Reinhard Bütikofer im Interview: „Radikal ist kein unanständiges Wort“

Hat die sozialökologische Politik in Europa doch noch eine Chance? Fragen an den Europa-Grünen-Chef, Reinhard Bütikofer.

Bild: Stefan Pangritz

zeozwei: Herr Bütikofer, Sie sind Chef der europäischen Grünen und haben das Problem, dass die sozialökologische Politik in Europa am Ende scheint, bevor sie richtig begonnen hat. Oder können Sie das dementieren?

Reinhard Bütikofer: Das Ende zu dementieren ist leicht. In der Tat erleben wir aber eine Schwächeperiode. Zu Ende ist eine Phase sozialökologischer Politik in Europa. Ein Epochenwechsel steht an.

Ist das der Euphemismus für Krise?

Wir befinden uns in einer neuen Phase unserer Entwicklung. Dem entspricht ein Bewusstsein für die Krise der bisherigen sozialökologischen Politik. Seit die sozialökologische Politik auf die Bühne trat und als gesellschaftliche Entwicklungsrichtung ernstgenommen wurde, war sie trotz aller auch zu beobachtenden Allmachtshoffnungen derer, die sie vorantrieben, faktisch beschränkt auf die Rolle eines Ergänzungsfaktors.

Die Öko-App der Sozialdemokratie, wie Ihr Kollege Robert Habeck diese Zuständigkeitsreduzierung nennt.

Richtig. Und Bürgerrechte-App. Das ist der zweite Fixpunkt grünen Denkens. Nehmen Sie die 1998er Koalitionsvereinbarung zwischen Sozialdemokratie und Grünen. Ökosteuer, Atomausstieg, Staatsbürgerrecht für hier geborene Kinder von Ausländern und gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften: Das waren unsere vier großen Pfeiler. Das haben wir erreicht. Aber wir hatten nicht die Kraft, die DNA des Rot-Grün-Modells wirtschaftspolitisch oder gar insgesamt zu prägen.

Das war demokratisch, Sie hatten mickrige 6,7 Prozent, Schröder hatte 40,9.

Ja, es war zu der Zeit angemessen. Heute allerdings gibt es zwei Entwicklungen, die es nicht mehr zulassen, das Sozialökologische als Anbau an vorhandene Strukturen zu betrachten. Erstens die Entwicklung der inneren Widersprüche unseres gesellschaftlichen Fortschrittes, die durch Trump und die neue autoritäre Welle in Europa offensichtlich geworden ist.

Sie sagen immer autoritär und nicht populistisch?

Vorsitzender der europäischen Grünen und Mitglied des EU-Parlaments.

Vita: geboren 26. Januar 1953 in Mannheim. Vater Postler, Mutter Hausfrau. Lebt in Brüssel und Berlin. Verheiratet, drei Töchter.

Politik: Aktiv im maoistischen KBW (Siebziger), Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg (1988-1996), Bundesgeschäftsführer (1998-2002), Bundesvorsitzender (2002-2008), EU-Abgeordneter (seit 2009). Mit Monica Frassoni Vorsitzender der Europäischen Grünen Partei (seit 2012).

Greatest Hits:

+ Positioniert mit Schlauch, Kuhn und Kretschmann die baden-württembergischen Grünen schon in den Achtzigern als potenzielle vernünftige Regierungspartei.

+ Stark am immer noch gültigen Grundsatzprogramm von 2002 beteiligt, das die Grünen als »Partei der linken Mitte« realpolitisch verankert.

+ Coacht im Hintergrund diverse junge Grüne mit Leaderpotenzial.

