Die "Rechte des Arsches" erkämpfen: 20 Jahre Christopher-Street-Day/Wohin geht die Schwulenbewegung der neunziger Jahre?/Es geht um mehr als das hilflose Anprangern von Diskriminierung

24. Juni 1989: 20 Jahre Christopher-Street-Day. (Beinahe) 20 Jahre hat damit auch die neuere deutsche Schwulenbewegung bereits auf dem Buckel. Erwachsen geworden ist sie trotzdem lange noch nicht, zeigt dafür aber in weiten Teilen einen bemerkenswert hartnäckigen Altersstarrsinn. Das Herbeten von Glaubensbekenntnissen aus den 70er Jahren ersetzt weitgehend die notwendige Auseinandersetzung mit den Problemen und Aufgaben, die sich in den 90er Jahren stellen:

Die Schwulenbewegung habe „vergessen, das Bild einer anderen Gesellschaft zu entwickeln, in der wir wie auch alle anderen Menschen selbstbestimmt und selbstbewußt leben könnten“, heißt es in diversen Aufrufen zum schwulen Kampftag. Die Schwestern der Revolution sind bescheiden geworden, nur noch ein Bild will man sich machen von dem, was da kommen soll. Nur eines weiß man genau: Anders muß es sein. Aus dem hier und heute hat man sich verabschiedet. Der Schwulenbewegung mangelt es offensichtlich an konkreten Perspektiven, an Strategien und Umsetzungswillen.

Historische Erblasten

Dabei erscheint die BRD bis heute als schwulenpolitisches Entwicklungsland - obgleich die Schwulenbewegung in manchen Städten durchaus Erfolge verzeichnen kann, freilich bei einem deutlichen Nord-Süd-Gefälle. Während anderswo in Nord und Westeuropa strafrechtliche Sonderbehandlungen wegfielen, von Parlamenten und Regierungen eine in vielen Bereichen explizit schwulen- und lesbenfreundliche Sozialpolitik erkämpft werden konnte, liegt in der BRD der letzte proschwule „Staatsakt“ 16 Jahre zurück, als 1973 die Sozialliberalen ein weiteres Stückchen des Paragraphen 175 wegreformierten.

Der deutsche Sonderweg in der „homosexuellen Frage“ wirkt bis heute nach. Die Schrecken des Faschismus, die fortgesetzte Homohatz der Adenauer-Restauration, die Totaldiskriminierung von Homosexualität bis 1969 machten es den Nachkriegs-Homophilengruppen unmöglich, eine nach außen sichtbare Politik zu betreiben. Sie blieben klein und zerfielen über ihrer Wirkungslosigkeit. Die in anderen Ländern hart erarbeitete und schließlich fruchtbare Symbiose zwischen den traditionellen Verbänden und den radikalen Aktivisten nach 1969 fand hierzulande nicht statt. Behielten die einen ihre hergebrachte homophile Antichambrierpolitik bei und geraten bis heute in Verzückung, wenn ihnen irgendein FDP-Hinterbänkler auf Anfrage bescheinigt, er sei durchaus bereit anzuerkennen, daß Homosexuelle auch Menschen seien, ging es den schwulen Epigonen der 68er Bewegung bald um alles oder nichts, um die Befreiung aller Subjekte von der Zwangsheterosexualität, um eine repressionsfreie „andere“ Gesellschaft. In steter Sorge, von den linken Organisationen der 70er Jahre auf das Nebenwiderspruchsgleis abgeschoben zu werden, machte man sich auf die Suche nach dem subversiven Gehalt des (Homo-)Sexuellen, stilisierte sich selbst als wandelnden Widerspruch zum System. Wurden die Analysen auch täglich falsifiziert, herrlich identitätsstiftend waren sie doch. So predigte man noch unentwegt über die allumfassende Sexualrepression, als man/frau sich bereits allenthalben unter dem neuen sanften Diktat der permanenten sexuellen Konsumtion mehr oder weniger vergnügte. Unter der Zerschlagung der Kleinfamilie, der Ehe und der Abschaffung des Sexualstrafrechts wollte man's nicht tun. Reformschritte durchzukämpfen, die bessere Rahmenbedingungen für Homoemanzipation schaffen könnten, dafür sind sich viele Schwulenfunktionäre auch heute noch zu fein. „Systemstabilisierend, integrationistisch“ lauten die Bannsprüche. Daß den „gewöhnlichen Homosexuellen“ solcherlei am Arsch vorbei ging, fiel zwar auf, aber daß die das falsche Bewußtsein haben, dessen war man sich ohnehin sicher.

