Familiäres Kapital

Hauptsache, geordnete Verhältnisse:Die Nach-Achtundsechziger Joachim Bessing und Adriano Sack denken über Familien nach

VON KOLJA MENSING

Im Alter von drei Jahren hätte Adriano Sack beinahe seinen Vater erschossen. Ein Foto dieser denkwürdigen Szene, die sich im elterlichen Wohnzimmer ereignete, erschien 1970 im Stern als Teil einer Reportage über „moderne Familien“. Zwischen italienischen Designermöbeln, minimalistischen Blumengestecken und Picasso-Drucken richtet der kleine Adriano in Strumpfhose und Rollkragenpullover einen Spielzeugrevolver auf seinen Vater. Doch während der Soziologieprofessor Fritz Sack und seine Altersgenossen in jenen Jahren radikal mit ihren Eltern abrechneten, fiel der kollektive Vatermord in der folgenden Generation aus. Adriano Sack drückte nicht ab. Stattdessen hat er jetzt ein Buch geschrieben. Es heißt „Elternabend“ und soll erklären, „warum wir lernen müssen, unsere Eltern zu lieben“.

Wir, das sind die Kinder der Achtundsechziger, im weitesten Sinne also die so genannte Generation Golf. „Wir hatten, schlicht gesagt, keinen Gegner“, fasst Adriano Sack noch einmal die Kernaussagen der einschlägigen Literatur zusammen: „Sorglos und konfliktarm wuchsen wir heran und konnten uns daher ausdifferenzierten Debatten über Fernsehsendungen und Markenprodukte widmen. Und stellten, als die Zeiten etwas weniger sorglos wurden, fest, dass wir Mühe hatten, erwachsen zu werden.“ Für Sack liegt der Ausweg aus diesem Dilemma nun weniger in der Beschreibung und Analyse der eigenen Lebenswelt als in der Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern: „Wenn wir ihren Lebensweg studieren, verstehen wir unseren eigenen besser.“

Dieser Weg ist bekanntlich voller Widersprüche. In 22 kurzen Kapiteln und kleinen Anekdoten aus dem Leben von „Lea“ und „Gunnar“, „Björn“ und “Johannes“ erzählt Adriano Sack von Eltern, die „noch von der freien Liebe träumten, als sie bereits ihre Silberhochzeit feierten“, die alle schon einmal an einem Joint gezogen haben, sich aber heute vehement gegen die Freigabe weicher Drogen wehren, und die das Fernsehen zwar für ein „Nullmedium“ halten, aber dennoch niemals die „Tagesschau“ verpassen würden. In den Siebzigerjahren sind sie aus den schwäbischen Dörfern geflohen, nur um später einen alten Bauernhof in der Toskana zu kaufen, und anstatt ihren Kindern Ohrfeigen zu geben, bestraften sie sie mit quälenden Diskussionen am Abendbrottisch.

„Genau das ist das Faszinierende, Charmante und manchmal Unerträgliche an unseren Eltern“, schreibt Adriano Sack, der zum Entsetzen seines Vaters seit zwei Jahren die Kulturredaktion der Welt am Sonntag leitet: „Sie sind Kinder einer modernen Zeit – und können sich von uralten Rollenbildern einfach nicht lösen.“

Es ist also ein ausgesprochen freundliches Bild, das „Elternabend“ von der „Generation der Ewigheutigen“ zeichnet. „Sie sind ziemlich genau die Eltern, die wir im Alter gern wären“, findet Sack, schwärmt begeistert von der „Grundhaltung des kritischen Optimismus“, die die Achtundsechziger sich bis heute bewahrt hätten, und findet, dass sie im Nachhinein alles richtig gemacht haben: „Nicht Abrechnung wäre angebracht, sondern Dankbarkeit.“

Joachim Bessing ist da ganz anderer Meinung. Der 1971 geborene Schriftsteller, der als Herausgeber des Bandes „Tristesse Royale“ rund um das „popkulturelle Quintett“ im Hotel Adlon bekannt geworden war, hat die Achtundsechziger in seinem kämpferischen Essay „Rettet die Familie!“ zum Hauptfeind erkoren. Im Gegensatz zu Adriano Sack und dessen harmlosen Anekdoten aus dem Leben der Generation Dankeschön fährt Bessing schweres Geschütz auf.