Autoritär macht den Charakter deutlicher als populistisch. Man kann von einer Refeudalisierung des Kapitalismus sprechen, in dem eine Milliardärsklasse, die 0,1 Prozent, sich etabliert. Das Zerbrechen des Zusammenhalts unserer Gesellschaften ist mit der Spaltung von Arm und Reich nur zum Teil beschrieben. Es ist auch in der Verachtung des normalen Volkes durch liberale Eliten zu finden. Dieses Zerbrechen führt an einen Punkt, wo ein Weiter-so der Art von Globalisierung, wie wir sie haben, immer mehr Widerstand hervorruft. Den wollen die rechten Populisten autoritär mobilisieren.

Was ist die zweite Entwicklung?

Das Zerbrechen der Orientierungskraft der zwei Parteien, die sich in Deutschland in den letzten fünfzig oder mehr Jahren darin abgewechselt haben, Grundorientierung vorzuschlagen, im Wettbewerb miteinander, aber auch in vielem einig.

Union und SPD gingen 2005 gleich groß in eine Koalition, seitdem ist die Union wieder gewachsen, die SPD extrem geschrumpft.

Eine Zeitlang hat Gerhard Schröder übertüncht, was die Sozialdemokraten nicht mehr zustande bringen können, für die Union tut das jetzt noch, abnehmend, Frau Merkel. Aber faktisch ist die Union nicht stabil. Orientierungsverlust sehen wir auch in Frankreich.

Wie beurteilen Sie die Lage vor der französischen Präsidentenwahl?

Die sozialistische Partei des Amtsinhabers Hollande und auch die konservativen Republicains sind abstoßende und langweilige Vertreter des Status quo. Gegen die hatte bisher Frau Le Pen vom Front National eine grandiose Chance, sich als die Einzige zu profilieren, die für Wandel steht und das ernst meint. Inzwischen gibt es eine Verschiebung. Der sozialliberale Macron sagt: Ich stehe entschieden für Wandel. Der Konservative Fillon hatte das auch probiert. Der Sozialist Hamon präsentiert sich so.

Das finden Sie spannend?

Egal, ob mir das konkrete Politikangebot gefällt, da scheint das Verständnis auf, dass Politik sich nicht selbst in einen Verwalter des Sachzwangs verwandeln darf und erwarten, dass die Leute klatschen und zufrieden sind. An dieser Stelle kämpft die Demokratie um ihre Substanz. Vielleicht sind ja die autoritären Attacken das, was dazu beiträgt, dass ein Weckruf gehört wird.

Einige Grüne reagieren darauf, indem Sie ein moralisches Empörungsfeuerwerk inszenieren, das die Rechtspopulisten erst richtig zum Leuchten bringt.

Es wird nicht funktionieren, im Wesentlichen zu sagen, dass die Autoritären igitt sind.

Ihr junger EU-Kollege Jan Albrecht hat den Europäer und Demokraten Oettinger nach dessen Hamburger Rede »einen wie Trump« genannt.

Jan schätze ich sehr. Diesen Spruch nicht so.

Die Hoffnung ist doch mit diesem permanenten Entlarvungsmodus »alles Rassisten – außer uns« zu punkten.

Kann man nicht. Es geht nicht darum, diejenigen zu beschimpfen, die aus der Orientierungsnot ein Geschäft machen wollen für ihre eigentlich historisch erledigten chauvinistischen und nationalistischen Parolen. Es geht darum, zu begreifen, dass der Erfolg der AfD damit zu tun hat, dass zu wenig tragfähige Orientierung geboten ist. Die Antwort kann nur sein, dass wir Sozialökologen solche Orientierung bieten.

Sie verwenden neuerdings den Begriff Orientierungspartei für die Grünen.

Ich habe eine Einteilung der politischen Geschichte der deutschen Grünen in drei Phasen vorgeschlagen, Phase eins, in der man neu ist und die meisten außenrum sagen: Öko und Gender, was ist das für ein Quatsch? Da muss man mächtig aufs Blech hauen, weil man mit allzu viel Bescheidenheit nur demonstrieren würde, dass man selbst nicht dran glaubt. Da mussten wir mit einer abgestorbenen Tanne in den Bundestag und so weiter.

