Der digitale Kuhstall: Milchmaschinen und Menschen

Der Innsbrucker Künstler Bernhard Kathan über die deutsche Milchkuh im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit.

Aus der Fotoserie „Hornless Heritage“ Bild: Nikita Teryoshin

von Peter Unfried

Beim Betrachten von Nikita Teryoshins Fotostory über Turbokühe – der Begriff ist abgeleitet vom Turboauto – stellt sich unwillkürlich die Frage: Ist diese Turbokuh noch ein Lebewesen oder bereits eine Milchmaschine? Antwort: Sie ist eindeutig ein Lebewesen. Aber die richtige Frage lautet: Ist sie noch eine Kuh?

Milchkühe im Hochleistungsbereich sind in den letzten Jahrzehnten durch Gentechnik, Reproduktionsmedizin und Selektion so verändert worden, dass sie außerhalb eines künstlichen Habitats nicht mehr lebensfähig sind. Das Modell Holstein-Friesian ist in der Premiumklasse wie Mercedes und wird ebenso um die Welt exportiert.

Diese Milchmaschinen sind schlicht nicht mehr gebaut, um sich in der Natur bewegen zu können. Sie sind gebaut, um für einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren möglichst viel Milch zu geben, das ist fast doppelt so viel wie vor fünfundzwanzig Jahren.

Zucht auf höchstmögliche Leistung

Die enorme Milchleistung verdankt sich neben züchterischen Anstrengungen (durch die Gentechnik ergeben sich neue Möglichkeiten) wie einer entsprechenden Fütterung vor allem einem effizienten Herdenmanagement, welches unter Nutzbarmachung von Verhaltensdispositionen darauf abzielt, bei geringstmöglichem Aufwand die höchstmögliche Leistung zu erzielen.

Neben vielem anderen gilt es, den optimalen Energieverbrauch zu gewährleisten. Das heißt: Nur so viel Bewegung, dass die Kuh nicht erkrankt, möglichst kurze Wege zum Futter. Inzwischen weiß man, dass nicht jene Kühe am wirtschaftlichsten sind, die am meisten Milch geben, sondern jene, die zwar nicht ganz so viel Milch geben, dafür aber weniger krankheitsanfällig sind, wodurch nicht nur geringere Tierarztkosten, sondern auch eine längere Nutzungsdauer gegeben ist. Eine Hochleistungskuh, die nach der ersten oder zweiten Laktationsperiode ausfällt, ist unwirtschaftlich.

Die Grundvoraussetzung jedes effizienten Herdenmanagements liegt in der eindeutigen Identifikation jedes einzelnen Tieres sowie in einer automatisierten Datenerfassung, die es ermöglicht, von der Kraftfutterzuteilung bis hin zu Selektionstoren jede einzelne Kuh den Zielsetzungen entsprechend zu bewirtschaften. In der Sprache eines Anbieters: »Der Computer kennt die Kuh.« Mensch-Tier-Kontakt findet im modernen Kuhstall kaum noch statt. Das Futter kommt automatisch, das Melken übernimmt ein Roboter.

Die Kuh liefert also den ganzen Tag Daten, die von künstlicher Intelligenz individuell und als Big-Kuhstall-Data ausgewertet und damit ständig besser werden und eine noch optimalere Ausbeutung ermöglichen. Hochleistungskühe sind heute rund um die Uhr online. Sie wissen nicht darum. Auch der Bauer ist online. Er weiß es, versteht es im Allgemeinen aber nicht.

Ein Modell, das sich auf den Menschen anwenden lässt

»Der Kuhstall ist für mich ein Modell, mit dem man erklären kann, was auch im Fall der Menschen möglich ist«, sagt der Innsbrucker Künstler Bernhard Kathan, Autor des wegweisenden Buches Schöne neue Kuhstallwelt, aus dem diese Gedanken stammen.

»Die Verknüpfung von Mechanik, Informatik, Biotechnologie ist im modernen Kuhstall einfach schön anzuschauen«, sagt Kathan. »Das Zweite, was mir dort gefällt und auch auf die Gesellschaft hin zu betrachten ist, kommt aus der Verhaltensforschung: Verhaltensteuerung über Bedürfnisse.« Im Kuhstall kann der Mensch die kommenden Herrschaftsverhältnisse schon jetzt studieren, das ist Kathans These.

Funktioniert also die Kuh, wie Menschen für Google und Facebook funktionieren, nur dass sie nicht selbst etwas anklicken kann; und dem Menschen nicht immer mehr Milch, sondern immer mehr Daten abgemolken werden, die er aber auch alle brav und freiwillig abliefert?

Das Internet als Futterautomat des Menschen

»Daten und Milch lassen sich nur auf den ersten Blick gleichsetzen. Ich finde das auch einen entscheidenden Denkfehler in der Datendebatte«, sagt Kathan. »Natürlich lässt sich mit Daten Geld machen, aber das Produkt, die Milch also, die wir abliefern sollen, ist an anderer Stelle zu sehen, in Konsumakten etwa, in denen sich Arbeit verflüssigt und somit abschöpfen lässt.«

Dazu wird der Menschstall auf seine Neigungen und seine Bequemlichkeit hin ausgerichtet und der Futterautomat immer schön gefüllt. Im Grunde sei das Internet der Futterautomat des Menschen, sagt Kathan. Abends sitzt er zum Schreiben gern im Caféhaus und dann sieht er, wie die Leute an den Nebentischen an ihren Mobilgeräten Seite um Seite aufrufen – es sind veritable Hochleistungsdatenlieferer, die sich rund um die Uhr melken lassen.

Wenn der Bauer übrigens eines Tages sieht, dass eine bestimmte Milchmaschine nicht mehr die ökonomisch sinnvolle Hochleistungszahl liefert, drückt er auf einen Knopf. Dann öffnet sich eine Tür, durch die die Kuh dann von selbst in einen Raum geht, an dessen Ende der Lkw zum Schlachthof steht.

Mehr von Bernhard Kathan: www.hiddenmuseum.net/kuhstallwelt.html

Mehr von Nikita Teryoshin: https://nikitateryoshin.com

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