Zunächst unternimmt er einen Streifzug durch die Geschichte der Familie und widmet sich dann den Zäsuren des 20. Jahrhunderts: dem Zweiten Weltkrieg („Trümmerfrauen und Männermangel“) und der Studentenbewegung. Von den „1968 erlittenen Beschädigungen am Familiensinn“ sieht er einen direkten Weg zur „familiären Beliebigkeit“ der Gegenwart – und zur Patchwork-Familie, dem „Sammelbecken für die gescheiterten Versuche, ein Leben ohne Familie zu meistern“.

Im Übrigen gehört Joachim Bessing selbst mit seiner Frau, der Schriftstellerin Alexa Hennig von Lange, deren Tochter und einem gemeinsamen Sohn zu einer der mehr als 600.000 Patchwork-Familien in Deutschland. Seine persönliche Unzufriedenheit mit diesem Modell führt dann auch zu einem leicht beleidigten Tonfall, der sich durch das ganze Buch zieht: „Dieses Buch soll der wachsenden Zahl von Leidtragenden einer verfehlten gesellschaftlichen Entwicklung eine Stimme verleihen.“ Bessing, der eine bemerkenswerte Begabung für leicht anstößige Metaphern hat, träumt dann auch von einer „Rückzüchtung der Form“, einem halb biologischen, halb pädagogischen Prozess, der es den Kindern der Patchwork-Familien ermöglichen soll, als Erwachsene wieder „ungebrochene traditionelle Familien“ zu gründen.

Neben einigen hemdsärmeligen Tipps für frisch gebackene Stiefväter hält Bessing offenbar ernst gemeinte Ratschläge bereit, wie auch in Patchwork-Familien der „Familiensinn“ gestärkt werden kann. So gilt es zum Beispiel, „lustvoll und kundig“ zu kochen und nicht „bloß Vorgefertigtes aufzuwärmen“; anstatt „anstehende Probleme lediglich zu schlichten“ sollte eine „Kultur der Auseinandersetzung“ gepflegt werden und selbstverständlich muss „kulturelles Kapital“ zur Verfügung stehen.

Dieses spätbiedermeierliche Idyll mit frisch geriebenem Parmesan und angeregten Diskussionen vor gut bestückten Billy-Regalen unterscheidet sich nun allerdings gar nicht von der vermeintlich heilen Welt der Achtundsechziger und ihrer Nachfahren, die Adriano Sack beschreibt. „Elternabend“ ist voll von solchen rührenden Szenen, in denen der Vater mit dem Sohn angeregt über Marcel Reich-Ranicki und den Neoliberalismus debattiert, drei Generationen am Heiligabend Seite an Seite in der Küche den Teig für die Semmelknödel kneten und Mittedreißigjährige sich kleinlaut dafür bedanken, dass ihre Eltern einst Wert auf musikalische Früherziehung gelegt haben.

So sind „Elternabend“ und „Rettet die Familie!“ vor allem Ausdruck einer neuen, spießbürgerlichen Sehnsucht nach geordneten Verhältnissen. Und natürlich dürfen auch die entsprechenden Schreckensszenarien nicht fehlen. Joachim Bessing sieht mit den zusammengeflickten Lebensgemeinschaften, deren Angehörige nur eine „gemeinsame Aufgabenstellung“, aber kein „gemeinsames Schicksal“ haben, nämlich noch größeres Unheil aufziehen: „Ohne Familien zerfällt ein Staat zu einem Patchwork aus Einzelnen, die, gleich welchen gesellschaftlichen Wertevorstellungen ausgesetzt, sich nach hier und danach dorthin dirigieren lassen“, weiß er, weil er vermutlich früher im Gemeinschaftskundeunterricht immer gut aufgepasst hat.

Als ob das bisschen Individualismus da draußen wirklich das Problem wäre, beschwört dann auch Adriano Sack das Zerrbild einer Gesellschaft, in der es nur noch um „Ego gegen Ego“ geht. Und es ist genau diese pathetische Notstandsrhetorik, die diese beiden eigentlich eher überflüssigen Bücher zuletzt komplett unerträglich macht.

Joachim Bessing: „Rettet die Familie! Eine Provokation“. List, München 2004, 157 Seiten, 12 Euro Adriano Sack: „Elternabend. Über unsere schwer erziehbaren Mütter und Väter“. Blessing, München 2004, 221 Seiten, 17 Euro