Phase zwei?

Phase zwei begann, nachdem selbst die Konservativen sagten: Wir geben zu, ihr habt ein paar Fragen richtig gestellt. Aber die Lösungen sind jetzt unser Job. Wenn man da nur weiter aufs Blech haut, hört keiner mehr zu. Da muss man kleinste Ansätze nutzen, um konstruktiv etwas zur Lösung beizutragen.

Also unter großem Geächze ein bisschen mitregieren wie 1998?

Richtig. Aber in Phase drei muss sich sozialökologische Politik an höheren Maßstäben messen lassen. Und da bleiben wir im Moment noch ziemlich deutlich darunter. Die Frage ist: Wie viel eigene Grundorientierung kann sie bieten? Ist sie in der Lage, in einen Wettbewerb zu treten als eigenständige Kraft? Hat sie neue Formen der Kohäsion, der Integration, des gegenseitigen Respektes zu bieten – oder hat sie das nicht? Alles, was wir bisher konnten und was durchaus nicht nur Fassadenbegrünung war, siehe Atomausstieg, das reicht nun nicht mehr aus.

Baden-Württemberg ist in Phase drei. Ministerpräsident Kretschmann hat die SPD als progressive Kraft, dann die CDU als Wohlstandbewahrungszuständige abgelöst. Doch Teile der Bundesgrünen messen ihn an den Kriterien für oppositionelle Moralfassadenbegrünung.

Richtig, damit sind wir bei Kretschmann, damit sind wir beim österreichischen Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen, aber auch bei Éric Piolle, dem grünen Bürgermeister von Grenoble, der diese Hochburg der Ökonomie und Forschung erobert hat. Oder den finnischen Grünen, die wohl Helsinki gewinnen.

Ist die sozialökologische Politik am Ende?

Am 29.04.2017 diskutieren Reinhard Bütikofer und Peter Unfried live über die Zukunft der sozialökologischen Politik. Hier geht es zur Veranstaltung.

 

Warum gelingt dieses erfolgreiche Ausgreifen in die Gesamtgesellschaft nur in Einzelfällen? Warum greift man den eigenen Erfolg auch noch an?

Weil es immer noch welche gibt, die das Modell Wagenburg verkaufen. Man sagt: Die Deutschen sind so fortschrittsfeindlich und die Welt ist so böse, lasst uns mit denen, die unserer Meinung sind, die Planwagen im Kreis aufstellen. Der Fortschritt um uns herum wird unterschätzt.

Wenn Sie sich ernsthaft Sicherheits- und Wirtschaftspolitik zuwenden, werden Teile der eigenen Leute verunsichert.

Eine grüne Politik, die sich an der skizzierten Herausforderung messen lassen muss, kann sich nicht auf »unsere« Themen zurückziehen, die wir besonders haben. Wenn wir für Sicherheitsfragen, für industriepolitische Fragen nicht zuständig sind, die auf der Agenda stehen, und sagen, wir haben doch Öko und Bürgerrechte, dann machen wir Nische als Modell. Das heißt nicht, dass wir Bürgerrechtspolitik, Emanzipation und ökologische Gemeinwohlverantwortung runterscalen, sondern dass wir upscalen, wo uns der Vertrauensaufbau noch nicht gelungen ist. Wir müssen über die ganze Palette Antworten haben. Es ist wie bei Hegels Negation der Negation.

Klingt interessant.

Erste Negation war die grüne Radikalität, neue große Fragen zu stellen. Deren Negation war, im Kleinen Antworten zu geben. Nun sind wir bei der Negation der Negation der Negation: Wir müssen das Erfahrene aufheben durch Rückkehr zur Radikalität der Analyse, ohne einfach wieder Propagandisten zu werden. Wir brauchen eine radikale Analyse, die begleitet ist von der Kompetenz des praktischen Tuns.

