendfreundschaft.

Als sie sich im Sommer letzten Jahres in Berlin wiedersahen – Gerstle hatte über den SFB die Anschrift bekommen – besuchten sie das Kinderheim, zu DDR-Zeiten Sitz der kubanischen Botschaft. Sie erinnerten sich gemeinsam an vieles; wie ihn seine Mutter notgedrungen nach dem Freitod des Vaters in aussichtsloser finanzieller Lage unterbringen mußte und der Neunjährige dies wie eine persönliche Bestrafung empfand. Wie Lothar und er in der Nacht des 9. November 1938 in die oberste Etage fliehen konnten und so als einzige der vielen Zöglinge nicht mißhandelt wurden. Und sie sprachen von jenem mutigen Lehrer Heinz Nadel, der mit einem Kind auf den Schultern den Nazi-Schlägern furchtlos entgegentrat.

Das Waisenhaus in Pankow – für Gerstle war es der Beginn einer langen Irrfahrt, der Beginn von „zwölf Jahren hinter Mauern und in Lagern“, wie er heute sagt. Es war das Ende einer glücklichen Kindheit – und der Beginn einer schwierigen Beziehung zu seiner Mutter. Sie überlebte den Krieg und starb vor vier Jahren, im Alter von 93 Jahren. „Wir hatten stets unterschiedliche Ansichten über ihre damalige Handlungsweise, und so war das Kernthema der Vergangenheit eigentlich immer ein Tabu.“ Heute glaubt Gerstle, daß seine Mutter ihn nicht aus Angst vor den Nazis im Waisenhaus abgab, sondern seine jüdisch- orthodoxe Verwandtschaft darauf bestand, daß er jüdisch erzogen werde.

Seine Mutter, das war die „strahlende arische Schönheit“, wie Gerstle heute sagt, die aus einfachen sozialen Verhältnissen stammte und seinerzeit aus Liebe dem Druck der Schwiegereltern nachgab und bei der Heirat zum Judentum konvertierte. Und als ob er dies beweisen müßte, zeigt Gerstle Fotos. Ein junges Paar aus der gehobenen Bürgerschicht, mit dem kleinen Fred im neuen Wagen der Marke „Buick“, auf dem Grundstück in Bad Saarow, mit dem in der Weimarer Zeit berühmten Kammersänger Heinrich Schlusnus. Stets lächelnd, stets ausgelassen, fast immer in Gesellschaft. Obwohl sich Fred Gerstle an Spuren dieser Idylle erinnert, hat sich der Freitod seines Vaters tief in seine Seele eingegraben. Nach dem Krieg stellte er Recherchen an, fanden sich Überlebende, die einst seinen Vater gekannt hatten. So auch einen ehemaligen Angestellten des Bankiers, der als Jude in die Schweiz emigriert war. Dieser gab 1955 in einer Erklärung zu Protokoll, daß Fritz Gerstle von dem Mitarbeiter und vermeintlichen Freund Heinz Michel bei der Gestapo denunziert worden war – Michel war Mitglied der SS. Fritz Gerstle litt nach den Verhören an „Gemütsstörungen“. Schließlich wurde ihm die Börsenkarte entzogen – 1934 glich das einem Berufsverbot. Als Mitte Dezember wiederum ein Termin bei der Gestapo anstand, fuhr der Bankier auf sein Sommergrundstück in Bad Saarow-Pieskow, schluckte eine ganze Röhre Schlaftabletten der Marke „Varonal“ und erhängte sich anschließend.

Die Trauer des Kindes über den plötzlichen und unbegreiflichen Tod schlägt um in Aufsässigkeit, die er seinen Erziehern im Heim entgegenbringt und die ihn bis heute nicht verlassen hat. Statt der liberalen Erziehung seines Vaters erfährt er jetzt eine Atmosphäre wie „in einer Kadettenschule“. Tag für Tag lernt er die jüdischen Gesänge auswendig – noch heute kennt er sie, ohne den Sinn der Worte zu verstehen. Während er die jüdische Erziehung eingebleut bekommt, tritt seine Mutter Ida 1939 aus dem Judentum aus, um sich vor der Verfolgung zu schützen. Sie, mit dem arischen Abstammungsnachweis bis in das 17. Jahrhundert, bleibt fortan ungeschoren. Die Mutter – eine Frau voller Widersprüche. Sie, die ihr einziges Kind in ein Heim abgibt, versteckt später unter Lebensgefahr bis zum Ende des Krieges in einer von Nazis bewohnten Villa in Zehlendorf- West eine jüdische Freundin.

