„Diese Schuld darf niemals vergessen werden“

In einer gemeinsamen Erklärung übernimmt die Volkskammer ihren Teil der Verantwortung für die deutsche Geschichte / Schweigeminute im Parlament  ■ D O K U M E N T A T I O N

Zum Auftakt ihrer zweiten Sitzung hat die Volkskammer der DDR am Donnerstag eine gemeinsame Erklärung abgegeben, in der sich die Abgeordneten der Verantwortung für die deutsche Vergangenheit stellen und an das Leid erinnern, das während der nationalsozialistischen Herrschaft über die Juden, Sinti und Roma sowie das sowjetische Volk gebracht wurde. In der Frage der Anerkennung der polnischen Westgrenze wählte die Erklärung dieselbe Formulierung wie der Bonner Bundestag am 8. März. Nachdem Volkskammerpräsidentin Sabine Bergmann-Pohl die Erklärung verlesen hatte, erhoben sich die Abgeordneten zu einer Schweigeminute von ihren Plätzen. Im folgenden dokumentieren wir diesen von 'dpa‘ im Wortlaut übermittelten Text.

„Wir, die ersten frei gewählten Parlamentarier der DDR, bekennen uns zur Verantwortung der Deutschen in der DDR für ihre Geschichte und ihre Zukunft und erklären einmütig vor der Weltöffentlichkeit:

Durch Deutsche ist während der Zeit des Nationalsozialismus den Völkern der Welt unermeßliches Leid zugefügt worden. Nationalismus und Rassenwahn führten zum Völkermord, insbesondere an den Juden aus allen europäischen Ländern, an den Völkern der Sowjetunion, am polnischen Volk und am Volk der Sinti und Roma.

Diese Schuld darf niemals vergessen werden. Aus ihr wollen wir unsere Verantwortung für die Zukunft ableiten.

1. Das erste frei gewählte Parlament der DDR bekennt sich im Namen der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zur Mitverantwortung für Demütigung, Vertreibung und Ermordung jüdischer Frauen, Männer und Kinder. Wir empfinden Trauer und Scham und bekennen uns zu dieser Last der Deutschen Geschichte.

Wir bitten die Juden in aller Welt um Verzeihung. Wir bitten das Volk in Israel um Verzeihung für Heuchelei und Feindseligkeit der offiziellen DDR-Politik gegenüber dem Staat Israel und für die Verfolgung und Entwürdigung jüdischer Mitbürger auch nach 1945 in unserem Lande.

Wir erklären, alles uns Mögliche zur Heilung der seelischen und körperlichen Leiden der Überlebenden beitragen zu wollen und für eine gerechte Entschädigung materieller Verluste einzutreten.

Wir wissen uns verpflichtet, die jüdische Religion, Kultur und Tradition in Deutschland in besonderer Weise zu fördern und zu schützen und jüdische Friedhöfe, Synagogen und Gedenkstätten dauernd zu pflegen und zu erhalten.

Eine besondere Aufgabe sehen wir darin, die Jugend unseres Landes zur Achtung vor dem jüdischen Volk zu erziehen und Wissen über jüdische Religion, Tradition und Kultur zu vermitteln.

Wir treten dafür ein, verfolgten Juden in der DDR Asyl zu gewähren.

Wir erklären, uns um die Herstellung diplomatischer Beziehungen und um vielfältige Kontakte zum Staat Israel bemühen zu wollen.

2. Uns, den Abgeordneten des ersten frei gewählten Parlaments der DDR, ist es ein tiefes Bedürfnis, uns mit der folgenden Erklärung an die Bürgerinnen und Bürger der Sowjetunion zu wenden:

Wir haben die furchtbaren Leiden nicht vergessen, die Deutsche im Zweiten Weltkrieg den Menschen in der Sowjetunion zugefügt haben. Diese von Deutschland ausgegangene Gewalt hat schließlich auch unser Volk selbst getroffen. Wir wollen den Prozeß der Versöhnung unserer Völker intensiv fortführen.

Unser Anliegen wird es daher sein, Deutschland so in ein gesamteuropäisches Sicherheitssystem zu integrieren, daß unseren Völkern Frieden und Sicherheit garantiert sind.

Wir sind uns bewußt, daß die Umgestaltung in unserem Land nicht möglich gewesen wäre ohne das neue Denken und die Perestroika in der Sowjetunion. Wir sind den Bürgerinnen und Bürgern der Sowjetunion dankbar für die Ermutigung und Anregung, die wir durch sie in dieser Hinsicht empfangen haben. Wir fühlen uns mit ihnen eng verbunden in der Auseinandersetzung mit dem Erbe des Stalinismus und im Wirken für Demokratie.

Ausgehend von den sich verändernden Bedingungen in unseren Ländern und den neuen Tendenzen in den internationalen Beziehungen, werden wir uns mit den Völkern der Sowjetunion um eine konstruktive Politik für Frieden und internationale Zusammenarbeit bemühen. In diesem Sinne regen wir an, die bestehenden Verträge mit der Sowjetunion allmählich und einvernehmlich den neuen Realitäten anzupassen.

3. Die Volkskammer der DDR bekennt sich zur Mitschuld der DDR an der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 durch Truppen des Warschauer Paktes.

Mit der unrechtmäßigen militärischen Intervention wurde den Menschen in der Tschechoslowakei großes Leid zugefügt und der Prozeß der Demokratisierung in Osteuropa um 20 Jahre verzögert. Der Einmarsch der Volksarmee geschah unter Verletzung des Artikels 8 (2) der Verfassung der DDR.

Wir haben in Angst und Mutlosigkeit diesen Völkerrechtsbruch nicht verhindert.

Das erste frei gewählte Parlament der DDR bittet die Völker der Tschechoslowakei um Entschuldigung für das begangene Unrecht.

4. Die Bevölkerung der DDR hat durch ihre friedliche Revolution im Herbst 1989 die trennende Wirkung der menschenverachtenden innerdeutschen Grenze beseitigt. Nun sollen die beiden Teile Deutschlands zusammenwachsen und dabei die Herausbildung einer gesamteuropäischen Friedensordnung im Rahmen des KSZE-Prozesses fördern.

Wir sehen eine besondere Verantwortung darin, unsere historisch gewachsenen Beziehungen zu den Völkern Osteuropas in den europäischen Einigungsprozeß einzubringen.

In diesem Zusammenhang erklären wir erneut feierlich, die im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges entstandenen deutschen Grenzen zu allen Anrainerstaaten ohne Bedingungen anzuerkennen.

Insbesondere das polnische Volk soll wissen, daß sein Recht, in sicheren Grenzen zu leben, von uns Deutschen weder jetzt noch in Zukunft durch Gebietsansprüche in Frage gestellt wird.

Wir bekräftigen die Unverletzbarkeit der Oder-Neiße-Grenze zur Republik Polen als Grundlage des friedlichen Zusammenlebens unserer Völker in einem gemeinsamen europäischen Haus.

Dies soll ein künftiges gesamtdeutsches Parlament vertraglich bestätigen.“

Berlin, 12. April 1990

Die Fraktionen der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik