Die Permanenz der Lüge

Neues aus den Moskauer KGB-Archiven: 1931 wollte Erich Mielke das Exil mit dem Berliner Gefängnis tauschen. Die KPD fürchtete „untragbare Konsequenzen“, Wilhelm Pieck machte Mielke zum Kader  ■ AUS MOSKAU GÖTZ ALY

Der U-Häftling Mielke setzt auf Menschen, die ihm wohlgesonnen sind — „die Freunde“, wie er sagt. Gemeint sind jene aufrechten KGBler, die jeden Morgen und noch immer reichlich in die Büros am Moskauer Lubjankaplatz strömen. Männer und Frauen also, die in tschekistischer Tradition für Errungenschaften sorgten und für Sicherheit, für Ruhe und Fortschritt; Männer auch, die im Geist des kommunistischen Stasi-Urvaters Dzierzynski wirkten — eines Mannes, der am Ende, 1926, sagen konnte: „Sollte ich mein Leben von neuem beginnen, ich würde es beginnen, wie ich es begonnen habe.“ So jedenfalls und nicht ohne selbstgefällige Rückschau zitierte ihn sein großer Epigone 1977. Die Überschrift geriet ein wenig feudal und verriet aufs neue die von ihm selbst immer wieder als Makel empfundene „kleinbürgerliche Abstammung“ des Autors: „Feliks Edmundowitsch Dzierzynski — Ritter der Revolution“. „Tschekist sein“, schrieb Erich Mielke damals im 'ND‘, „kann nur ein Mensch mit kühlem Kopf, heißem Herzen und sauberen Händen. Er muß klar wie ein Kristall sein.“

Nun sind die Nachfahren dieses Ritters Feliks auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Zwar existieren im Eingang der Lubjanka noch zusätzliche, per Knopfdruck und Elekromotor schließbare Falltüren, aber der ausländische Bittsteller wird höflich empfangen, der Benutzungsantrag für das historische Archiv des Hauses entgegengenommen: Man könne noch nichts sagen — „das Archiv ist wegen der vielen Rehabilitierungsbegehren russischer Bürger sehr belastet.“ Im übrigen inkorporiert die an deutschen Lehnwörtern reiche russische Sprache gerade das schöne Wort „Datenschutz“.

In der Lubjanka liegen die Personaldossiers von Erich Mielke alias „Paul Bach“, alias „Fritz Leissner“, alias „Richard Hebel“. Dort liegen Dokumente, die Licht in den gegenwärtigen Moabiter Mielke-Prozeß bringen könnten, Akten, die es im Parteiarchiv der KPdSU und der Komintern einmal gab, die in den Registern genannt sind, die aber irgendwann, und vielleicht immer noch, von „den Freunden“ in Gewahrsam genommen wurden.

Aber das vollständige Verbergen und Vernichten von Dokumenten ist bekanntlich schwer. Auch im Fall „Mielke“ gelang es nicht ganz so, wie es der Freund von den Freunden erwartet. Im Archiv der KPdSU, das inzwischen die etwas behäbige Bezeichnung „Zentrum zur Bewahrung zeitgenössischer Dokumentationen“ führt, findet sich noch das ein oder andere „Material“, wie Mielke sagen würde. Daraus wird immer deutlicher: Erich Ziemer und Erich Mielke waren die beiden Männer, die am 9. August 1931 die Polizeioffiziere Anlauf und Lenck erschossen. Sie taten das als Mitglieder des illegalen Parteiselbstschutzes (PSS) der KPD, sie verstanden diese Tätigkeit als „Terrorgruppenarbeit“, sie hatten zuvor in den brandenburgischen Wäldern an Schußwaffen- und Sprengübungen teilgenommen, sich begeistert zu „Soldaten der proletarischen Revolution“ ausbilden lassen. Angeleitet wurden sie von dem für die illegale Arbeit zuständigen Hans Kippenberger alias „Adam“, alias „Alex“, alias „Ernst Wolf“.