Selbst die Aktionsformen sind entpolitisiert. Das große Tabu (so ein Buchtitel von 1967 zum „Problem der Homosexualität“), das aufzubrechen sich die Schwulenbewegung ab 1969 auf den Weg machte, es ist zerbröckelt. Zwischen den Trümmern findet sich die Bewegung nicht mehr zurecht. Schwule sind bis in die Lindenstraße vorgedrungen, die Tunte im Parlament regt (außer einige Ewiggestrige in den eigenen Reihen) niemanden mehr auf, falls sie ansonsten politisch wirkungslos bleibt. War es 1978 noch aufrüttelnd (für die Beteiligten nicht minder als für das Publikum), daß 682 Schwule sich im 'Stern‘ öffentlich bekannten, so kann man heute nur noch amüsiert lächeln, wenn im 'Wiener‘ 1989 einige Schwule ihr schönstes Coming-out-Erlebnis erzählen dürfen.

„Schwulsein ist politisch“, die einfache Gleichung verfängt nicht mehr. Coming-out, Anfang der 70er Jahre eine Provokation und für die Aktivisten elementares Befreiungserlebnis, wird freilich von allen Jungschwulen immer wieder neu erlebt und erarbeitet, als politische Strategie reicht die Parole „Mach dein Schwulsein öffentlich“ nicht mehr aus. Wenn ausgerechnet in West-Berlin den Organisatoren der Christopher-Street-Demo kein politischeres Motto einfällt, als „Schwule zeigen sich“, dann muß sich niemand wundern, wenn's vom Straßenrand nur noch müde „Schwul? - Na und“ zurückruft.

Schwulenpolitik 1989

Kein Wort gegen eine aktionsorientierte Politik. Wenn die Fummel um uns rauschen, lacht das Tuntenherz. Nur, als Selbstzweck sind die Schwulenmärsche leeres Ritual, auch wenn zum Abschluß wortgewaltig die Diskriminierungsliste heruntergebetet und der altbekannte Forderungskatalog wieder durchdekliniert wird: Rosa Listen weg, Entschädigung her.

Freilich, alle Forderungen sind berechtigt, die Diskriminierungen gibt es. Aber sie sind zu bekämpfen, nicht bloß zu bejammern. Die Schwulenbewegung steht heute vor der Aufgabe, ihren bürgerrechtlichen Forderungskatalog umzusetzen, in den sich anbahnenden politischen Umwälzungen muß sie ihre Chancen nutzen. So unsicher die Aussichten auf Rot-Grün 1990 heute auch noch sein mögen, mit einer solchen Konstellation eröffnen sich zum ersten Mal auf Bundesebene Optionen, eine explizit proschwule Politik durchzusetzen. Das zeigen - in freilich recht vagen Absichtserklärungen die Koalitionsvereinbarungen in West-Berlin und Frankfurt. Erstmals ist auch die SPD zögerlich bereit, Sexualpolitik im weitesten Sinne als Politikfeld zu begreifen, erstmals findet im Entwurf des neuen SPD-Grundsatzprogramms Politik für Schwule und Lesben Erwähnung. Mit der Debatte um Gleichberechtigung und Frauenemanzipation hat sich in Teilen der Sozialdemokratie vor allem bei den SPD-Frauen ein neues, wacheres Bewußtsein für Ungleichbehandlungen und Diskriminierungen gebildet.

