Papa, was ist eine Revolte?

Während sich Fischer und Trittin an Straßenkämpfe erinnern dürfen, müssen ihre Kinder eines Tages von Bonanza-Rädern und „Wetten, dass ...“ erzählen

von KOLJA MENSING

Es hätte der Roman der Saison werden können. In Wolfgang Brenners Krimi „Die Exekution“ taucht ein ehemaliger RAF-Terrorist nach langen Jahren im Untergrund wieder an der Bildfläche auf. Die Genossen aus den 70ern sind darüber gar nicht glücklich. Vor allem der Grünen-Abgeordnete Engelhardt Seelenbinder möchte nicht unbedingt an seine Vergangenheit und die „drei Verfahren wegen Landfriedensbruch“ erinnert werden.

„Die Exekution“ erschien Anfang Oktober vergangenen Jahres, zwei Wochen später wurde der Prozess gegen den Exterroristen Hans-Joachim Klein eröffnet. Man hatte das Gefühl, mit Brenners Krimi das Drehbuch eines sich ankündigenden Skandals vor sich zu haben. Alles stimmte, bis auf eine Kleinigkeit: Engelhardt Seelenbinder und die anderen Romanfiguren verstummen, wenn sie an ihre Vergangenheit erinnert werden – Joschka Fischer dagegen hört gar nicht mehr auf zu reden.

Anfang Januar gab er gleich zwei große Interviews. Mit Waffen und Molotowcocktails hätte er zwar nichts zu tun, er habe aber „in der Tat eine wichtige, vielleicht sogar ‚zentrale‘ Rolle in der linkradikalen Szene Frankfurts gespielt“, berichtet Joschka Fischer eifrig. Schließlich geht es um sein Leben: „Das ist meine Biografie. Das bin ich, Joschka Fischer.“

Es war nur der Auftakt zur großen Redeflut, die sich in den letzten Wochen über das Land ergoss. Die 68er und ehemaligen Spontis wolle alle noch einmal ihre Geschichte erzählen. Immer wieder wartete jemand mit neuen Details auf aus den wilden Jahren der Bundesrepublik oder kommentiert bereitwillig selbst die merkwürdigsten Anschuldigungen der Oppositionspolitiker. Vom Wunsch nach Verdrängung keine Spur: Die Generation, die Ende der 60er immer nur vom Morgen sprach und in den 70ern das Heute verändern wollte, bekennt sich jetzt zum Gestern.

Jürgen Trittin sah zunächst nicht ganz so glücklich aus, als er zu Beginn dieser Woche an seine Mescalero-Episode erinnert wurde. Doch als die Interviewtermine gebucht waren, hatte er das Spiel begriffen: „Wissen Sie, was für mich ein wirklich prägendes Erlebnis war?“, fragte er in einem Gespräch mit der taz und durfte ausführlich von seinen Abenteuern erzählen.

Jürgen Trittin hat keine Polizisten verprügelt und nie mit einer Terroristin gefrühstückt, sondern nur bei einer Demonstration gegen die NPD etwas Tränengas abbekommen. Mit dem richtigen Schlagworten gelingt es aber auch ihm, Lebenslauf und Zeitgeschichte zu synchronisieren. Vietnam, RAF und Brokdorf: Das ist auch seine Biografie. Das ist Jürgen Trittin.

Die oft geäußerte Vermutung, die so genannten 68er in der Regierung hätten ihre Vergangenheit vergessen oder wollten sich ihr entledigen, ist also falsch, das zeigen die Auseindersetzungen der letzten Wochen. Warum auch schweigen, wenn so viel zu erzählen ist: Wer zwischen 1940 und 1955 geboren ist, hat das große Glück, zu einer Generation zu gehören, die über einen gemeinsamen, historisch bezeugten Erfahrungsraum verfügt. Die so genannte 68er-Debatte kommt ihnen da gerade recht, auch wenn zur Zeit gerne das Gegenteil behauptet wird. Eine bessere Gelegenheit, sich der gemeinsamen Vergangenheit zu vergewissern, könnte es gar nicht geben.