Die unter Folter gewonnenen Ergebnisse der späteren Nazi-Ermittlungen und die im Moskauer Archiv verwahrten Selbstzeugnisse der Beteiligten stimmen bis in Details überein. Zum Beispiel wurden im Keller eines gewissen Herbert Dobersalzke 1933 Waffen gefunden, darunter laut kriminaltechnischem Gutachten eine der Tatwaffen. Im Parteiselbstschutz Berlin-Nord hatte Dobersalzke 1931— laut Moskauer Lebenslauf von 1934 — „die Leitung der Waffengeschichte“ inne. Im Juli 1933 floh dieser Mann nach Frankreich „wegen Teilnahme an der Bülowplatzgeschichte“. Als Personen, die über seinen PSS-Werdegang Auskunft geben könnten, gab er acht Mitglieder der PSS-Nord an, die damals alle im Rahmen des Bülowplatz-Verfahrens entweder verhaftet worden waren oder gesucht wurden. Lebenslauf und Anklage stimmen darin überein, daß Dobersalzke eine jener Gruppen führte, die die Flucht der Schützen absicherte. Der 1933 ebenfalls beschuldigte ZK-Chauffeur Wilhelm Peschky emigrierte im Sommer 1933 „mit Genehmigung des ZK“ nach Frankreich. Begründung: „Im Zusammenhang mit dem Mord an den Polizeioffizieren am Bülowplatz“. Von den Unterlagen über andere Tatbeteiligte existieren nur die Eintragungen in den Suchkarteien, die Dokumente sind verschwunden, etwa die über Johannes Broll, der 1932 von der KPD zur NSDAP übergewechselt war.

Frustriert in Moskau

Es gibt keinen vernünftigen Grund, an den Fakten zu zweifeln. Ziemer schrieb 1932 in seine Moskauer Kaderakte: „Meine letzte Arbeit für die Gruppe war die Bülowplatzsache, die ein anderer Genosse und ich zusammen ausführten.“ Mielkes Akte liegt bei den „Freunden“. Dennoch wird die Indizienkette langsam dicht:

Mielke und Ziemer reisten nach dem Attentat überstürzt und ohne jedes Gepäck nach Moskau ab. Veranlaßt und organisiert wurde die Flucht vom ZK der KPD — vom „Genossen Werner“. Durch die Korrespondenz der Partei und der Roten Hilfe geistern Mielke und Ziemer als „die beiden Landwirte“, die als „Spezialarbeiter“ nach Moskau geschickt worden seien. Eine Legende, wie sie damals gebräuchlich war, wenn die KPD über „schwer gefährdete Genossen“ korrespondierte, die für einige Zeit aus Deutschland verschwinden mußten. In Moskau kümmerte sich der oberste KPD-Vertreter bei der Kommunistischen Internationalen, Wilhelm Pieck, persönlich um die beiden. Der Mann also, der Mielke 27 Jahre später als Minister für Staatssicherheit der DDR vereidigte.

Der Vater des einen „Landwirts“ hieß laut Korrespondenz Karl Ziemer, der andere quittierte am 27. Oktober 1931 den Empfang eines Schreibens des ZK, das ihn offenbar an die Parteiraison erinnern sollte, mit der Unterschrift „Mielke“. Und als es beim sowjetischen Zoll mit zwei Paketen Schwierigkeiten gab, die Mielkes Stiefmutter Luise auf Anforderung für den „anderen Landwirt“ gepackt hatte, da vergaß selbst Pieck die Regeln kommunistischer Konspiration: „Betreffend die beim Zollamt Bigossow liegenden Sachen, teilen wir Ihnen nach Rücksprache mit dem Gen. Mielke mit, daß die beiden Pakete für diesen Genossen bestimmt sind. Er ist seinerzeit nur mit den notwendigsten Sachen hierher gekommen.“

Warum sich Pieck um diese Kleinigkeiten kümmerte, wird aus anderen Dokumenten klar. Denn kaum in Moskau angekommen, schlugen Ziemer und Mielke Krach. Wenn es in dem Emigrantenheim, in dem sie die Rote Hilfe untergebracht hatte, nicht besser werde, würden sie auf eigene Faust zurückkommen. Entsetzt alarmierte die Leiterin des Emigrantenheims, Genossin Lorenz, den zuständigen Wilhelm Pieck. Einer der beiden, der sich leicht als Erich Mielke identifizieren läßt, habe ihr gesagt, „daß er besser nach dem Alex (Berliner Zentralpolizei) geraten möchte, als hier bleiben.“ „Denn im Alex“, so Mielke, der dort 1930 eingesessen hatte, „schickt man alle neuen Gefangenen baden, man sperrt sie in einen sauberen Raum ein, die Kost ist genießbar und sauber. Hier hat man keinen Raum, das Essen ist schmutzig oder es gibt überhaupt nichts zu essen.“

