Ein Geniestreich

■ Thomas Hettches Roman „Ludwig muß sterben“

Die Zeit hat schlanke Hände, ein wunderbares Skalpell, und sie ist in Eile, so programmatisch zitiert Thomas Hettche in seinem Roman „Ludwig muß sterben“, Louis Aragon, dessen Worte er für das 35. Kapitel wählte und die wie ein poetisches Programm klingen, klingen sollen, denn wie die Zeit/der Tod uns Menschen umkreist, so umkreist der 25jährige Autor Hettche Ludwig, seinen kranken Helden, der unter einer Herzkrankheit leidend, die Worte anzieht, wie den Tod, den er in endlos scheinenden Wortspiralen umzingelt. Er dient dem 25jährigen Autor als Reflektion über die vielfältigen Reaktionen auf sich und andere, die zu dokumentieren er sich vorgenommen hat.

Ludwig muß sterben, das scheint sicher, dieser Herzkranke, dessen Antwort auf eine Operation Flucht heißt, die ihn nach Italien/Ligurien treibt, zu Lene, die von dem 10 Jahre jüngeren Bruder mit den Augen der Phantasie verfolgt wird. Eifersüchtig, fast manisch beobachtet dieser ebenfalls Kranke aus der Wohnung in Frankfurt jeden Schritt seines ebenfalls in Behandlung befindlichen Bruders, zeigt dem Leser, hier ist nicht das Herz krank, es ist der Kopf.

Wie nur Einsame extreme Phantasien erschaffen können, zur Linderung ihrer unerträglichen Situation, so bringt Thomas Hettche Bilder so imaginär wie sie sonst nur Kranke gelingen. Dieser kranke Kopf mit seiner irrealen Phantasie, gebiert Wesen, deren literarische Traditionen von E.T.A. Hoffmann bis zu der Moderne reichen, der frühe surrealistische Aragon wurde schon erwähnt, dessen starke Sprachphantasien (in Anicet ou le panorama, 1921) bei Hettche nachklingen, Hettche, dessen phantastische Märchengebilde virtuos gehandhabt werden, erzielt aber nicht durch seine phantastischen Figuren Spannung und Intensität, bei dem jungen, erst 25jährigen Hettche, sind die wirklichen Abenteuer seine Sätze.

Wie die Finger des Erzählers über den offenen Schädel eines Mannes streichen, dessen Abbildung sich in einem Anatomieatlas befinden, zusammen mit anderen Abbildungen, von denen zwei aus dem Papier gleiten, lebendig werden, plötzlich zu sprechen beginnen, diese Rekarnation der Toten, die den Erzähler in ungeahnte Situationen verstrickt, sind für ein literarisches Debüt einzigartig. Zwei Personen, entstiegen aus einem Anatomieatlas Mann und Frau, ein junges 15jähriges Mädchen mit offenen Hautpartien, in den offenen Schädel Ludwig womöglich gewichst hätte, so der Erzähler distanzierend über die Sexualität seines Bruders Ludwig, wird trotzdem oder gerade zwangsläufig zum erotischen Objekt seiner Begierde, wie auch das Mädchen Lene in den Armen Ludwigs, seine erotischen Phantasien entzündet.

„Die Dinge begehren sich ohne Zungen, lieben stumm, nie können wir wissen, wie es sein mag, sich ohne Zunge zu küssen, mit dieser Leere im Mund.“ Diese Leere im Mund, dieses, „wie ist es wenn man stirbt“, die Angst vor dem Tod, dieser Herzstillstand, diese abfärbende Angst, zirkuliert durch Hettches Text, versucht eine Orientierung; deshalb die nie endenden Sätze, die dichte, komprimierte Sprache bis zur Unerträglichkeit, vor allem wenn er sich selbstverliebt in seine Sprache verliert, der er sich uneingeschränkt anvertraut oder wenn er sich genüßlich dem Zitieren des medizinischen Jargons überläßt, da wäre weniger oft mehr, so kennt er keine Ruhe, kennt nur Addition, Hinzufügung, fesselt, verzaubert dadurch auch, schöpft aus den besten Traditionen der Literatur, die man einer Generation von Yuppies nicht zugetraut hätte und allen Kritikern, die Autoren vor dem Verlust einer sinnlichen Sprache beim Schreiben mit dem Computer warnten, beweist Hettche welche Sinnlichkeit möglich ist.

Als Lene und Ludwig eine Autofahrt Richtung Triest unternehmen und in einem Hotel kein Doppelzimmer bekommen, frei sind nur noch Einzelzimmer, benutzt Hettche präzise die italienische Formulierung: le prendo, ja, er will sie beide, nicht wir nehmen beide oder jeder ein Zimmer, nein, le prendo, beide Zimmer, beide Realitäten will er besitzen, so wie er die beiden Fiktiven Figuren, deren Transzendenz er geschaffen hat, wie auch Ludwig und das Mädchen Lene zwei Möglichkeiten einer Realität sind, die er begleitet, denen er sich totalisierend hingeben will, in ihnen sucht er seine Verdrängung, seine Flucht sind die Anderen, deren imaginäre, virtuos vielschichtig beschriebene Onaniephantasien, ihm helfen sollen zu verschmilzen mit einer Welt, der er nicht angehört, die er poetisch beschwört, nach deren Besitz er giert.

