Das Phantom der Linken

Von der Bewegung in den privaten Zusammenhang und nicht wieder zurück: Christian Petzolds Film „Die innere Sicherheit“ ist die schemenhafte Skizze einer Generation, die sich in sich selbst vergraben hat und nicht mehr anschlussfähig scheint

von KATJA NICODEMUS

Aus dem Lautsprecher säuselt eine lateinamerikanische Berufsmelancholikerin, das Bar-Ambiente sieht so adrett und Hopper-mäßig aus wie fast überall in Berlin-Mitte, und Christian Petzold ragt aus einem viel zu niedrigen Stuhl hervor. Vielleicht sind die Hackeschen Höfe als feist renovierter Biotop linker Kulturfolklore sogar der ideale Ort, um über einen Film zu reden, in dem RAF und 68er-Utopien, der Deutsche Herbst und die Weltrevolution zu einer Kleinfamilienstruktur zusammengeschmolzen sind. Durch die Auseinandersetzungen um Joschka Fischers Vergangenheit ist Christian Petzolds „Die innere Sicherheit“ in eine Debatte hineingeglitten, mit deren Konkretion und Personenbezogenheit der Regisseur eigentlich nichts am Hut hat.

Die Linke im Kessel

„Die innere Sicherheit“ ist das abstrakte Gemälde einer Generation, die fast schon schemenhafte Skizze einer Linken, die sich in sich selbst vergraben hat und – systemtheoretisch gesprochen – nicht mehr anschlussfähig ist. „Ich wohne in Kreuzberg“, sagt Petzold, „in den linken Kinderläden, in die ich meine eigenen Kinder bringe, fahren die Eltern alle Saab und Volvo mit Seitenaufprallschutz und Geruchsfilter, und der Innendezibelbereich der Autos geht gegen null. Ich habe immer gedacht, dass die Linke sich einkesselt, in kleine Zellen, weil es keine wirkliche Anbindung mehr zur Öffentlichkeit gibt.“

Von der Bewegung zum privaten Lebenszusammenhang. Die Kleinfamilie ist in Petzolds Film nicht politischer Gegenentwurf, sondern Metapher für das, was auch von den eigenen Utopien übrig geblieben ist. Barbara Auer, Richy Müller und Julia Hummer bilden eine Monade, in der revolutionäre und bürgerliche Sehnsüchte unversöhnt nebeneinander stehen: Obwohl sie auf den Fahndungslisten stehen, haben die zwei RAF-Mitglieder in den 70er-Jahren gegen das ungeschriebene Gesetz der Szene eine Tochter bekommen, Jeanne.

Gestohlene Jugend

Nach einer jahrelangen Odyssee im Untergrund fliegt die Familie durch einen Zufall in Portugal auf und flieht zurück nach Deutschland, auf der Suche nach alten Freunden oder was von ihnen übrig ist. Aber Jeanne hat langsam genug von Ferienwohnungen, Hotels und Autobahnraststätten. Sie will CDs und Klamotten kaufen, Freunde haben, einen Jungen kennen lernen, ins Café gehen – die normalen Bedürfnisse einer Fünfzehnjährigen gegen die Überlebenskonstruktion der Eltern. Eine gestohlene Jugend?

Natürlich muss man irgendwann an Bettina Röhl denken, die an Joschka Fischer wahrscheinlich auf verquere Weise austrägt, was die Tochter im Film ihre Eltern nur einmal zu fragen wagt: „Warum habt ihr mich gemacht?“ Es bleibt der einzige explizite Vorwurf in Petzolds Film, denn um Schuldfragen und Soziopsychologismen geht es ihm nicht. „Wenn man hier einen Film macht,“ sagt er, „dann muss das immer Lehrerzimmer sein und pädagogisch. Irgendwann muss es einen Rückblick geben, und das Kind muss die Eltern fragen: „Ist das schlimm, einen GI zu erschießen?“

Wenn es nicht um ideologische Bilanzen, Abrechnungen, vielleicht nicht mal um die RAF als konkrete Organisation geht, worum geht es dann in diesem Film? Ausgangspunkt des gemeinsam mit Harun Farocki entwickelten Drehbuchs war für Petzold ein Aufsatz von Hans Blumenberg. In „Schiffbruch mit Zuschauer“ vergleicht der Philosoph die 68er-Generation mit einem Schiffbrüchigen, der versucht, sich aus den Planken seines Schiffes ein Floß zu zimmern. Auch Petzolds Figuren haben sich aus den Bruchstücken der alten Utopie ein Rettungsboot gebaut. Obwohl seine Familie aus der Geschichte gefallen ist, verbindet die drei, was letztlich alle Familien zusammenhält – ein Netzwerk aus Gesten, Codes, Grammatik, privatistischen Schuldökonomien und Ritualen.

In der kühlen Ästhetik und klaren Geometrie von Petzolds Einstellungen wirken Müller, Auer und Hummer so vertraut-unvertraut, als betrachte man alte Familienfotos mit einem umgedrehten Fernglas. Es ist die Schutzlosigkeit der drei, ihr ständiges Interims- und Aufbruchsgefühl, das sie isoliert und den Blick auf Distanz hält.

Hang on to a dream

Dieses Abgeschnittensein wird in jeder Szene miterzählt, so ruhig und überlegt, dass Petzolds Film in der Erinnerung wie eine Folge von Filmstills wirkt: Jeanne steht allein an der Jukebox eines Strandcafés in Portugal und sucht sich Tim Hardins „How can we hang on to a dream“ aus. Ein Junge setzt sich dazu, Ferienstimmung, alles könnte so schön sein. Fast hätte man vergessen, dass Jeanne im Untergrund lebt.

Am Strand lernen Mutter und Tochter Portugiesisch, Schulersatz im Mikrokosmos. Später, in Deutschland, wird sich Jeanne in einer der phantasmagorischen Sequenzen des Films in eine Schule hineinträumen, wo „Nacht und Nebel“ läuft, der Film, der ihre Eltern wahrscheinlich politisiert hat. Immer wieder sieht man die drei im Auto, in Telefonzellen, Stehcafés – oder unendlich müde in einer der vielen Wohnungen, die als Zwischenstation dienen.

„Ich habe immer Fenster und einsichtige Orte mit Glas gesucht,“ sagt Petzold, „die Verstecke sollten keinen Höhlencharakter haben, weil ich glaube, dass die Höhle den Rechten gehört. Das ist Barbarossa in Thüringen, das ist der Bunker, wo heute noch Hitler wartet, bis er gerufen wird. Die Linke, das sind eher Schemen, Phantome, die zwischen tausend anderen Autos auf der Autobahn entlanggleiten und letztlich spurlos sind.“

Ein paar Spuren gibt es dann doch. In „Die innere Sicherheit“ wird zwar kein GI erschossen, aber der Sicherheitsbeamte einer Bank. Man kann die Szene symbolisch aufladen und an ihr die ungebrochene Gewaltbereitschaft einer ewig gestrigen Linken sehen, die ihre Ideologie immer noch über die Unversehrtheit des Einzelnen stellt. Oder man sieht den verunglückten Überfall als letzte Verzweiflungstat eines Paares, das der Tochter mit dem erbeuteten Geld unbedingt ein neues Leben in Brasilien oder wo auch immer schenken will. Wahrscheinlich stimmen beide Interpretationen, aber für welche man sich instinktiv entscheidet, sagt mehr über die eigene politische Haltung als über den Subtext dieses gänzlich unpolemischen Films.

Metaphorische Matrix

„Als wir den Überfall gedreht haben“, meint Petzold, „habe ich die Schauspieler an diesen Marx-Satz erinnert, der besagt, dass alles zweimal kommt, einmal als Tragödie und einmal eine Farce. Für mich ist das eine Farce, die Figuren pfeifen bei dieser Aktion wirklich aus dem letzten Loch.“

Unverbesserliche Gewalttäter und/oder treu sorgende Eltern – im Grunde hat Petzold mit seiner entwurzelten Kleinfamilie so etwas wie die metaphorische Matrix einer Generation geschaffen, die jeder Zuschauer mit eigenen (Geschichts-)Bildern, Erlebnissen, Nachrichtenschnipseln und einem diffusen Generationsempfinden ausfüllen kann. Hinter seiner Kleinfamilie stehen die Schemen von Hogefeld, Meinhof, Baader, Viett.

Man kann dieses filmische Abstrahieren jüngster deutscher Geschichte unverbindlich finden, aber es ist in jedem Fall vielschichtiger, als in Volker Schlöndorffs „Die Stille nach dem Schuss“ Schauspielern zuzusehen, die den Imperialistenschweine-Jargon von Andreas Baader nachkrampfen. In Christian Petzolds Film schwingt das Bild eines Wolfgang Grams mit, der im Untergrund wie bei Muttern Marmelade eingekocht hat, oder die merkwürdig weltfremde Sprache von Inge Viett nach der Entlassung.

„Die innere Sicherheit“ ist der melancholische Film eines Regisseurs, der als Jugendlicher erschaudert-fasziniert war, als im Düsseldorfer Stammchinesen seiner Eltern eines Tages Willi Peter Stoll erschossen wurde. Ein Film, der irgendwie auch damit zu tun hat, dass ein paar jungen Schauspielern, die Petzold zum Casting lud, zu Hanns Martin Schleyer nur noch die Halle einfiel, aus der manchmal „Wetten dass?“ übertragen wird.

„Die innere Sicherheit“. Regie: Christian Petzold. Mit Barbara Auer, Julia Hummer, Richy Müller u. a. Deutschland 2000, 102 Min.