„Wir handeln selbstmörderisch“

Alles wandelt sich, und er hat sein Notizbuch dabei: Ryszard Kapuscinski, der Reporter des Jahrhunderts, über das wachsende Selbstbewusstsein der Dritten Welt, den Mangel an westlichem Respekt und warum er immer noch sein Leben riskiert

INTERVIEW ROBERT MISIK

taz: Als Sie begannen, in die Dritte Welt, nach Afrika zu reisen, war das die pathetische Ära von Entkolonisierung und Unabhängigkeit. Heute ist das eine vergessene Epoche, nicht wahr?

Ryszard Kapuscinski: Oh ja, das war eine Zeit großen Enthusiasmus, eines massenhaften Enthusiasmus. Fiesta! Das war die allgemeine Stimmung. Das war in der Mitte der Fünfzigerjahre. Ghana hat damals als erstes Land des subsaharischen Afrikas die Unabhängigkeit erhalten. Die Erwartungen waren natürlich naiv – die Leute dachten, wenn sie einmal unabhängig wären, würde alles besser. Auf die Phase des „afrikanischen Optimismus“ folgte die des „afrikanischen Pessimismus“. Eine Reihe von Staatsstreichen, die Regierungen erwiesen sich als schwach, Trockenheiten, Hungersnöte. Die ganze Stimmung hatte sich geändert, man sah, dass die postkolonialen Staaten nicht funktionierten.

In den Neunzigerjahren, mit dem Ende des Kalten Krieges, kamen wir in die dritte Phase: Die Weltmächte waren plötzlich nicht mehr an Afrika interessiert. Entwicklungshilfe versiegte, Experten aus fortgeschrittenen Ländern verließen den Kontinent, er wurde immer mehr vernachlässigt. Vielleicht kommen wir nun in eine neue Phase, die des „afrikanischen Realismus“ – ohne Illusionen. Es gibt Länder in Afrika, die sind arm, aber dennoch stabil, sie funktionieren. Und dann gibt es Länder wie Kongo, Liberia, Sierra Leone, die Elfenbeinküste, Somalia – Länder, die praktisch zerfallen.

Aber nicht nur die Stimmung in Afrika hat sich gewandelt – mindestens so sehr hat sich die Perspektive geändert, die die westliche Welt auf die Dritte Welt hat. Früher hatte man noch eine Idee von Fortschritt. Heute betrachtet die Erste Welt die Dritte Welt nur mehr als Sicherheitsproblem.

Jetzt wiederholt sich praktisch die Konstellation aus Zeiten des römischen Imperiums. Zwischen den entwickelten Ländern und den unterentwickelten entsteht ein regelrechter Limes. Es gibt viele Gesellschaften ohne Hoffnung, ohne Zukunft, die ohne Hilfe nicht existieren können. Aus der Perspektive der entwickelten Länder sind das nur mehr Risikozonen, in die man leider von Zeit zu Zeit intervenieren muss.

Ein Blickwinkel, mit dem man Phänomene von Terrorismus bis Immigration deutet.

Terrorismus, Immigration, Drogenhandel, organisierte Kriminalität: Das ist es, was der Westen heute mit der Dritten Welt verbindet. Das ist die Atmosphäre, die heute das Verhältnis der reichen mit den armen Zonen bestimmt.

Wie würden Sie das charakterisieren: tragisch, gefährlich?

Das ist sehr gefährlich. Wir reden ja von achtzig Prozent der Weltbevölkerung. Die Dritte Welt nur mehr als Sicherheitsproblem zu sehen ist eine selbstmörderische Politik der reichen Länder. Die Menschen in den unterentwickelten Ländern werden kulturell bewusster, selbstbewusster. Sie wollen respektiert werden. Der Mangel an Respekt, mit dem ihnen die reichen Gesellschaften begegnen, macht sie zornig.

Ist dieses Gefühl der tiefen, andauernden Demütigung die Ursache unserer globalen politischen Probleme, dessen, was heute Zusammenprall der Kulturen genannt wird?

Ja, und die Menschen haben ein sehr helles Sensorium. Warum, beispielsweise, werden im Irak nur die westlichen Toten gezählt? Zählen arabische Tote nicht? Für viele ist so etwas eine schreckliche Demütigung. Und sie behalten das im Gedächtnis. So gibt es eine Akkumulation des Zorns, auch des Hasses. Gleichzeitig wächst das kulturelle Selbstbewusstsein, auch die Selbständigkeit dieser Gesellschaften. Wir dürfen nicht vergessen, dass der traditionelle europäische Einfluss, wie er früher in Lateinamerika und in Afrika so stark war, deutlich zurückgeht. Die Leute leben ihr eigenes Leben. Es entstehen auch viele neue Kontakte untereinander. Geschäftsleute aus dem prosperierenden China oder Indien spannen ihre Netze und Wege nach Afrika und Lateinamerika.