Herr Bütikofer, Sie sind Chef der Europa-Grünen. Manche sagen, das sei ein Potemkinsches Dorf. Klingt gut, aber nichts dahinter.

Die europäischen Grünen sind ein Projekt im Werden. Die ersten fünfzehn Jahre war das eine ganz heikle Veranstaltung, bei der manche für, manche gegen die EU waren, sodass wir uns nicht getraut haben, abzustimmen bei den Kongressen, sondern wie in der Uno diplomatische Kompromisse verhandelt wurden. In den letzten zehn Jahren sind die europäischen Grünen zu einem Verband geworden, der mit Mehrheit gemeinsame Politik festlegt. Trotzdem haben wir eine Menge Parteien, die nie in einem Parlament waren, zu Hause keinen Machtfaktor darstellen.

Das tun sie auch im EU-Parlament nicht. Als Anfang des Jahres der neue Parlamentspräsident gewählt wurde, haben Sie dreimal für ihre chancenlose grüne Zählkandidatin gestimmt und dann für den Sozialdemokraten, der Ihnen null Perspektiven angeboten hat – und auch noch verlor. Das ist doch trostlos.

Trostlos waren meines Erachtens die zweiten zweieinhalb Jahre von Martin Schulz.

Der Vizekanzlerkandidat der SPD.

Schulz hat sich mit dem Parlament verwechselt und sich selbst inszeniert. Um das tun zu können, hat er das Parlament in die Dienstmagd der Kommission verwandelt. Und die Kommission hat ihrerseits eine unterwürfige Haltung gegenüber den Blockaden im Rat eingenommen. So entsteht Stillstand.

Sie büchsen aus. Es geht hier um die Einflusslosigkeit der Grünen.

Da komme ich noch dazu. Der Bruch dieser Großen Koalition im Parlament bietet jetzt die Chance, dass auch dort wieder scharfkantiger als zuletzt Alternativen gegenübergestellt werden. Bei der Großen Koalition wurde alles zur Seite gelegt, was wir vorgeschlagen haben. Wir haben dem sozialdemokratischen Kandidaten Pittella daher einen Vorschuss gegeben. Das war ein politisch angemessenes und kluges Verhalten. Es erhöht die Chance, im Parlament in den nächsten zwei Jahren etwas stärker gestalten können.

Sie haben die letzte Wahl auch verloren, nicht so krachend wie die Bundesgrünen, aber doch.

Ja.

Wenn man sich Ihre Fraktion anschaut, dann gibt es außer in Deutschland, Österreich, Schweden und den Niederlanden fast keine Grünen. Zugespitzt.

Naja, das ist jetzt eher zugestumpft als zugespitzt. In Schweden sind wir erstmals in der Regierung und erleben eine Krise, wie in jedem Land, in dem wir erstmals regieren. Aber wir sind auch in Finnland, in Belgien, in Luxemburg gut.

Alldieweil haben sich die französischen Grünen fast komplett selbst zerlegt.

Zugegeben: Es sind weniger als zehn EU-Länder, in denen wir zwischen zehn und dreizehn Prozent liegen, und mindesten zehn andere, in denen wir unter einem Prozent sind.

Es scheint, als lebten die EU-Grünen in unterschiedlichen Zeiten. Einige Landesparteien sind, was sie Phase eins nennen, krachige Totalopposition.

Das Problem ist, dass viele Grüne in Europa in der ersten Phase sind, aber nicht die Zeit haben, die jetzt ausgiebig hinter sich zu bringen. In Gesellschaften wie Kroatien, Spanien oder Griechenland stellt sich die Frage viel dringlicher und massiver als bei uns: Wo geht es weiter? Die müssten jetzt den großen Sprung schaffen und fragen: Wie können wir die Zukunft unseres Landes relevant mitgestalten? Das fällt schwer.

Woraus folgt?