Überleben in Holland

Fred Gerstle aber, dem Jugendlichen, bleibt keine Wahl. In seinen Unterlagen des Waisenhauses wird er nicht – wie es die Nazis nach den Rassegesetzen verordneten – als „Halbjude“ geführt, sondern als „Volljude“. Und als solcher emigriert er Anfang 1939 mit einem der letzten Kindertransporte, die von der Jüdischen Gemeinde noch organisiert werden konnten, als Fred Israel Gerstle und mit einem „J“ im Paß nach Holland. Dort geht es von einem Flüchtlingslager ins nächste, bis ihn schließlich ebenfalls emigrierte Freunde seiner Mutter in ein internationales Landschulheim der amerikanischen Quäker in Ommen bei Zwolle unterbringen. Eine Periode des Aufatmens beginnt, doch die Sicherheit währt nicht lange. Nach dem Einmarsch der Deutschen 1940 muß Gerstle mit ansehen, wie viele seiner jüdischen Freunde untertauchen, die verbliebenen eines Tages im Landschulheim getrennt kaserniert und später verschleppt werden. Er selbst wird nun neu registriert und jetzt als „Mischling ersten Grades“ eingestuft. Vier Jahre lebt Gerstle, der eine landwirtschaftliche Ausbildung erhält, relativ unbehelligt in Ommen. 1944, sechs Wochen vor der Invasion der Alliierten in der Normandie, wird er während eines Urlaubs in Amsterdam bei einer Razzia festgenommen. Er hat inzwischen zwar einen holländischen Personalausweis, aber auch eine deutsche Wehr-Ersatz-Bescheinigung, denn er ist nach der Okkupation Hollands von der Wehrmacht gemustert worden. Darin heißt es lakonisch: „Ersatzreserve 2. NzV“. Die Leiter der Razzia kennen die Kodierung: Sie bedeutet „Halbjude“. Die Rücksprache mit Berlin stiftet Verwirrung, denn dort ist Gerstle nach wie vor als „Volljude“ registriert. Nach endloser Beweisaufnahme, in welche auch die Schulleitung eingreift, wird entschieden: Gerstle soll zur Klärung nach Berlin zurück. Zwei Beamte begleiten ihn. In Berlin wird er von der Gestapo geschlagen, aber dann – auf Intervention seiner Mutter – zu ihr entlassen. Einige Wochen lebt er bei ihr, bis eines Tages eine erneute Vorladung von der Gestapo kommt. Gerstle flieht – und wird bei Zossen aus der S-Bahn geholt. Man bringt ihn ins Jüdische Krankenhaus in der Iranischen Straße – Sammelpunkt für die Transporte nach Auschwitz und Theresienstadt. Nachdem seine „Mischlingsabstammung“ endgültig geklärt ist, kommt er, wie er heute spöttisch sagt, statt „nach Auschwitz“ zur „Organisation Todt“, dem paramilitärischen Arbeitsdienst. An der Westfront wird er zusammen mit politischen und kriminellen Häftlingen bei Erdarbeiten in vorderster Front eingesetzt. Bis es ihm schließlich Anfang 1945 während der harten Kämpfe um die Stadt Prüm (Eifel) gelingt, zu den Amerikanern überzulaufen.

Doch auch hier in der Gefangenschaft nimmt die Irrfahrt kein Ende. In der wehrmachtsähnlichen Uniform der „Organisation Todt“ glaubt ihm niemand seine Geschichte, glaubt niemand, daß er einen jüdischen Vater hat, der von den Nazis verfolgt wurde. Unterlagen hat er keine dabei, und seine große Erscheinung macht ihn eher zusätzlich verdächtig als glaubwürdig. Man bringt ihn von Frankreich aus in eines der schlimmsten Kriegsgefangenenlager der USA, in das Camp Ruston in Louisiana. Dort befinden sich unter anderem Kriegsgefangene aus allen möglichen SS-Einheiten Europas. Er unternimmt zwei Fluchtversuche nach Mexiko, widersetzt sich allen Anordnungen und Befehlen, er hackt weder Holz, noch pflückt er Baumwolle. Sieben von neun Monaten, die er dort verbringen muß, ist er in Einzelhaft. Sein hartnäckiger Widerstand führt schließlich dazu, daß er die letzten zwei Monate als Kellner in der Offiziersmesse der Amerikaner arbeiten darf. Anfang 1946 überstellen die Amerikaner Gerstle in ein britisches Gefangenenlager bei Antwerpen. Bei der Ankunft gibt es einen Aufruhr. Die englischen Wachmannschaften – selbst schlecht verpflegt – vergreifen sich an den prall gefüllten Verpflegungssäcken, die den Gefangenen von den Amerikanern übergeben worden sind. Gerstle gerät in eine Schlägerei mit einem englischen Soldaten. Von da an wendet sich das Blatt. Ein britischer Offizier greift ein und hört Gerstle geduldig zu. Der Uniformierte ist ein deutscher Jude, ein Emigrant, und er glaubt die Geschichte. Der damals 21jährige Gerstle erhält einen Job als Dolmetscher für Deutsch, Englisch und Flämisch im Lager – eine privilegierte Stellung, die er bei der erstbesten Gelegenheit nutzt, um sich selbst auf die Liste eines Krankentransportes zu setzen. Im Frühjahr 1946 steht Fred Gerstle vor seiner Mutter in Westberlin, frisch rasiert und in Zivilkleidung, endlich frei, „davongekommen“, wie er heute sagt.

Zwischen allen Stühlen

Zwölf Jahre Kindheit und Jugend zwischen Heim und Lagern, von denen einen als Jude verstanden, von den anderen als Halbjude registriert, von den Alliierten als deutscher Kriegsgefangener der SS- Mitgliedschaft bezichtigt, in einem Krieg, der nie seiner war, haben Gerstle geprägt. Niemals wieder, sagt er sich, werde ich mich einengen lassen. Ein Mann, der zwischen den Stühlen sitzt, einer mit gespaltener Seele, der die Deutschen mißtrauisch beäugt: „In der Seele ist der Deutsche nach wie vor ein Barbar. Vieles ist zwar westlicher geworden, aber der Kadavergehorsam steckt immer noch drin.“ Konventionen, Verordnungen, Religion – einseitig ausgelegt, das ist ihm heute zuwider. Weltbürger nennt er sich, auch Weltbürger der Religion. Mit dem Judentum verbindet ihn heute nichts mehr – außer die Sorge um den Staat Israel und die Angst vor einem neuen Holocaust.

Die Todesanzeige – sie ist folglich nicht nur eine Reaktion auf die „lasche Haltung der Bundesregierung gegenüber den Rechtsradikalen“, wie Fred Gerstle meint. Sie ist auch die Hommage eines Sohnes an einen Vater, der sich nicht anpassen konnte und wollte. Für seinen eigenen Tod hat er, der letzte aus der Familie Gerstle, schon vorgesorgt. Auf dem Friedhof Weißensee, wo sein Vater und seine Mutter liegen, hat er bereits seinen Namen einmeißeln lassen. „Wer soll es denn später machen?“ fragt er. Einen letztes Ziel hat er sich noch gesteckt: Die Rückübertragung des Grundstücks in Bad Saarow-Pieskow, das einst seinem Vater gehörte und auf dem er am 12. Dezember 1934 sein Leben beendete. Den heutigen Bewohnern will er eine „anständige Lösung“ anbieten. Altes Unrecht wolle er nicht mit neuem vergelten. Aber er sagt auch: „Das alte Unrecht muß gesühnt werden. Ich will, daß sich der Kreis wieder schließt.“