Auf den Einwand, daß man ihn ohnehin nicht zurücklassen werde, antwortete Mielke der verschreckten Heimleiterin: „Wenn ich zurückfahren will, wird mich niemand halten können.“ Pieck reagierte sofort. Für Mielke bestellte er via KPD von dessen Mutter neben allerhand Modeschnickschnack, „6 Stück Palmoliv- Seife, 6 Stück Waschseife, Zahnpasta, 3 x Colonil-Lederöl, Rasierzeug“; außerdem das geliebte Fichteabzeichen, „1 Paar neue Motorradschuhe Marke Dewan, Nr. 41“ — und, mit Hüten hatte es Mielke eben schon damals, „1 Sportmütze, 1 blaue Mütze Nr. 56 mit breitem Kopf (von Tietz) kaufen“.

Die Bestellung des Brückenbautechnikers Ziemer war bescheidener: Er bat um Bücher, Zirkelkasten und Rechenschieber. Allerdings begann er nach Informationen der Berliner KPD-Spitze bereits das nötige Fahrgeld zu organisieren, „damit die beiden Landwirte gegebenenfalls zurückkommen können“. Und weiter schrieb die Berliner Führung am 10.September an Pieck: „Dieses muß selbstverständlich verhindert werden, weil die sich daraus ergebenden Konsequenzen weder für uns noch für Euch tragbar sind.“ Mielke und Ziemer, so mußte man in den Spitzen von KPD und Komintern offenbar fürchten, hätten dann möglicherweise über die Hintergründe und politisch Verantwortlichen des Bülowplatz-Attentats vor der Berliner Kripo ausgesagt.

Obwohl weder Mielke noch Ziemer die Voraussetzungen auch nur annähernd erfüllten, brachte Pieck die beiden unberechenbaren Flüchtlinge an der Moskauer Lenin-Schule unter, um die Gefahr einer unerwünschten Rückkehr nach Deutschland endgültig zu bannen. Die Lenin- Schule war die Hohe Schule der Komintern; Pieck leitete sie im Frühjahr 1932 für ein paar Monate. Dort wurden Mielke/Ziemer immer als Paar geführt, ihre Parteivergangenheit im Gegensatz zu allen anderen Mtschülern kaschiert.

Kalt berechnete Tat

Anders als Mielke und Ziemer im Jahr 1934 im sicheren Moskau die KPD-Offiziellen noch in der Nacht des 9. August 1931 verbreiteten, war die „Bülowplatzgeschichte“ eben nicht Folge spontaner Gewalt, keine Reaktion auf die damals durchaus üblichen — und im laufenden Mielke-Prozeß viel zu wenig erörterten — polizeilichen Übergriffe. Unter der Überschrift „Schwere Polizeiprovokation“ heißt es in der KPD-Erklärung: „Die Polizei schlug die gestern abend am Bülowplatz vor dem Karl- Liebknecht-Haus versammelte Menge mit Gummiknüppeln auseinander, als diese das auf Transparenten veröffentlichte Volksentscheidsergebnis erwartete. Als die Menge nicht sofort auseinanderging, schoß die Polizei sofort scharf. Ein Arbeiter wurde getötet, neun schwer verletzt, darunter ein 15jähriger Knabe. Aus der Menge wurde das Feuer erwidert. Ein Polizeihauptmann und ein Hauptwachtmeister getötet...“

Das Gegenteil ist richtig: Die Tat war kalt berechnet, von führenden Funktionären der KPD geplant und gewollt. Wer neben Kippenberger noch an den Vorbereitungen beteiligt war, gehört zu den interessantesten Fragen, die vorläufig noch offenbleiben müssen. Die Opfer, Lenck und Anlauf, symbolisierten die sozialdemokratisch-obrigkeitliche Repression. Die Mörder waren wenig gebildete, zutiefst unsichere Menschen, von der Partei dogmatisch stabilisierte und dann funktionalisierte Idealisten. Sie hatten nach Identität gesucht und fanden sie im politischen Attentat. In Moskau packte sie das kalte Entsetzen.

