Epitaph auf die Schwulenbewegung

Jubiläen sind rituelle Akte, in denen eine Geschichte sich selbst mumifiziert, die, im Wiederholungszwang erstarrt, Geschichte erst noch werden muß; das durch die runde Zahl 200, 40, 20 - verordnete Gedenken ist das Sakrament der Vorgeschichte. Der 20-Jahre-Stonewall-Rummel, das neuerliche Hochschnellen der noch immer flauen Demonstrationsbeteiligung bezeugt zunächst und vor allem einmal dies: Die Schwulen und ihre Bewegung sind längst integrierter Bestandteil jener „kontinuierlichen Katastrophe“, die zu sprengen einst vielleicht noch ihr Ziel gewesen war.

In San Francisco gibt derzeit die schwul-lesbische Metropolitan Comunity Church ein Gesangbuch heraus, in dem neben Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten auch Stonewall in die Reihe fester religiöser Feiertage erhoben worden ist. Ganz so weit geht es hier noch nicht - aber eine homosexuelle Kirche gibt es schon. In der politischen Praxis freilich ist Stonewall längst zum leeren Ritual verkommen, und der Tanz ums Kalb ist nur noch attraktiv, wenn man es mit dem Fetisch „20 Jahre“ vergoldet. In Hamburg gab es im Jahre19 nach Stonewall schon keine Demonstration mehr.

Die schwule Bewegung ist tot, es lebe das homosexuelle Berufsbeamtentum! - so ließe sich die herrschende Tendenz auf einen Nenner bringen, zu deren Büttel schwule Funktionäre wie Volker Beck und Günter Dworek (vgl. taz vom 24.Juni) sich derzeit machen. Dabei ist ihre Analyse, daß, was an Bewegung übrigblieb, zwischen schwuler Kommerzkultur und Postenschieberei zerrieben wird, gar nicht falsch. Die als Realismus sich verklärende Ergebenheit jedoch, mit der diese Entwicklung nicht nur hingenommen, sondern noch verstärkt und als quasi historische Notwendigkeit legitimiert wird, läßt sich kaum mehr anders deuten, denn als politische Identifikation mit dem Angreifer.

Darin aber geben sie den realen Stand der Schwulenbewegung höchst angemessen wieder, die dem gesellschaftlichen Zwang zum „Erwachsen„-Werden (um ein Bild von Beck/Dworek aufzunehmen) allein dadurch zu entsprechen vermag, daß sie sich ihre Kinderträume von einer alle Kategorien sprengenden, entriegelten Sexualität in einer befreiten Gesellschaft systematisch aus dem Schädel schlägt. Sicher, die Träume haben an Substanz verloren: „Nur eines weiß man genau: Anders muß es sein.“ (Beck/Dworek). Aber sind sie schon deshalb falsch in einem Zustand, in dem selbst die Rebellion noch auf den Status quo vereidigt ist, einer Welt, unter deren Sonne es nichts Neues gibt?

„Der Schwule ist lebendiger Protest“

Noch ist die schwule Identität dem postmodernen Einerlei nicht gänzlich zum Opfer gefallen. Solange es ein „Coming -out“ noch gibt, treibt es einen jener kleinen Sprünge ins stahlharte Gehäuse oder in die „kontinuierliche Katastrophe“. Es ist dieses Selbstbewußtsein des Schwulen, jene Ahnung, nicht ganz dazuzugehören, worin die normierte Sexualität ihrer realen Beschränktheit innezuwerden vermöchte, sobald sie die Kränkung ihres Ausschließlichkeitsanspruches zuläßt. Die auf Heterosexualität reduzierte Sexualität ist falsch, ihre postulierte Allgemeinheit in Wahrheit partikular. Der Schwule ist der lebendige Protest gegen diese Lüge und befindet sich so in der Gesellschaft aller Perversen.

Aus diesem unfeinen Milieu auszubrechen, die Fronten zu wechseln hinein in die Welt der Normalen, ist das Ziel einer homosexuellen „Reformpolitik“, wie sie Beck und Dworek vorschwebt. Indem solche Integration die Homosexualität um die letzten Reste ihrer subversiven Kraft betrügt, vollstreckt sie doch zugleich eine reale gesellschaftliche Tendenz: die Aufhebung der Homosexualität als gesonderte Kategorie; die in Ansätzen bereits wirkliche Auflösung einer aufs Geschlecht fixierten sexuellen Orientierung.