Vielleicht ist es in manchen Ländern wie Polen die richtige Antwort, nicht langsam eine solide grüne Partei aufzubauen, sondern in Allianzen zu denken, in denen man einen grünen Beitrag leisten kann. Deshalb verfolgen wir mit Blick auf die Europawahl 2019 eine Strategie, die nicht sagt: Wie kriegen wir überall reine grüne Kandidaturen? Sondern fragt: Wie können wir vor Ort, etwa in Bulgarien, in Polen, wirksam werden, indem wir in Bündnisse gehen?

Die einen in Ihrer Fraktion finden die EU-Grünen in ihren Positionen zu vernünftig, um erfolgreich sein zu können, die anderen zu oppositionell und zu radikal.

Ich zähle das Wort radikal nicht zu den unanständigen Wörtern. Politik muss tief wurzeln. Flachwurzler bläst jeder Sturm um. In einer Zeit, in der die unterschiedlichsten Akteure antikapitalistische Sprache führen, ganz links, ganz rechts, sogar in der Wirtschaft, bis hin zum Papst, da ist der Grüne schief gewickelt, der Angst hat, ein paar fundamentale Fragen über die Realität des Kapitalismus zu stellen. Das heißt nicht, dass man übersieht oder ignoriert, was für ein Potenzial an Kooperation es mit vielen Unternehmen gibt, die diese Fragen selbst stellen in Bezug auf ihre ökologische Verantwortung.

Radikal nennen sich gern Minderheiten mit Besserwisseranspruch.

Auch. Für mich ist Radikalität nicht Selbstisolation, sondern den Verhältnissen ihre Melodie abzulauschen, um sie zum Tanzen zu bringen. Radikal ist nicht die Absage an Kooperation, sondern zu verstehen, wo man sich dieser eben nicht entziehen darf – wegen der großen Ziele. Ohne zu Missionaren zu werden, die überall die einzig wahren Antworten verkünden. Ministerpräsident Kretschmann wird sich nicht radikal nennen. Aber dass er zu den Wurzeln geht, macht seine Kraft aus.

Ich bin verwirrt, wenn ich manche EU-Grüne höre. Verteidigen Sie die EU oder verteidigen Sie sie im Prinzip ja, aber nicht diese EU?

Darauf gibt es als Grüner nur eine eindeutige Antwort. Wir lehnen die Rhetorik ab, die man von Varoufakis lange gehört hat und auch von manchen Linken hört. Ich muss die EU verteidigen, wie sie ist. Nicht, weil sie mir so gefällt, sondern weil ich sie nur verbessern kann, wenn ich nicht zulasse, dass sie von den Wölfen des Nationalismus zerrissen wird.

Es bleibt eine komplexe Position.

Bild: Anja Weber

Die EU als Prinzip und Perspektive ist mir so wichtig, dass ich mich nicht hinreißen lasse, sie nicht da zu kritisieren, wo sie konkret falsch liegt. Die Dialektik ist real. Ich muss sie in meiner Politik abbilden.

Naja, Sie sind ein transatlantischer Weltpolitiker. Aber ich bleibe dabei, dass sich Teile Ihrer Fraktion gern als Protestpartei gerieren.

Solche Stimmen gibt es, gerade aus Ländern, in denen sogenannte populistische Bewegungen fröhliche Urstände feiern und die Grünen zu schwach sind, sich als Akteure des Wandels zu inszenieren, für den wir stehen. Da gibt es die Versuchung, bestimmten Populismen hinterherzulaufen. Das ist bei Teilen der französischen Grünen der Fall, die einem Mélenchon hinterherlaufen.

Eine Art französischer Lafontaine.

Das ist nicht Politik der europäischen Grünen.

Ihr langjähriger Vorzeigepolitiker Daniel Cohn-Bendit hat die Grünen in Europa größer aussehen lassen, als sie waren. Ihre neue Fraktionsvorsitzende Franziska Keller kennt selbst in Deutschland kaum einer.

