Mauersprung von West nach Ost

■ Massenflucht, einmal andersherum, bei der Räumung des besetzten Kubat-Dreiecks in West-Berlin

Der Berliner Senat konnte den Gebietsaustausch mit den DDR -Behörden kaum noch erwarten. Gerade fünf Stunden gehörte das Kubat-Dreieck (früher Lenne-Dreieck) gestern zu West -Berlin, da ließ Innensenator Kewenig (auch „der Landvogt“ genannt) das besetzte Gelände räumen.

Applaus brandet auf von der Aussichtsplattform am Potsdamer Platz, von der sonst Touristen ihren Pflicht-Blick über die Mauer werfen. Er weht hinüber zu den Kolonnen oliv uniformierter Polizei, die - es ist sieben Uhr in der Frühe

-aus dem eroberten Hüttendorf schon wieder abrücken. Es sind einige BesetzerInnen, die die Räumung vorsichtshalber von außen beobachtet hatten, die sich jetzt auf der Plattform drängeln und den Rückzug der Polizei beklatschen. Doch die abmarschierenden Uniformierten deuten das anders: In Siegerpose strecken sie ihre Plastikschilde dem Publikum entgegen - manche auch den Helm, den sie nun wieder lüften dürfen. Doch auch auf der Plattform - hier schwenkten einige während der Räumung unverdrossen die Piratenflagge des Dorfes - ist man noch zufrieden mit sich und der Welt. „Haben wir doch gut hingekriegt.“ Alles blieb ganz friedlich, kaum Festnahmen gab es bis jetzt, keine Flucht in die Arme der Polizei war nötig, das Medienecho wird riesengroß. Ein Sieg für beide Seiten? Die Kontrahenten BesetzerInnen einerseits, Polizei andererseits - hatten ihre Strategien fein aufeinander abgestimmt, ohne jede Vermittlung.

Das Plenum der „Platzgruppe“ im Dorf hatte sich am Donnerstag abend auf „taktische Gewaltfreiheit“ verständigt. Die „Hardcore„-Fraktion hatte den Platz zum größten Teil längst verlassen: Sie hatten Festnahmen besonders zu befürchten. Die Dagebliebenen wußten: Ab Mitternacht Zeitpunkt des geplanten Gebietsaustausches - hatte die Polizei, allemal der Stärkere, den Zugriff auf das Gelände. Die Besetzer organisierten für den Notfall den Rückzug - in Richtung Osten. Einen drei Meter breiten Streifen vor der Mauer, der weiter zu Ost-Berlin gehört, zäunten sie ab. Hierhin wollten die BesetzerInnen sich rechtzeitig flüchten, um von dort die Mauer zu erklimmen.

Am Abend vor der Räumung holten die Dörfler Nachschub für ihre Holzleiter: mehrmals rissen sie vor dem Dorf große Stücke aus dem Polizei-Zaun. Daß die Nacht dennoch ruhig blieb, lag nicht nur an strategisch denkenden BesetzerInnen, die über Megaphon an die „taktische Gewaltfreiheit“ erinnerten. Die Polizei ihrerseits wich samt Wasserwerfer kurz nach null Uhr, also nach dem Vollzug des Gebietsaustausches mit Ost-Berlin, zurück. Schließlich war Ruhe - abgesehen von dem dumpfen und klirrenden Trommeln auf Bongos, Töpfen und Müll-Containern, mit dem einige Dorfbewohner ihre Leute wachhielten und den Einsatzleiter nervten.

Um fünf Uhr kamen sie dann plötzlich in Schwärmen und von allen Seiten - gut informiert. Auf der Drei-Meter-Zone vor der Mauer, die weiter zu Ost-Berlin gehört, drängelten sich etwa 250 Dörfler. „Sich in Richtung Brandenburger Tor entfernen“, wie die Polizeidurchsage empfahl - das wollte keiner. Hinten war die Polizei, vorne die Mauer. „Ey, er sagt, wir können alle rüber“, ruft eine Frau, die schon rittlings auf der Mauerkrone thront. Ein Fahrrad wird noch in den Osten gehievt, und einer nimmt sogar seinen Dalmatiner-Hund unter den Arm.

Die DDR, dein Freund und Helfer. LKWs fuhr sie direkt vor die Mauer, Gebäck und Tee servierte sie anschließend. Das Hüttendorf hatte sie fast von Anfang an toleriert. Ein Mitglied der SEW, West-Berliner Gegenstück zur DKP, erläuterte gestern früh an der Mauer, was die Ost-Kraftwagen in erster Linie in Bewegung setzen sollten: „Wenn die Amis heute im Fernsehen das mit den Mauerspringern sehen, dann können die doch die ganze Mauerscheiße vergessen. Das schmeißt doch für die alles um.“

Eine Chance war dem Dorf am Schluß einfach nicht gelassen worden. Vermittlungen und Verhandlungen, die den Dörflern einen Gesichtsverlust erspart hätten, lehnte die im Senat tonangebende CDU bis zum Schluß strikt ab. Da blieb für die Bewohner von Kubat-Land nur der Weg über die Mauer. Nach Sympathie-Punkten haben sie jedoch sicherlich gewonnen. Weil sie mit der Besetzung dieses Landstücks gegen ein Straßenprojekt und für die Natur protestierten, hatten sie viele auf ihrer Seite: „Endlich interessiert sich die Kreuzberger Szene mal für was anderes als ihren eigenen Kiez“, freuten sich zum Beispiel AL-Sympathisanten, auch wenn eingefleischte Umweltschützer die Forderung nach einem „Wohnrecht“ in dem wertvollen Biotop nicht unbesehen unterstützen wollten. Und wie offensichtlich Senat und Polizei den Konflikt eskalieren ließen, konnte in den fünf Wochen Dorfgeschichte jedermann verfolgen. Die Idee, ein Niemandsland als autonomes Dorf zu nutzen, fanden viele genial. Und der Sprung über die Mauer sicherte den Platz in der Weltpresse. Sicher ist das nicht zu unterschätzen, auch wenn der Wunsch unerfüllt bleibt, den einige noch einmal im Plenum am Donnerstag äußerten: „Der Staat kann sich doch überall durchsetzen. Wir wollen auch ein Stück Land haben, wo wir uns durchsetzen können.“ Gestern früh an der Mauer lockte ein anderer Ruf zum Sprung: „Ey komm, du kommst ins Fernsehen!“

Hans-Martin Tillack