Schwule Realpolitik im Kern illusionär

Schwule Identität ist im geschichtlichen Entfaltungsprozeß der Sexualität ein, um mit Hegel zu sprechen, „verschwindendes Moment“. Ironisch gründet so die „Reformpolitik“ auf der allmählichen Realisierung einer jener Kinderträume der Bewegung, welche die Reformpolitiker so heftig attackieren. Umgekehrt aber etabliert sich die Homosexualität - man denke etwa an das in Planung befindliche Berliner Referat für gleichgeschlechtliche Lebensweisen - genau in dem Moment, wo es sie, wohlgemerkt, tendenziell, schon nicht mehr gibt.

An der List solcher Unvernunft erweist die schwule „Realpolitik“ ihren im Kern illusionären Charakter. Absehbar ist der Zeitpunkt, da es „die Schwulen“ nur noch als verwaltungstechnische Einheit, als Registrierchiffre staatlicher Institutionen geben wird - reiner administrativer Schein.

Mit schwulenpolitischen Ladenhütern hausieren

Dem, was als schwule Politik heute betrieben wird, entspricht - darin ist Beck und Dworek zuzustimmen - längst keine konkrete Wirklichkeit mehr. Den schwulen Akteuren ist die Basis abhanden gekommen, sie bewegen sich auf einer Ebene des politischen Handelns, die mit dem realen Leben von Schwulen kaum mehr etwas zu tun hat. Der „gewöhnliche Homosexuelle vom Land“ dient nur noch als Konstrukt, um weitergehende politische Forderungen abzubügeln, die man ihm, wie es heißt, nicht mehr verständlich machen könne. So landet schließlich auch der kühne rot-grüne Weg in die neunziger, den Beck und Dworek als allein zukunftsträchtig ausgeben, bei den schwulenpolitischen Ladenhütern der ansonsten so geschmähten Bewegungsvergangenheit: Streichung des Paragraphen175, Antidiskriminierungsgesetz und Anerkennung homosexueller Lebensgemeinschaften. Es gibt tatsächlich nichts Neues unter der Sonne.

Dabei hat sich die Diskussionslage um den Paragraphen175 in der Tat verändert, seit die Bereitschaft, ihn zu streichen, bereits Teile der CDU erfaßt hat (vergleiche Zwischenbericht der Aids-Enquetekommission). Die Beseitigung des Paragrapehn wird hier allerdings als Maßnahme zur Aids-Prävention verstanden und an die Festlegung einer für alle gemeinsamen sogenannten „Schutzaltersgrenze“ geknüpft. Dieser Erfolg schwuler Gleichstellungspolitik führte erstmals dazu, daß nun auch lesbische Sexualität kriminalisiert werden könnte.

Daran dürfte nun endgültig deutlich werden, was Teile der von Beck und Dworek gescholtenen radikalen Schwulenbewegung schon immer gesagt haben: Der Paragraph175 ist nicht primär eine Angelegenheit von Minderheits- und Antidiskriminierungs -, sondern von Sexual- und Strafrechtspolitik. Die Debatte um ihn ist zu führen nicht als homosexuelle Gleichstellungsforderung, sondern im Kontext einer Problematisierung sozialer Kontrolle durch Strafrecht nicht nur im Bereich der Sexualität. Hier ist dann der Zusammenhang mit den anderen Perversen, den Pädophilen und Exhibitionisten etwa, die das StGB kriminalisiert, sofort hergestellt.

Die von Beck und Dworek forcierte Kampagne „Den Paragraphen175 ersatzlos streichen - jetzt!“ bleibt daher nicht nur hinter einer Diskussion zurück, die sich längst nicht mehr um das „ob“, sondern um die Bedingungen einer Streichung zu drehen hätte. In einer auf bloß schwule Gleichstellung reduzierten Debatte vollzieht sich vielmehr auch die Ablösung aus dem Kontext der Ausgestoßenen und Perversen, die Tilgung des letzten subversiven Restes an der Homosexualität.

Sexualpolitische Wende grüner Funktionäre

Konkret wird dieser Übertritt der Schwulen in die Welt der Normalität stets, wo sie den Pädophilen ihre Solidarität aufkündigen - und die isolierte Forderung nach Streichung allein des Paragraphen175 ist bereits nichts anderes! Kein Wort des Protestes ließen die grünen schwulen Funktionäre Beck und Dworek vernehmen, als im April diesen Jahres der Bundeshauptausschuß der Grünen beschloß, die Forderung nota bene: bereits die Forderung! - nach Abschaffung des Sexualstrafrechts oder der Paragraphen174 und 176, „wie sie von Teilen der Schwulenbewegung diskutiert wird“, für „völlig inakzeptabel“ zu halten. Diese sexualpolitische Wende fügt sich nahtlos in die rot-grünen Visionen einer neuen schwulen Realpolitik für die neunziger Jahre. In einer drohenden Ampelkoalition werden Grüne und FDP von links und rechts die SPD in die Zange nehmen und vielleicht tatsächlich die Streichung des Paragraphen175 bei gleicher Schutzaltersgrenze von 16 Jahren erreichen - das ist dann der Kompromiß, gegen den wir die nächsten 20 Jahre anrennen.

