Nachruf auf eine Bestie

Vor 15 Jahren starb Jürgen Bartsch, der mehrere Kinder auf brutale Weise ermordete. Der „Fall“ zwingt immer wieder zum Nachdenken: Was erzählt ein Mord über die Kindheit eines Mörders?  ■ VonThorstenSchmidt

Jürgen Bartsch hat von seinem fünfzehnten bis zu seinem neunzehnten Lebensjahr vier zwischen acht und elf Jahre alte Knaben ermordet. Die außergewöhnliche, sadistische Brutalität seiner Morde hat seinen Namen in der Öffentlichkeit zum Mythos, in der Wissenschaft zum Fallbeispiel gemacht. Der „Fall Jürgen Bartsch“ zwingt immer wieder zum Nachdenken über die gesellschaftliche Relevanz von seelischen Deformationen.

Karl-Heinz Sadrozinski wurde am 6.11.1946 als uneheliches Kind in Essen geboren. Seine Mutter starb kurz nach seiner Geburt an Tuberkulose. Einige Monate später lernt das Ehepaar Bartsch den Säugling im Krankenhaus kennen. Da sie selber keine Kinder bekommen können, beschließen sie, das Kind aufzunehmen, trotz der Bedenken, die die Adoptionsbehörden des Essener Jugendamtes wegen der „zweifelhaften Herkunft“ des Kindes äußerten und die so stark waren, daß die tatsächliche Adoption erst sieben Jahre später erfolgte. Aus dem kleinen Karl-Heinz wurde Jürgen Bartsch.

In den beiden Prozessen gegen Jürgen Bartsch 1967 und 1971 enthüllte sich ein Drama einer verpfuschten Kindheit. Jürgen Bartsch hat aus dem Gefängnis unzählige von Briefen an den amerikanischen Journalisten Paul Moor geschrieben. Er schildert darin, daß er lange Jahre zu Hause eingeschlossen wurde, nicht mit anderen Kindern spielen durfte. Seine Eltern arbeiteten beide im eigenen Schlachtergeschäft und kümmerten sich wenig um das Kind. Prügel waren für Jürgen an der Tagesordnung: „Meine Mutter fand absolut nichts dabei, mich in einer Minute in den Arm zu nehmen und zu küssen, und in der nächsten Minute sah sie, daß ich aus Versehen die Schuhe anbehalten hatte, nahm einen Kleiderbügel aus dem Schrank und zerschlug ihn auf mir.“

Die seelischen Narben seiner Kindheit ließ sich Jürgen Bartsch nicht anmerken: „Jeder Junge hat ja seinen Stolz. Nein, ich habe nicht jedesmal geheult, wenn ich Prügel bezogen habe, das fand ich memmenhaft, und so war ich wenigstens in einem Punkt tapfer, nämlich, meinen Kummer niemand merken zu lassen.“

Mißglückte Mannwerdung

In der Familie Bartsch herrschte ein rauher Ton. Zärtlichkeiten zwischen seinen Eltern hat er nie beobachtet und auch selbst nicht erfahren. Mit Sexualität kam Jürgen Bartsch früh und sofort im Zusammenhang mit Gewalt in Berührung. Kurz nach seinem achten Geburtstag wurde er von seinem dreizehnjährigen Vetter gewaltsam mißbraucht. Als Zwölfjähriger kam Jürgen in ein katholisches Internat. Hier wurde in Jürgen hineingeprügelt, daß Zärtlichkeiten, schon gar unter Männern, „Schweinkram“ seien. Doch jener Pater, der am meisten prügelte, verging sich an Jürgen Bartsch, als dieser mit schwerem Fieber im Bett lag. „Ab vierzehn Jahren etwa war es schon so, daß mich die Acht- bis Zehnjährigen interessierten, und die gleichaltrigen überhaupt nicht.“ Jürgen Bartsch wird zum ersten Mal auffällig, als er im Sommer 1961 einen jüngeren Nachbarsjungen zu sexuellen Handlungen zwang. Der Vater dieses Jungen wurde von Jürgens Eltern mit Geld beschwichtigt, die Anzeige wegen „Körperverletzung“ eingestellt.

Niemand hat diese ersten Anzeichen einer sexuellen Perversion erkannt. Jürgen hatte keine Vertrauensperson, der er sich anvertrauen konnte. Als seine Probleme immer schwieriger wurden, machte er verzweifelte Anstrengungen, seinen Geschlechtstrieb auf das heterosexuelle Gebiet zu lenken. Er war zu schüchtern, um Kontakt zu gleichaltrigen Mädchen zu finden. Schließlich zwang er sich mehrfach, Prostituierte in Essen aufzusuchen, um bald festzustellen: „Das hatte mit Amüsieren nichts zu tun.“ Als 15jähriger beging Jürgen Bartsch seinen ersten Mord. Auch die drei folgenden Morde geschehen nach dem gleichen Ritual: Bartsch sucht sich seine Opfer auf einem Jahrmarkt oder einem Bahnhof und lockt sie unter einem Vorwand in einen halbverschütteten Luftschutzstollen in seinem Heimatort Langenberg. Er entkleidet, fesselt und knebelt seine Opfer und onaniert währenddessen. Er würgt oder erschlägt die Jungen, um sie anschließend mit einem Messer akurat zu zerstückeln und die Leichenteile im Stollen zu vergraben.