Einsamkeit, Krankheit, die überall zu findende Sucht nach einer intensiveren Realität, Hettche, dessen Buch auch den Grenzbereich zum Wahnsinn beschreibt, „ein Werk kann seinen Ursprung nicht im Wahnsinn haben, stellte ich fest, es kann höchstens sein, daß die Sprache, aus deren Tiefe es herkommt, sich dem Raum des Wahnsinns öffnet“, und dies tut sein Roman unaufhörlich. „Auf sich selber zuzusteuern“, wie er schreibt, wie er ferngesteuert einen Crash zweier Autos erwägt, tödlich auf diesen Ludwig zusteuern will, will er diese Zunge im Hirn sein, eine tiefere Erfahrung, eine Berührung bis zum Tod, wo durch ihn erst die Bilder beginnen oder vielleicht auch erlöschen.

„Der Zeit fällt nichts mehr ein“, so Hettche, dessen junge Karriere im Literaturbetrieb über das Hessische Literaturbüro begann, wo er 1988 den ehemals als Gegenpreis zur Frankfurter Buchmesse konzipierten Hungertuchpreis 1989 erhielt, 1989 in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann-Preis ein Stipendium erhielt und derzeit, für ein halbes Jahr, Gast des Literarischen Colloquiums in Berlin ist, dieser 1964 in Frankfurt geborene Autor, der beim Suhrkamp Verlag seinen ersten Roman als Hardcover vorlegen durfte, verlegt ohne Angaben zur Person, ist uneingeschränkt eine literarische Entdeckung und er wird, wenn er weiter schreibt und seine Kreativität anhält, einer der Autoren der 90er Jahre sein und schon mit seinem ersten Roman widerlegt, was er in einem Satz seines Romans verkündet, der Zeit ist etwas eingefallen.

Ich gebe zu, ich bin durch diesen Roman überzeugt, ja fasziniert, Literatur soll eine Verführung sein, zum Verführen verleiten, ihr Thema war und ist stets das Imaginäre, die imaginäre Transzendenz. Hettches Roman ist ein einzigartiges, durchkomponiertes Leseerlebnis, dem der Leser Aufmerksamkeit widmen muß, um den vielfältigen Sprachspielen und dem Labyrinth folgen zu können, in das uns Hettche zu ver/führen sucht. Hettche wird älter werden, existenzielle Narben werden nicht ausbleiben, nie wieder wird er sich dem Tod so federleicht und verspielt nähern können, auf diesem Weg, dem nachzuvollziehen man gespannt sein darf, müssen wir hoffen, daß wird seine Literatur ausmachen, seine Sprache wird eine andere werden.

Genial, dieses Buch.Es nivelliert viele, setzt Qualitätsmaßstäbe, trotz einiger Schwächen. Das Wort genial sollte ein Rezensent wenn möglich nicht verwenden, ich streiche es nicht, denke vielmehr - auch wenn es nicht präzise sein sollte - welches Wort wäre für diesen Roman zu verwenden? Es verbleibt kein anderes.

Schweigen wir, lassen wir kurz einige Sätze, die seinem Roman als Anfang dienen, ein Ende sein:

„Wiederbelebungsversuch. Coney Island 1940. Einer, beim Baden verunglückt, liegt am Strand, in der unteren Mitte des Bildes, in eine Decke gehüllt, ein Beatmungsgerät auf dem Mund, zwei in weißen Kitteln beugen sich über ihn, in Badehosen die Retter, einer mit einem weißen T-Shirt und Mütze, der Strandwächter, stehen dabei, dahinter, vor einem Holzkai, der im Dunst des Sommertages mit dem schmalen Streifen verschmilzt, eine Menschenmenge, die in die Kamera schaut. Das Meer sieht man nicht. Der Tote hat keinen Blick für mich. Doch hinter ihm kniet ein Mädchen im Badeanzug und lächelt. Ist hübsch. Kniet zwischen den weißen Kitteln in der Mitte des Bildes, und als ich mich in ihrem Bild verfange, gruppiert sich plötzlich alles, selbst der Tote, so, daß mein Blick ihr zufällt. Keiner der Umstehenden bemerkt, daß sie den, der vor ihr liegt, mit ihrem Lächeln umbringt. Ich kenne sie. Das ist die aus der Geschichte. Aus dem, was war.“

Frank Mühlich

Thomas Hettche, Ludwig muß sterben. Roman. Suhrkamp Verlag, 180 Seiten, 26 DM.