Die grünen Realschwulen sind - darin mal wieder Vorreiter der herrschenden Tendenz - von ihren sozialdemokratisch -liberalen Genossen kaum noch zu unterscheiden; eine spezifisch grüne Schwulenpolitik, in der die Forderung von Pädos unter anderem zumindest noch diskutierbar sind, gibt es nicht (mehr?). Während aber so die Grünen innerhalb der Schwulenbewegung gänzlich profillos bleiben, werden die radikalen Schwulen an den Rand der Partei gedrängt, wo sie im Verein mit den letzten wackeren Streitern gegen das Knast - und Strafsystem ihre Forderung nach Abschaffung des Sexualstrafrechts nochmals radikalisieren und eine Beseitigung des Strafrechts überhaupt verlangen, oder sie wandern ab ins „autonome Spektrum“. Die Realpolitiker haben die Genugtuung, es immer schon gewußt zu haben: Visionen und Kinderträume sind eben nicht „politikfähig“.

Den schwulen Erwachsenen gegenüber bleibt nur die Rolle der politischen Spinner - sie aber wäre so auszufüllen, daß der Sprung im erstarrten Kontinuum geschichtlichen Grauens vorangetrieben wird, bis es zerbricht. Kraftzentrum der Rebellion ist der Schmerz beschnittener Lust, deren Erinnerung unsere Kinderträume entwerfen; Eingedenken der verschütteten Möglichkeit. Je weniger „politikfähig“ dies, je weniger Politik dazu mehr fähig ist, desto unverzichtbarer wird es, daß Schwule ihre Träume gerade dort einklagen, wohin sie nicht gehören, desto wichtiger, der Möglichkeit einen vielleicht lächerlich-infantilen Ausdruck zu verleihen. Die subjektive Sehnsucht ist das negative Modell des objektiven Glücks; am individuellen Traum hat daher die ganze Wirklichkeit, Vergangenheit und Zukunft einen Anspruch, er ist kein Privatvergnügen. Falsch ist daher eine Politik, die das für „politikunfähig“ hält.

...diese Welt unsere

Welt nicht ist

Schließlich geht es nicht darum, der reinen schwulen Identität halber „Rahmenbedingungen für fortschreitende Emanzipation“ (Beck/Dworek) zu verhindern, sondern die geschichtliche Erfahrung im Gedächtnis zu bewahren, daß jene, solange sie ihrerseits im Rahmen einer „kontinuierlichen Katastrophe“ steht, mit fortschreitender Repression stets verwoben bleibt. Daß in allem Fortschreiten wirklicher Fortschritt noch nicht stattgefunden hat, ist in den Prozeß der Emanzipation selbst noch einzubeziehen, damit sie einmal gelinge und nicht immer wieder das Alte im neuen Gewande wiederhole. Um reale Politik geht es dabei allemal, aber um eine solche, die ihrer selbst so weit wie möglich bewußt, erwachsen genug ist, um die eigene Kindheit, das ersehnte ungelebte Leben nicht krampfhaft abwehren zu müssen.

Dem Schwulen ist die Ahnung, der Welt abhanden gekommen zu sein, in den Leib gebrannt. Doch je weiter Homosexualität integriert, ein Teil der Welt wird, desto unaufhaltsamer verliert das Gefühl der Fremdheit seine körperliche Basis, löst sich ab vom Leib, verschwindet oder bewahrt sich in einem, wenn man will, ästhetischen Moment. In ihm sublimiert sich der Schmerz, daß die Welt noch immer fremd, unsere Welt nicht ist, zum Impuls für eine Wahrnehmung aus der Perspektive der Opfer, zu denen die Schwulen bald vielleicht nicht mehr gehören.

Dieses sich ablösend verflüchtigende Moment an der Homosexualität ist es, was ihr allein noch politische Relevanz verleiht - ein „verschwindendes Moment“, das der Rettung bedarf. Der Rest ist schwules Lobbyistentum, basierend auf dem realen Schein, in Parlamenten und Kabinetten würde Politik gemacht, Wirklichkeit gestaltet. Gegen solche Illusionen wirkt, was sich an schwulen Kinderträumen formuliert, geradezu handfest und konkret. Der Wunsch, daß einmal alles anders werde, ist noch in dieser Abstraktion realer als die realpolitische Resignation.

Stefan Etgeton