„Arschlose Männer rammelten an uns vorbei“

Notizen aus der Provinz: In Frankfurt-Oder im Vakuum? / Die Zerstörung der Sinnlichkeit / Eine Stadt ohne Raum für Frauen, ohne Raum für Kultur / Künstlerinnengruppe: „Wir hatten nur einen Monat Demokratie“ / Angst vor Wiedervereinigung  ■  Von Ute Scheub

Frankfurt an der Oder ist keine Stadt, Frankfurt ist ein Würfelspiel auf einer Betonplatte. Auf der Mitte der Platte, dem zentralen Platz der Stadt, herrscht die Leere des Vakuums. Drumherum haben die realsozialistischen Stadtplaner diverse Neubauten zwischen die historischen Überbleibsel gewürfelt - die Ruine der Marienkirche aus dem 13.Jahrhundert, das gotische Rathaus. Spitzengardinen hinter gefliesten Fassaden. Einheitsbalkone. Trümmergrundstücke. Braun. Beige. Grau. Und immer wieder dieses unnachahmlich dumpfe DDR-orange und -rot, so erschöpft wie der Realsozialismus selbst. Depression als Folge der jahrzehntelangen Mißachtung der menschlichen Sinnesorgane. In dieser kriegszerstörten und neu hingebauten Stadt der 90.000 GrenzbeamtInnen, Armeeangehörigen, MikroelektronikarbeiterInnen und ehemaligen ParteihochschülerInnen - wo ist da ein Raum für Sinnlichkeit und Kultur? Welchen Ort finden die Frauen, die hier vor kurzem in der immerhin ersten Frauendemonstration der DDR entlang zogen?

Eine Tür öffnet sich - in eine Oase der befreiten Sinne. Sie riecht nach Farben und Jasmintee. Weibliche Skulpturen stehen mit einladender Geste im Raum, selbstgefertigte Puppen, Frauenfiguren. Ulrike Markert, 25jährige freischaffende Künstlerin und Mitglied des „Unabhängigen Frauenverbandes“, hat noch vier weitere kulturbewegte Frauen der kleinen Ortsgruppe in ihre Privatwohnung geladen.

Ihr Anliegen: das Vakuum zu besetzen. Denn sie alle leiden an Frankfurt. An der Frauenfeindlichkeit der leeren Räume: „Wir werden überall belästigt.“ An seiner Ödnis. „Hier ist absolut nichts los“, stellen sie fest. „Die Kneipen schließen um 22 Uhr. Aber hier ist jeder Sechste Alkoholiker.“ Am „Kunsthaß“ seiner BewohnerInnen. „Die Leute nehmen den Künstlern und Intellektuellen ihre angeblichen früheren Privilegien übel“, sagt Ulrike, deren Privileg gerade mal aus einem Stipendium von 400 Mark monatlich besteht. „Im Theater fallen Vorstellungen aus, weil manchmal nur drei ZuschauerInnen kommen. Experimentelles ist nicht gefragt“, berichten Marlies und Iris, die für den typisch niedrigen Frauenlohn von 600 Mark im Monat im Bezirkstheater Kostüme schneidern.

Und sie leiden an den neuen politischen Verhältnissen fast genauso wie an den alten. „Wir hatten nur einen Monat Demokratie“, bringt es Uta, die als ebenfalls schlechtbezahlte künstlerische Leiterin und Keramikerin im „Haus der Lehrer“ arbeitet, das Empfinden der Gruppe auf den Punkt: Die Denkräume für neue gesellschaftliche Vorstellungen sind ihnen zuerst von den Männern-Ost und dann von den Politikern-West weggenommen worden. Über das - auch im provinziellen Frankfurt recht starke - Neue Forum haben sie sich im Herbst kennengelernt, „aber die wollten keine Frauen zum Zug kommen lassen. Was wollt ihr Frauen, wir haben genug Probleme, hat uns einer der Männer gesagt.“ Also gingen sie wieder raus, um ihre eigenen, ihre Fraueninteressen durchzusetzen. Und nun, angesichts der drohenden Wiedervereinigung, die sie als „deprimierend, erschreckend und schlimm“ empfinden, wird ihnen „himmelangst“: „Die Frauen werden die größte Last zu tragen haben, sie fliegen als erste aus ihren Jobs“, sagt Ulrike und gießt Tee nach.

Rita, die im Bezirkskabinett für Kulturarbeit jobbt und einen Sohn zu versorgen hat, bekommt es wie viele schon jetzt zu spüren: „Niemand fühlt sich mehr zuständig für unsere Arbeit, Gelder werden vor den Wahlen nicht mehr bewilligt. Unsere bisher an Betriebe angegliederte 'Schreibzirkel‘ und 'Töpferzirkel‘ werden abgestoßen. Unser Chef sattelt jetzt um auf Schaffner.“ Im Theater von Marlies und Iris sieht es ähnlich aus: „Der Intendant hat schon gekündigt.“ Im Zeichen der ökonomischen Krise geht die Kulturarbeit als erste über die Oder.

Aber statt die Trostlosigkeit zu bejammern, wollen die Frauen „lieber etwas hinterlassen“ und den Unabhängigen Frauenverband in Frankfurt stärken, auch wenn es zu einer Wahlliste im Bezirk wohl „nicht reicht“. Die „erste Frauendemo der Republik“ organisiert zu haben, darauf sind sie „eigentlich stolz“. Rund 250 Frauen, und das sind für Frankfurter Verhältnisse viele, hatten lautstark vor dem Rathaus demonstriert und den Stadtverordneten ihren Forderungskatalog übergeben: für Quotierung und Gleichstellung bei Löhnen, für die Einrichtung einer Kommission für Frauenfragen, gegen Sexismus, Prostitution und Sozialabbau. „Die arschlosen Männer mit ihren Aktentaschen rammelten an uns vorbei“, beschreibt Uta den Fluchtversuch der örtlichen Machthaber.

Die Leere, sie ist ein winziges bißchen geschrumpft. „Heute ist das erste Frauencafe eröffnet worden“, freut sich die Gruppe. Und wenn jetzt die neuen Machthaber kommen, die aus dem Westen? Das erste, was ihr aufgefallen sei bei ihrem ersten Gang durch die Mauer, erzählt Ulrike und streicht sich durch die langen hennaroten Haare, sei der süßliche Geruch: „Drüben stinkts nach Plastik und Parfüm, nicht nach Mensch. Die Düfte und Pigmente nehmen gegen Osten hin ab.“ Uta fühlte sich in West-Berlin von der Werbung „ständig belauert, hinterrücks gepackt und betrogen.“ Die westliche Egozentrik habe sie abgestoßen: „Drüben waren alle Menschen drei Meter breit.“

Der östliche Funktionalismus entleert die Sinnlichkeit, die westliche Warenpropaganda überreizt sie - beides wird sich vielleicht nur mit seinen schlechtesten Seiten ergänzen. „Am Anfang“ glaubte Ulrike, „man könnte das Gute von hüben und drüben neu zusammenfügen. Jetzt werden wir wohl die Coca -Cola-Kultur übernehmen.“

Am Abend laden Marlies und Iris zu einem Theaterbesuch ein: Barackenbewohner von Lothar Trolle. Untertitel: Nach der Wende - Wüste. Ein wunderbar komisches trauriges Stück, unterlegt mit der biblischen Geschichte von Aron, der mit seinem Volk Israel durch die Wüste zieht. Die Rebellion gegen den honeckernden Moses endet mit dem Tanz ums goldene Kalb. Denn, sagen die Bewohner der Baracke DDR, „was Wüste uns zu bieten hat, wissen wir.“