Orgasmus als Signal

Thomas Laqueur versucht, die Theorie der Geschlechterinszenierung neu zu begründen  ■ Von Bernd Nitzschke

Nehmen wir an, ein leibhaftiger Professor für Geschichte, dessen Vater Pathologe war und als solcher Körper und Organe zerschnitt, um des Leibes Dunkel zu enthüllen, und dessen Großonkel sich schon „in den dreißiger Jahren [...] mit der endokrinologischen Androgynie herumschlug“, hätte den Vorsatz gefaßt, die Leere zwischen diesen beiden Fakten der Familiengeschichte, also die zwischen Seite 28 und Seite 274 des hier zu besprechenden Buches, mit den Ergebnissen seiner eigenen Forschungsbemühungen zu füllen, um sich so als würdiges Mitglied einer akademisch gebildeten Familie vorzustellen: Worauf anders hätte dieser unser Mann, als er „heiratete“ und „wir“ – das heißt er und seine Frau – „ein Kind bekamen“, verfallen können, als auf die Gewißheit, daß er nicht seine eigene Frau sein, auf jeden Fall aber niemals Mutter werden kann, wenngleich Schwangerschaftsphantasien bei Männern gerade aufgrund solch ernüchternder Einsichten epidemisch aufzutreten pflegen, weshalb einige dieser Herren der Schöpfung ihr unumstößliches biologisches Defizit durch das Schreiben von Büchern auszugleichen versuchen, und zwar sehr zum Leidwesen nicht nur ihrer Frauen, denen sie – wie auch im vorliegenden Fall: „Für Gail und Hannah“ (who is who?) – die geschriebenen Bücher zu widmen pflegen, weil sie meinen, nur so könnten sie sie für das Generve entschädigen, das der schreibende Gatte verursachte, als er niederkam, wobei er, soweit er darüber verfügen kann, gerne auch die Hilfe karrieregeiler Assistenten anzunehmen pflegt, sondern auch sehr zum Leidwesen ihrer Studenten, die durch des Buches Lektüre für die nächstfolgende Prüfung dafür büßen müssen, daß der Funke Ehrgeiz noch immer in den akademischen Fingerkuppen juckt wie im Falle des schreibenden Historikers aus Berkeley, Calif. (ein Ort, der auch schon einmal bessere Zeiten erlebt hat); worauf anders also – ich wiederhole meine Frage – hätte dieser Mann bei dieser seiner Gelegenheit verfallen können, als darauf, ein Buch zu schreiben, um endlich Klarheit bezüglich der „Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud“ herzustellen, wobei im Verlauf solcher Klärungsbemühungen der arme Hund (Freud) wieder einmal geprügelt wird, als wäre er nicht schon oft genug anstelle jener verprügelt worden, die – wie Laqueur – Prügel verdient hätten, weil sie immer wieder behaupten, Freud habe vom vaginalen Orgasmus der Frau gesprochen, was er, wie das Stichwortverzeichnis zu seinen Gesammelten Werken nichtsdestotrotzig ausweist, an keiner einzigen Stelle je getan hat, weshalb Renate Schlesier bereits im Jahre des Herrn 1981 bemerken konnte, „von einem vaginalen Orgasmus kann in Freuds Weiblichkeitskonstruktion keine Rede sein“, was jedoch unseren Mann in Berkeley nicht daran hindert, das Gegenteil zu behaupten, weil er ausgerechnet diese treffende Bemerkung aus der Feder einer feministisch aufgeklärten Kronzeugin nicht zur Kenntnis genommen hat, obgleich er sich durchweg geriert, als habe er „von der Antike bis zu Freud“ ausnahmslos alles zur Kenntnis genommen, was irgendeine entfernte Bedeutung für das von ihm gewählte Thema haben könnte, ein Bemühen, das Laqueur mit einer Fülle von Zitaten belegt, so als gelte es, einen 275 Seiten (Anhang, Literaturverzeichnis und Register nicht berücksichtigt) langen und breiten Extrakt aus Gelehrsamkeit und gequälter angelsächsicher Ironie herzustellen, die wirkt, als müsse Samt zu Leder gegerbt werden, wobei auch den neueren Franzosen (Foucault u.a.) einiges, nämlich zum Beispiel Kapitelüberschriftenanhäufungen wie „Blut, Milch, Fett, Sperma“, zu danken ist, was aber nur bedeuten kann, daß die vielen akademisch tätigen Freunde des Autors, die auf Seite11f. des Buches im einzelnen vorgestellt werden, nicht ausreichten, um ihn so zu inspirieren, wie er es verdient hätte, obgleich sich selbige Freunde – etwa der „Kollege David Keightley“, „Anführer der Yuppie Bikers“ – außerordentliche Mühe gaben; so hat David „auf seinen Touren 'ne Menge über Sex zu Ohren bekommen“, was er unserem Mann in Berkeley brühwarm weitererzählt haben muß, der so zu mancherlei Neuigkeiten kam, darunter vielleicht auch zu der vom „Orgasmus“, der früher einmal „die Befähigung des nichtsozialisierten Leibes zur Fortpflanzung“ „signalisierte“, oder auch zu der in Anmerkung 119 zu KapitelVI auf Seite321 des Buches festgehalten, wonach „moderne Evolutionsbiologen (...) wahrscheinlich der Klitoris keine spezifischen Zwecke zuschreiben, sondern ihre Empfindsamkeit als weibliche Version der adaptiven Eigenschaften des Penis auffassen, so wie die Eigenschaften der männlichen Brustwarzen Folgen der Adaptationen bei der weiblichen Ausgabe der Spezies sind“, was nur bedeuten kann, das Buch unseres Spezis aus Berkeley als das eines Mannes ohne jedwede Eigenschaften mit einem Wort zu empfehlen: geschenkt!

Thomas Laqueur: „Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud“. Campus Verlag, Frankfurt/M. 1992, 348Seiten, 48DM.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung der Zeitschrift „Gegenwart“.