Wir stehen vor einem Scheideweg: Nicht nur das gesellschaftliche Tabu um Homosexualität ist zerbröckelt, sondern auch das politische. Zeigten sich Regierungen und Institutionen lange Zeit gegenüber Schwulen und Lesben schlicht indifferent, reagierten weder auf deren Forderungen noch entschlossen sie sich zu größeren Repressionsakten, kann heute auch die offizielle Politik die Existenz von Homosexuellen nicht länger ignorieren. So zynisch es klingen mag: Aids hat hier Türen aufgestoßen, hat neue Voraussetzungen für die Schwulenbewegung geschaffen: PolitikerInnen waren gezwungen, Stellung zu beziehen. mittlerweile hat jede Partei ihre spezifische Homosexuellenpolitik, im Guten wie im Schlechten.

Für die staatliche Homosexuellenpolitik der 90er Jahre exisitieren in Europa zwei Modelle: Zum einen das von Maggie Thatcher initiierte reaktionäre „Programm gegen nationale Dekadenz“, die Einführung der Clause 28 in das Local Government Bill, die den britischen Kommunen jedwede Unterstützung von Schwulen- und Lesbenbewegung als „Förderung der Homosexualität“ untersagt. In der BRD schlägt bislang nur CSU-Bayern den gleichen Weg ein. Nicht allein durch den berüchtigten Aids-Maßnahmenkatalog, sondern auch durch eine ganze Reihe weiterer administrativer Maßnahmen hat die bayerische Staatsregierung Schwulen und Lesben den Kampf angesagt, versucht das propagierte „Ausdünnen der Homosexuellen-Szene“ in die Tat umzusetzen. So wurde zum Beispiel allen bayerischen Schwulen- und Lesbenvereinen die Gemeinnützigkeit aberkannt, per Gerichtsbeschluß will die Staatsregierung der Stadt Nürnberg untersagen, Schwulenvereine aus kommunalen Mitteln zu fördern, da dies verfassungswidrig sei. Die Haltung der CDU ist weit weniger stringent. In Teilen der Christdemokraten ist mittlerweile die Frage der Streichung des Paragraphen 175 StGB zumindest unter dem Vorzeichen Aidsprävention diskutierbar. Ob die vom Modernisiererflügel in der Union betriebene Öffnung, die Bemühungen, in der Debatte um Aids und Homosexualität zumindest Demagogie zu vermeiden, sich nach den jüngsten Wahlniederlagen und den Erfolgen der Rechtsextremisten durchsetzen können, scheint eher zweifelhaft.

Das andere Modell, in Westeuropa und Skandinavien praktiziert, wäre nach gängiger Terminologie wohl als „integrationistisch“ zu bezeichnen: Aufhebung von antihomosexuellen Sonderbestimmungen im rechtlichen Bereich, eine aktive Gleichstellungspolitik für Schwule und Lesben im gesellschaftlichen Leben, Förderung schwul-lesbischer Infrastruktur und Kultur: kurzum eine Reformpolitik, die versucht, bessere Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für fortschreitende Emanzipation von Schwulen und Lesben zu schaffen, die letztlich die bislang elitäre Homosexuellenemanzipation demokratisiert.

Emanzipatorische Reformpolitik

als rot-grünes Projekt

Nimmt die Schwulenbewegung sich ernst, muß sie nun die Eckpunkte einer solchen emanzipatorischen Reformpolitik für die Bundesrepublik formulieren und in der gesellschaftlichen Debatte um „Rot-Grün“ verankern. Umsetzung ist gefragt, eine neue Qualität von Schwulenpolitik, die über das hilflose Anprangern von Diskriminierung hinauskommt. Gleichstellung, Gleichberechtigung von Schwulen und Lesben muß ein Projekt von „Rot-Grün“ werden. Ersatzlose Streichung des Paragraphen 175, ein Antidiskriminierungsgesetz zur gesellschaftlichen Gleichstellung und die Anerkennung von schwulen und lesbischen Lebensgemeinschaften sind die wichtigsten Punkte. Und natürlich bedarf es schwul-lesbischer ReferentInnen und BeamtInnen, die sich hauptamtlich der Emanzipationsarbeit widmen.

