Bolivische Provinzen erklären sich für autonom: Die Koalition unter dem Halbmond

Boliviens bürgerliche Opposition fasst in den östlichen Departments Fuß. Präsident Evo Morales versucht, mit einem Abberufungsreferendum die Lage zu deeskalieren.

Demonstration für ein autonomes Department Beni. Bild: dpa

Große Worte. Eine "Neugründung Boliviens" versprach Evo Morales, als er vor zwei Jahren das Präsidentenamt antrat. Mit mehr Rechten für die Ureinwohner - dafür wurde der erste indigene Präsident des Andenlandes auch international gefeiert. Jetzt steht er unter Druck: Am 10. August soll das Volk per Referendum nun über seinen Verbleib oder sein Ausscheiden aus dem Amt entscheiden.

Den Termin für das Abberufungsreferendum hat der Präsident Anfang Mai selbst gewählt - aufgrund eines Parlamentsbeschlusses, der bereits in der Schublade lag. Auch die Präfekten aller Departments stehen zur Abwahl. Damit will Morales in einer festgefahrenen Situation die Bevölkerung zur Grundsatzentscheidung zwingen: zwischen seinem sozialistisch-indigenistischem Programm und dem liberal und regional orientierten Projekt einiger Präfekten. Deren bürgerliche Opposition ist längst nicht mehr begrenzt. Sie hat in allen östlichen Departments Fuß gefasst - dem sogenannten Halbmond. Die Halbmondkoalition will eine ganz andere Neugründung: Sie richtet sich gegen den Linksruck, will Bolivien stärker dezentralisieren, fordert Autonomie für die einzelnen Regionen.

Die Departments Santa Cruz, Beni und Pando befürworteten in eigenen Referenden bereits künftige Autonomiestatute. Am 22. Juni stimmt auch das Department Tarija über seine Autonomie ab. Das an der Grenze zu Argentinien und Paraguay liegende Tarija ist wegen seiner Erdgasvorkommen besonders wichtig. In der Weinbauregion befinden sich 85 Prozent der bolivianischen Erdgasreserven. Ein Großteil der ausländischen Investitionen fließen nach Tarija. Das Andenland verfügt über die zweitgrößten Erdgasvorkommen Lateinamerikas, nach Venezuela. Auch in Tarija findet die Autonomiebewegung viel Zuspruch. Sie ist aber weniger radikal als die in Santa Cruz: Die Tarijenos erkennen die Kernkompetenzen der Zentrale und die Integrität des Nationalstaats stärker an. Das macht ihr Modell kompatibler mit den Interessen in La Paz. Am wichtigsten ist die Bodenfrage: Bei Gesetzgebung und Umsetzung von Land-Themen setzt man in Tarija auf geteilte Zuständigkeiten zwischen Department- und Zentralregierung. Santa Cruz will sich bei der Vergabe von Landtiteln künftig nicht mehr hineinreden lassen.

Noch haben sich keine Teilrepubliken oder gar neue Staaten gebildet. Die Autonomie steht bislang nur auf dem Papier. Bolivien befindet sich damit allerdings erneut am Rande der Regierungsfähigkeit, obwohl Morales mit einer Mehrheit von 54 Prozent gewählt worden war.

Die Wahl des Kokabauern galt als historisch: Zum ersten Mal in der Geschichte schaffte es ein Vertreter der indigenen Mehrheit ins höchste Amt.

Doch die Mischung aus Indigenismus und Sozialismus stieß auf den Widerstand im bürgerlichen Lager. Dieser formierte sich in der Tieflandregion Santa Cruz im Osten des Landes und steckte danach die Departments Beni, Pando und Tarija mit dem Autonomiegedanken an. Tenor: Aufgrund ihrer regionalen Besonderheiten brauchen die Departments Unabhängigkeit von der Zentralregierung in La Paz.

Santa Cruz ist der Boom-Sektor des Landes: 30 Prozent des Bruttoinlandsprodukts werden dort erwirtschaftet - vor allem mit Landwirtschaft und dem Verkauf von Erdöl- und Erdgaserträgen. 34 Prozent aller bolivianischen Exporte kommen aus Santa Cruz. Der größte Teil der Öl- und Ergasvorkommen liegt im Südosten Boliviens.

Santa Cruz fordert Selbstbestimmung bei den Finanzen, der Justiz, der Bildung, der Polizei und der Landverteilung - alle Kernbereiche des Staates sind betroffen. Eine regelmäßig eingesetzte Waffe der Autonomisten ist die indirekte Drohung, Santa Cruz vom bolivianischen Nationalstaat abzuspalten. Lange schwebte dieses Szenario über dem Konflikt. Vom "Kosovo der Anden" war die Rede. Seit Anfang des Jahres betonen cruzenische Politiker jedoch die Unantastbarkeit der Nation: "Autonomie bedeutet die Einheit Boliviens", so der cruzenische Präfekt Ruben Costas auf einer Massenkundgebung im Mai.

Die Autonomie der Departments solle eine Staatsreform einleiten, die ganz Bolivien zugute käme. Der Senatspräsident von der Oppositonspartei Podemos, Oscar Ortíz, sieht darin etwas ganz Natürliches: Es würde neben der Zentralregierung eine "zweite Regierungsebene in den Departments geschaffen, ähnlich wie sie es in Föderalsystemen gibt, beispielsweise in Deutschland", so der Cruzeno. Nicht das "Kosovo", sondern "Bayern der Anden" wäre der passende Vergleich.

In der aktuellen Situation sind die beiden großen Konflikte Boliviens vertreten. Einerseits stehen sich zwei politische Lager gegenüber: Die linke Regierung in La Paz erhöhte die Renten, stellte kostenlose Gesundheitsversorgung bereit und verstaatlichte große Teile der natürlichen Ressourcen und des Kommunikationswesens. Außerdem erhob sie indigene Prinzipien des Hochlands zur Staatsräson - ein symbolträchtiger Streitpunkt.

Die Autonomisten proklamieren die Freiheit des Einzelnen und der Unternehmer. Mit Versprechen von Demokratie, Fortschritt und Wohlstand können sie viele cruzenischen Bürger überzeugen. In ihrer Kampagne kündigten sie die Einführung einer eigenen Krankenversicherung und Wohnungsbauprogramme an. Ab Juli soll in Santa Cruz ein Mindestlohn in Höhe von umgerechnet 90 Euro gelten, gegenüber den von La Paz bestimmten Mindestlohn in Höhe von 52 Euro im Rest des Landes. Dennoch ist auch Santa Cruz von einer modernen Demokratie weit entfernt. Die cruzenische Elite besteht vor allem aus Großgrundbesitzern und Agrarunternehmern, die vom Rechtsstaat wenig halten. Ihre Wirtschaft wächst nicht durch Produktivität, sondern oft durch illegale Ausdehnung ihrer Ländereien. Deshalb müssen sie bestimmte staatliche Positionen besetzen: Sie fordern, dass künftig nicht mehr La Paz, sondern der Gouverneur von Santa Cruz Landtitel vergeben soll.

Es gibt dort auch immer noch Farmen, auf denen indianische Gemeinden erpresst und mit Minilöhnen abgespeist werden. "Gefangene Familien", sagt der Deutsche Entwicklungsdienst vor Ort dazu. Diesen Zuständen hat Morales den Kampf angesagt. Die cruzenische Elite will auch deshalb Autonomie, damit sie die Kontrolle über die rechtsfreien Enklaven nicht verliert.

Andererseits spitzt sich die Trennung zwischen Hochland und Tiefland zu: Im Andenteil dominieren bis in das kleinste Dorf hinein Gewerkschaften und indigene Gemeinden. Sie bilden im Zusammenspiel mit den sozialen Bewegungen die Machtbasis des Präsidenten.

Rafael Puente, ehemaliger Vizeinnenminister und Vertrauter des Präsidenten, sieht darin einen Grund, warum die Regierung in Santa Cruz nicht richtig Fuß fassen kann: Das Regierungsteam stamme aus dem Hochland und habe Schwierigkeiten, das Tiefland und seine Leute im Osten des Landes überhaupt zu verstehen. Morales Programm trage den "kulturellen Stempel der Anden", so Puente.

Mit diesem Stil kann er in Santa Cruz nicht regieren: Die Organisationen der Indianer sind im Tiefland traditionell unabhängiger von der Linken als die im Hochland und teilweise gespalten. Auch die sozialen Bewegungen, die Morales an die Macht brachten, sind dort schwächer.

Zu wenig bemüht sich Morales um die Einbeziehung von Santa Cruz. Er wendet sich gegen die Autonomieforderungen. Damit stellt er sich außerhalb eines Dezentralisierungsprozesses, den Staatsrechtler in abgeschwächter Form für notwendig halten. Er steht als überkommener Vertreter des Zentralismus da.

Staatsgefüge im Wanken

"Die wenigen Cruzenos in der Regierung sind doch nur Verzierung", so Puente selbstkritisch. Zu wenige Cruzenos sind beteiligt - ein Kardinalfehler. Denn eine Grundregel in vielen Ländern Lateinamerikas lautet: Wer regieren will, muss mit den Regionen regieren. Jede Region besteht darauf, von der Macht etwas abzubekommen.

Wenn die Regierung eine Balance der Regionen nicht hinbekommt, kann das ganze Staatsgefüge ins Wanken geraten. Die Regierung betont zwar gegenüber der Öffentlichkeit, es handele sich dabei bloß um "Umfragen" ohne jede rechtliche Bedeutung.

Gegen die Fakten aber, die die Autonomisten schaffen, ist La Paz machtlos. Der Streit um staatliche Befugnisse und den Geldfluss ist in vollem Gange. Die betreffenden Regionen grenzen sich politisch immer weiter von La Paz ab - und die Regierungsfähigkeit des Präsidenten scheint zu sinken, je weiter entfernt der Regierungssitz ist.

Im Regierungslager sieht man der Abstimmung am 10. August trotzdem gelassen ins Auge: "Die Parteien müssen keine Angst vor dem Urteil des Volkes haben. Wenn es beschließt, den Präsidenten abzusetzen, dann gehen wir eben", sagte der Senator von der Regierungspartei Bewegung zum Sozialismus, Ricardo Díaz, im Fernsehen.

Der Ausgang des Abberufungsreferendums ist ungewiss. Es könnte einen politischen Erdrutsch erzeugen und die Macht zwischen Zentralregierung und Präfekten neu verteilen. Es könnte aber auch die Pattsituation bestätigen.

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