Das wird sich ändern.

Wie das?

Ganz am Anfang kannte auch keiner Claudia Roth oder Renate Künast oder Bärbel Höhn. Ska Keller ist eine aus der Generation jüngerer Leute, die mit einem anderen Gestus Politik machen als meine Generation. Diese Kader, in den Sechzigern, Siebzigern ausgebildet, für die Politik oft alles war, haben auch was Mönchisches.

Was ist das Neue?

Der neue Gestus ist: Wir leiden nicht unter Politik. Es macht Spaß, Politik zu machen, die etwas verändert. Das verkörpert Ska Keller. Zu dieser Generation gehören auch der niederländische Grünen-Vorsitzende Jesse Klaver, der Finne Ville Niinistö, der Ire Eamon Ryan und etliche andere.

Aber Frau Keller verändert ja nichts, das ist doch das Problem, wenn sie sich nur ständig für die EU schämt.

Iwo. Jetzt ist sie gerade Fraktionsvorsitzende geworden. Urteilen Sie 2019 zur Wahl.

In der deutschen Stimmungsgesellschaft dominiert ein Sicherheitsbedürfnis, dessen politische Verkörperung CDU-Kanzlerin Merkel ist. Wie können die Grünen auf der Basis diesmal bei der Bundestagswahl erfolgreich sein?

Das Wichtigste ist ernst zu nehmen, was wir 2005 nach unserer großen Niederlage gelernt und entwickelt haben. Eigenständigkeit. Mitringen um die Zukunft Europas und unseres Landes. Das kann man nur verfolgen, wenn man aufhört, sich zu definieren in Bezug auf andere.

Was heißt das konkret?

Zu sagen, wie es Merkel macht, ist es nicht richtig, sagt nicht, was richtig ist. Zu sagen, was die AfD sagt, ist zum Teil nur noch Nazi, sagt nicht, wie man erfolgreich dagegen vorgeht. Sich nur abzugrenzen oder sich per Bindestrich zu definieren, schwarz-grün, rot-rot-grün, beides ist unangemessen. Unser Wahlprogramm wird sagen, was wir anzubieten haben. Diese Angebote müssen der Nachfrage entsprechen und kein grünes Selbstgespräch in der Nische sein. Und am Ende braucht es dann genügend Pragmatismus, falls sich die Koalitionsfrage stellt.

Mit Merkel?

Unsere Wähler wollen nicht, dass wir jeden Tag bußfällig vor dem Standbild von Merkel niederknien. Und »Kreuziget sie!« schreien sie auch nicht. Man kann doch kritisieren, dass sich Frau Merkel zum allerallerersten Mal vor dem EU-Gipfel von Bratislava die Mühe gemacht hat, mit allen europäischen Partnern zu reden, und dass sie lange eine Politik gemacht hat, die überquoll vor moralisierender deutscher Selbstgerechtigkeit. Personifiziert in der Regel durch den Finanzminister, der sich mit seinem expressiven protestantischen Ethos dafür besonders qualifiziert. Und trotzdem kann man loben, dass Frau Merkel nicht bei der Obergrenze vor Herrn Seehofer eingeknickt ist.

Eigenständigkeit, Orientierungspartei, keine Öko-App, nicht opportunistisch, sondern verantwortungsvoll – wie kriegen Sie das zusammen?

Im Kern gehören die sozialökologischen, die grünen Ideen zur DNA der modernen Gesellschaft. Die sogenannte postmaterialistische Grundorientierung der Grünen wird faktisch zur notwendigen Voraussetzung für eine tragfähige, resiliente Entwicklung. Keine wettbewerbsfähige Wirtschaft etwa ohne Nachhaltigkeit als Basis. Das ist, ironisch formuliert, die Rematerialisierung des Postmaterialistischen.

Die Fragen stellte Peter Unfried

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