Sicher eine traurige Utopie für diejenigen, die bislang das Homoglück in einer grundsätzlich „anderen Gesellschaft“ irgendwo jenseits des Regenbogens, ohne Sexualstrafrecht und Ehe suchen. Tatsächlich müssen für Homosexuelle aber erst mal die mitunter faden Verheißungen bürgerlicher Freiheiten durchgesetzt werden. Es besteht in manchen Bereichen ein Nachholbedarf von 200 Jahren.

Schwulenpolitik darf nicht arrogant über die Ungleichzeitigkeiten hinweggehen, die für die jeweils individuelle Situation Homosexueller, und damit auch für ihren „Emanzipationsgrad“ kennzeichnend sind. Ein einig Volk von Schwulen gibt es nicht. Während in den Metropolen sich offen schwules Leben relativ unbehelligt entfalten kann, müssen Schwule und Lesben aus dem flachen Land oftmals weiter versteckspielen. Die Situation am Arbeitsplatz, das nach wie vor prekärste und gefürchtetste Diskriminierungsfeld, stellt sich für den schwulen Kunsthistoriker, den homophilen Staatsminister und den schwulen Automechaniker jeweils grundverschieden und widersprüchlich dar. Anstatt niedrigschwellige Angebote zu machen, der „Schwulengewerkschaft“ wenigstens als stilles Mitglied beitreten zu können, versuchte sich die neuere deutsche Schwulenbewegung lange mit der Emanzipation via Brechstange.

Denn eines war ihr von Anfang an klar gewesen, ihre soziale Basis lebt, empfindet und denkt falsch: Die Schwulen lassen sich von einer kommerzialisierten Subkultur ausnehmen, zeigen wenig Neigung, sich unter dem Banner der Verheißung einer „anderen Gesellschaft“ auf den langen Emanzipationsmarsch zu begeben, wünschen sich - wenn überhaupt - eher konkrete Verbesserungen ihrer gesellschaftlichen und rechtlichen Situation. Manche, so scheint es, wollen gar eine Anerkennung ihrer Partnerschaften, die dann natürlich nur eine „Imitation der bürgerlichen Ehe“ sein können, für den traditionellen Schwulenbewegten das absolute Schreckgespenst. Angesichts des tiefen Bruchs zwischen dem gemeinen Schwulen und seiner Bewegung ist es nicht verwunderlich, wenn es bisher nicht gelang, Homosexuelle in schlagkräftigen Verbänden zu organisieren.

Entscheidend ist, ob sich die Schwulenbewegung dazu aufraffen kann zu akzeptieren, daß unsere Homos nicht so kulturrevolutionär sind, wie wir sie gerne hätten, daß die homosexuelle Frage in erster Linie eine der Bürgerrechte ist und daß damit zum Beispiel auch jenes eine Recht zu erkämpfen ist, das es zwei Trinen möglich macht, ganz in Weiß aufs Standesamt zu ziehen.

Emanzipatorische Reformpolitik, hin zu einer umfassenden Gleichstellung - gewiß, nicht das Endziel schwulenpolitischen Begehrens, aber ein Etappenziel, für das es sich zu arbeiten lohnt - und zwar nicht erst nach dem Wahltag. Erfahrungsgemäß müssen SPD wie Grüne trotz allerlei programmatischer Aussagen zum Jagen getragen werden. Es hilft auch wenig, wenn bei Koalitionsverhandlungen einige Gesetzesentwürfe klammheimlich in den Hinterzimmern beschlossen werden. Diskriminierung ist nicht mit einem Federstrich zu beseitigen, sie spukt in den Köpfen. Deutlich wahrnehmbare Signale einer Politik für Schwule und Lesben sind erforderlich, öffentlich verhandelt in der gesellschaftlichen Debatte. Einmischung und Parteinahme, nicht Selbstghettoisierung sind gefragt. Parlamente können zwar die „droits de cul“ (Rechte des Arsches) anerkennen, wie Friedrich Engels 1869 zu Unrecht fürchtete, als der Norddeutsche Reichstag über den Paragraphen 175 debattierte, erkämpfen und realisieren müssen wir sie schon selbst.

Volker Beck arbeitet als Schwulenreferent bei den Grünen im Bundestag, Günter Dworek ist Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft Schwulenpolitik der Grünen