Sie wollten dazu beitragen, und trugen dazu bei, die erste deutsche Republik zum Einsturz bringen. Ein Ziel, das, so verrückt es heute klingen mag, noch im Herbst des Jahres 1931, spätestens im Winter 1931/32 erreicht werden sollte. Danach wollte die KPD, wie man seit zwei Jahren sang, „ein besseres Haus bauen — die deutsche Sowjetunion“. Diese permanent entfachte, revolutionäre „Fünf-vor-zwölf-Stimmung“ motivierte die Schützen.

Die Tat geschah am Abend eines schwülen Kampf-Sonntages in unmittelbarer Nähe der KPD-Zentrale auf dem Berliner Bülowplatz. Die Schüsse am Abend des 9. August 1931 fielen an dem Tag, als ein von Stahlhelmen und Nazis inszenierter— und von der KPD auf persönlichen Wunsch Stalins in letzter Minute geförderter — Volksentscheid gegen die sozialdemokratische Regierung Preußens abgestimmt wurde und die unheilige Allianz auch und gerade in den Berliner Arbeiterbezirken eine deutliche Niederlage erlitt. Ziemer und Mielke fungierten als Werkzeuge. Ihre Tat erklärt sich als blutige Konsequenz der Selbst-Stalinisierung, als gewalttätige Folge und gewollte Zuspitzung der frisch aus der Taufe gehobenen Sozialfaschismus-„Theorie“. Der Mord war Teil jener kommunistischen Politik, der in den Jahren faschistischer Erfolge in halb Europa nichts besseres einfiel, als die Sozialdemokratie zum „sozialfaschistischen“ Hauptfeind der Menschheit zu erklären. Eine Politik, die die KPD erst im Lauf des Jahres 1933 änderte: unter dem Zwang ihrer entsetzlichen Niederlage und dennoch nur zögernd.

Im Januar 1931 hatte Thälmann in der 'Roten Fahne‘ erklärt: „Der Faschismus beginnt nicht, wenn Hitler kommt, er hat längst begonnen.“ Im März hieß es dort: „Mit der Panzerkreuzerpartei, mit den Polizeisozialisten, mit den Wegbereitern des Faschismus kann es für uns nur Kampf bis zur Vernichtung geben.“ Zwei Tage nach den Schüssen auf dem Bülowplatz und nach der Abstimmungsniederlage beschloß das ZK- Sekretariat der KPD die weitere Linie. In dem Papier heißt es unter anderem: „Der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund muß zerbrochen werden, um den Hauptschlag gegen die Sozialdemokratie zu führen.“ Die Tatsache, daß man gerade gemeinsam mit der NSDAP den Sturz der sozialdemokratischen Regierung Preußens versucht hatte, deuteten die KPD-Führer ebenso falsch wie tragisch richtig: „Objektiv betrachtet“, so hieß es da, seien diese Nazi-Wähler „in ihrer Mehrheit Arbeiter, Bauern und notleidende Mittelständler“. Daher könne man sie als Teil „einer revolutionären Massenmobilisierung“ ansehen, die sich „gegen die bestehende Gesellschaftsordnung, gegen die bürgerliche Staatsgewalt richtet“. Abschließend forderten die KPD-Führer „die schonungslose Abrechnung mit den faschistischen Verbrechern an der Spitze der SPD“.

Die Nazi-Anklage mußte diese politisch-ideologischen Hintergründe des Attentats ausblenden. 1934 ging es um „Rotmord“ und darum, daß die „von einem Juden und einem Halbjuden“ geführte sozialdemokratische Polizei in Sachen „Bülowplatz“ lasch oder gar nicht ermittelt habe. Die KPD reagierte auf den Bülowplatz-Prozeß von 1934 merkwürdig schweigsam. Das Thema störte. Denn nachdem man 1933 langsam zur „Taktik der Einheitsfront“ gefunden hatte, schien es inopportun, über diesen großen Schauprozeß, in dem doch so viele richtige Details zur Sprache kamen, allzuviele Worte zu verlieren.