Bis zu seiner Festnahme im Juni 1966 streunte Jürgen Bartsch auf der Suche nach neuen Opfern fortan fast täglich durch die Gegend. Er schätzte, daß er mehr als hundert weitere erfolglose Versuche unternahm, Jungen anzusprechen und mitzulocken. Im Prozeß schilderte Bartsch, daß er den Höhepunkt seiner geschlechtlichen Erregung nicht bei seiner Masturbation erreichte, sondern beim Zerschneiden der Leichen, was ihn zu einer Art Dauerorgasmus brachte.

Die deutsche Öffentlichkeit reagierte mit größter Empörung auf das Bekanntwerden dieser Details. Eine Umfrage kürte Jürgen Bartsch zum zweitschlimmsten Verbrecher des Jahrhunderts. Zu den Verhandlungen beim Landgericht in Wuppertal im Dezember 1967 kam das Publikum jeden Tag in Scharen. Die Presse berichtete in beispielloser Ausführlichkeit. Die Zeitungen erhielten zahllose Briefe, in denen für Bartsch Behandlungen vorgeschlagen wurden, die an schierem Sadismus der makabren Phantasie von Jürgen Bartsch kaum nachstanden. Politiker wie Richard Stücklen (CSU) forderten öffentlich die Todesstrafe für Mord an Kindern. Über die Verurteilung schreibt Ulrike Meinhof in 'Konkret‘: „Der Gerichtsvorsitzende schweigt, als das Publikum im Gerichtssal auf das Urteil ,Lebenslänglich‘ hin klatscht und ,Bravo‘ ruft, wo Beifalls- und Mißfallensbekundungen aus gutem Grund sonst gerügt werden, schweigt, wo eine Gesellschaft sich durch ihren Haß auf einen Kindermörder jenes gute Gewissen verschafft, das sie braucht, um zu Kindermorden in Vietnam schweigen zu können und zur Barbarei im Umgang mit Kindern im eigenen Land, in der eigenen Familie.“

Auch Gerhard Mauz rügte im 'Spiegel‘ diesen Prozeß als einen „Prozeß des 19. Jahrhunderts“: Jürgen Bartsch wurde nach dem Erwachsenenstrafrecht verurteilt, obwohl er bei seinem ersten Mord gerade erst 15 Jahre alt war. Rechtsanwalt Ralf Bossi ging in die Revision. Der Bundesgerichtshof rügte, daß kein Sexualwissenschaftler zu Rate gezogen wurde. Die Gutachter, drei Neurologen, hatten Bartsch lediglich auf organische Gehirnerkrankungen hin untersucht.

Doch noch ein fairer Prozeß

Der Revisionsprozeß fand im April 1971 in Düsseldorf statt. Wieder war das Interesse der Öffentlichkeit groß. Doch es wurde kein erneuter Schauprozeß: Publikum und Presse wurden ausgeschlossen. Die Crème de la Crème der deutschen Sexualforschung und Gerichtspsychiatrie erreichte mit ihren Gutachten eine Verurteilung zu 10jähriger Jugendstrafe und anschließender Einweisung in eine geschlossene Heilanstalt. Während des Verfahrens kamen viele Einzelheiten aus Jürgen Bartschs Leben zur Sprache: eine Verknüpfung von mögliche Ursachen, doch keine Erklärung für diese Entwicklung in eine sadistische Sexualität. Die Psychologin Alice Miller lieferte später in ihrem Buch Am Anfang war Erziehung einen Erklärungsversuch: „Er inszenierte die Situation einer tiefen Demütigung, Bedrohung, Vernichtung der Würde, Entmachtung und Ängstigung eines kleinen Jungen in Lederhosen, der er einst gewesen war. Es erregte ihn besonders, in die verängstigten, gefügigen, hilflosen Augen des Opfers zu blicken. In diesen Augen begegnete er sich selbst mit den Gefühlen, die er hatte unterdrücken müssen.“

Im Gefängnis spielten sich diese Szenarien weiter in Jürgen Bartschs Phantasie ab. Er schreibt an seine Eltern: „Es hat bis heute nicht aufgehört. Der Drang, das Verlangen, das Begehren, das alles ist nach wie vor da. Ob ihr es glaubt oder nicht, es genügt, wenn ich ein Bild sehe, auf dem ein Junge abgebildet ist. Schon ist ,es‘ da... Ich bin nicht fähig, zu sagen: Trieb, go home! Ohne ärztliche Hilfe wird der Trieb nicht verschwinden. Auf der anderen Seite bin ich aber überzeugt, daß ich es mit ebensolcher Hilfe schaffen kann, normal wie andere Menschen zu werden, was auch heute noch mein größter Wunsch ist.“ Bartsch war sich im klaren darüber, daß nur eine Operation ihm eine Chance eröffnen würde, wieder in Freiheit zu gelangen: „Allein der Gedanke jedoch, daß die Sexualität überhaupt noch vorhanden ist, gefällt mir überhaupt nicht! Ich will, daß sie völlig, und zwar restlos, bei mir ausgelöscht wird, und das geht nunmal nur durch eine Gehirnoperation.“

Eine stereotaktische Gehirnoperation, bei der das Zentrum der Sexualität im Gehirn zerstört würde, war Bartsch schließlich doch zu riskant. Er entschied sich zur Kastrationsoperation. Dabei starb er am 28.4.1976 durch einen Narkosefehler an akutem Herzversagen. Er wurde nicht einmal 30 Jahre alt.

Die Briefe Jürgen Bartschs sind gerade in einer Neuauflage erschienen: Paul Moor — Jürgen Bartsch, Opfer und Täter, Rowohlt, 48,- DM