Das sind die positiven Elemente …

… positive Beispiele des wachsenden Selbstbewusstseins, einer neuen Identität der Dritten Welt.

Aber es gibt ganze Gesellschaften, die weite Teile ihrer Geschichte nur als eine Geschichte der Demütigungen sehen, wo sich das festfrisst. Das gilt für Afrika, für die arabische Welt und scheint doch die eigentliche Ursache für den Aufstieg des islamischen Fundamentalismus zu sein.

Afrika hat 500 Jahre kolonialer Demütigung hinter sich, darunter 300 Jahre der schlimmsten Demütigung, die man sich vorstellen kann: der Sklaverei. Die hat Afrika entvölkert, wirtschaftlich ruiniert, aber auch die Psyche der Menschen beschädigt. Teile der muslimischen Welt haben ähnliche Gefühle der anhaltenden Demütigung. Diese psychologischen Faktoren sind ganz entscheidend für die Konflikte, die heute grassieren.

Ist der militante Islamismus das große Problem unserer Zeit?

Man muss den Kontext sehen und die Proportionen wahren. Der Islam hat heute 1,2 Milliarden Anhänger und wächst am dynamischsten von allen Weltreligionen, und zwar überall auf der Welt. Es gibt innerhalb der muslimischen Welt ganz, ganz viele verschiedene Tendenzen, eine große, auch kulturelle Vielfalt. Zusätzlich ist die muslimische Welt in zwei große Strömungen, die sunnitische und schiitische, gespalten. Ganz allgemein gab es immer in der Geschichte des Islams zwei Strömungen: eine traditionelle und eine reformorientierte Strömung. Innerhalb der traditionellen Strömung gibt es jetzt eine militante, fundamentalistische Richtung, die den Islam von allen fremden Einflüssen reinigen, purifizieren will. Wogegen sie sich wendet, ist aber gar nicht in erster Linie der Westen, sondern die große Mehrzahl der aufgeklärten Muslime und ihre eigenen, eher weltlichen Regierungen.

Aber ist es nicht möglich, dass eine solche radikale, politische Spiritualität das Erbe des klassischen Antikolonialismus antritt?

Dieser militante Islamismus wird doch nur von kleinen, radikalen Gruppen vertreten, während der antikoloniale Nationalismus ein Gefühl der breiten Massen war. Man kann das meiner Meinung nach nicht vergleichen. Nicht viele Leute im Islam glauben, sie kommen direkt ins Paradies, wenn sie sich und andere in die Luft sprengen.

Sie haben als Reporter immer faszinierende Ereignisse gesucht. Was sind heute die faszinierendsten Trends: der Aufstieg Chinas und Indiens? Lateinamerikas Erwachen? Die Krise der arabischen Welt?

Das Hauptproblem ist: Es gibt ungeheure Entwicklungsschübe, einen ungeheuren Fortschritt. Genauso schnell wachsen die sozialen Probleme. Es gibt mehr Reichtum, mehr Armut. Der Zusammenprall verursacht die Probleme. Wir wissen nicht, wie man dieses Problem beherrschen soll.

Vielleicht gibt es Lösungen auf der lokalen Ebene?

Die können global aber nichts ändern. Alles auf der lokalen Ebene ist sehr schwach, verglichen mit den grandiosen Kräften, die auf globaler Ebene wirken.

Herr Kapuscinski, reisen Sie noch viel?

Ich komme gerade aus Lateinamerika. Ich muss reisen, sonst habe ich keine Vorstellung von der Welt. Alles ändert sich – ich muss das sehen, ich bin verloren, wenn ich es nicht sehe.

Riskieren Sie immer noch Ihr Leben?

Ich habe nie nach der Front gestrebt. Ich gehörte nie zu denen, die von Krieg zu Krieg pilgerten, so des Funs wegen. Nur: Als Korrespondent musste ich auch in die Gefahrenzonen. Doch die Strukturen kriegerischer Auseinandersetzungen ähneln sich, ich fand sie daher nach einiger Zeit uninteressant. Ich bin mehr an den Tiefenströmungen von Gesellschaften interessiert. Aber ich werde Gefahren auch nicht aus dem Weg gehen. Gerade komme ich aus Kolumbien, da gibt es seit 40 Jahren Krieg. Das gibt einem zu denken.

Inwiefern?

Wenn man einen Krieg beginnt, ist es sehr schwer, ihn zu beenden. Ist ein Staat einmal desintegriert, ist es furchtbar schwer, ihn wieder zu stabilisieren.