Bolschewistischer Instinkt

Nicht zufällig gerieten Mielke und Ziemer Ende 1933 in gewisse Schwierigkeiten. Im Sinne der neuen „Einheitsfront-Taktik“ galt die sogenannte Bülowplatz-Geschichte nicht mehr als Heldentat, sie wurde als „individueller Terror“ verpönt. Am 31. Oktober 1933 stellte Mielke seine politische Laufbahn anläßlich einer Parteisäuberung einigermaßen lückenhaft dar:

„1928 wurde ich Mitglied der KPD. Ich arbeitete in der Straßenzelle und habe in meiner politischen Arbeit immer gegen Ultralinke gekämpft. 1932 bin ich ohne theoretische Vorbereitung an die Schule gekommen. In den Diskussionen habe ich mich hochmütig verhalten. Diesen Fehler kann ich mit meiner nahezu kleinbürgerlichen Abstammung erklären.“ Dann folgte das übliche inquisitorische Frage- und Antwortspiel des stalinistischen Selbstkritik-Terrors:

„Frage: Hast du gegen Ultralinke in der Gewerkschaft gekämpft?

Mielke: Ich sagte schon, daß ich in den Gewerkschaften keine führende Funktion inne hatte.

Frage: Wie stehst du zur Gruppe Neumann?

Mielke: Ich habe sie bekämpft.

Frage: Wie sah dein Kampf gegen den Faschismus konkret aus?

Mielke: Besonders habe ich auf die Massenarbeit geachtet. Ich habe gegen Tendenzen des individuellen Terrors gekämpft.

Frage: Du sagtest, du habest ein richtiges Gefühl im Kampf für die Generallinie. Was bedeutet das?

Mielke: Selbstverständlich kann ich ohne theoretische Anleitung nicht sicher handeln. Doch mein bolschewistischer Instinkt hilft mir.“

Als anschließend Mielkes Mitschüler und Mitschülerinnen dieser Art gemeinschaftlicher Gehirnwäsche unterzogen wurden, fragte Mielke den Genossen Knöchel aus Frankfurt frech: „Wie stehst Du zu individuellem Terror und zu linken Tendenzen?“

Auch Ziemer überging seine Zugehörigkeit zum PSS und seine Erfahrungen in der „Terrorgruppenarbeit“, sprach hauptsächlich über seine Schwerhörigkeit, an der er von Kindheit an litt.

Zwei Jahrzehnte später bekannte sich Mielke in seinem parteioffiziellen Lebenslauf wieder zu seiner Verwicklung in die „Bülowplatz-Sache“ und dazu, daß er sich in seiner Jugend mit „Abweichlern“ und mit „ultralinken Trotzkisten“ eingelassen hatte und erst später „richtig politisch bewußt wurde“. Ein Tschekist muß eben „klar sein wie ein Kristall“. Diese Klarheit ist im Leben des Erich Mielke der schnelle Linienwechsel, der taktische Schwenk, das Vergessen — die Permanenz der Lüge. An der Lenin-Schule wurde aus dem jugendlichen Revolverhelden der Mann, der heute vor Gericht steht. Ziemer und Mielke, die fehlgeleiteten, instrumentalisierten Weddinger Linksradikalen, waren in Moskau angekommen „wie Bolle jüngst zu Pfingsten“. Sie verließen die Stadt als gewissenlose Kader, ausgestattet mit sicherem „bolschewistischem Instinkt“.

Erich Ziemer starb 1937 im Spanischen Bürgerkrieg. Er agierte dort— wie auch Mielke — in der zweifelhaften Rolle des stalinistischen Politkommissars. Posthum ernannten ihn seine Auftraggeber, wie man in Moskau nachlesen kann, zum „Held der Sowjetunion“. Eine Ehre, die Mielke nicht mehr widerfahren wird. „Die Freunde“ haben sich aus der Geschichte verabschiedet.