Gerhard Schröder dagegen sähe die Diskussion um seine Minister am liebsten beendet. „Beide haben das, was missverständlich oder falsch war, richtiggestellt. Dabei muss es jetzt auch bleiben“, erklärte er, und damit möchte er nicht nur den tagespolitischen Schaden begrenzen.

Man hört auch Neid in diesen Worten, denn Gerhard Schröder ist zunächst mal der Diskursverlierer. 1998, dreißig Jahre nach dem historischen Datum 1968, wurde er zum Bundeskanzler gewählt und kokettierte sogleich mit seiner Herkunft aus dem zeitgeschichtlichen Nichts: Als die anderen demonstrierten, habe er brav in Göttingen Jura studiert und zudem das erste Mal geheiratet. Die Bücher von Adorno und Habermas kenne er zwar den Umschlägen nach, gelesen habe er sie allerdings nie, ergänzte er damals – als müsse er sich wie einst Bill Clinton vom Gebrauch illegaler Betäubungsmittel distanzieren: I didn’t inhale.

Schröder blieb dem Gift der Zeitgeschichte gegenüber enthaltsam. Darum konnte man ihn auch über seine Rolle als Verteidiger im Mescalero-Prozess nicht in die Debatte um Fischer und Trittin hineinziehen: Er sei damals Anwalt gewesen, sagte Schröder, die Ausübung seines Berufs könne man ihm heute wohl kaum zum Vorwurf machen.

Während sein Stellvertreter täglich in den Zeitungen zu sehen ist, wie er mit einem schwarzen Motorradhelm auf dem Kopf Polizisten verdrischt, zeigt das aufregendste Bild aus der politischen Vergangenheit des Bundeskanzlers also einen Juso bei einer friedlichen Demonstration in Gorleben: mit rotem Pullunder, hellblauem Hemdkragen und am Handgelenk eine Uhr mit Metallarmband. Der zweiter Bildungsweg, das Jurastudium und die Karriere bei den Jusos, das sind Schröders wilde Jahre – und das Aufregendste an seinem Privatleben vermutlich die drei Scheidungen seit 1968. Gerhard Schröder ist der Mann ohne Eigenschaften. Und näher als seinen Altersgenossen ist er den Angehörigen einer Generation, die heute zwischen zwanzig und vierzig sind und die in zwanzig oder dreißig Jahren ohne jedes historische Wir auskommen muss.

Die ersten Einblicke in die Erinnerungsarbeit derjenigen, die in den 60ern und 70ern geboren ist, kann man zur Zeit in Büchern wie Florian Illies’ Bestseller „Generation Golf“ und den vielen Romanen ablesen, in denen Schriftsteller von den 80ern, einige sogar schon von den 90er-Jahren erzählen. Darin geht es um die bananenförmigen Sessel der Bonanza-Räder oder die Samstagabende, an denen „Wetten, dass...“ noch von Frank Elstner moderiert wurde, und auch die Uhrenarmbänder aus Metall, die eine Zeitlang nicht nur unter Jusos sehr in Mode waren, kommen in diesen Büchern vor: flüchtige Zeichen statt historischem Pathos.

Das einzige zeitgeschichtliche Datum dieser Epoche wird man in den Erinnerungsromanen allerdings nicht finden. Selbst in den Büchern der jungen ostdeutschen Schriftsteller sucht man nach dem 9. November 1989 vergeblich. Stattdessen liegt über all diesen Texten eine leichte Wehmut. Es scheint, als ahnten ihre Verfasser, dass ihnen als Chronisten der Posthistoire nichts bleibt außer ein paar privaten Erinnerungen. Aufgeregte politische Debatten über die 80er oder die 90er wird diese Generation wohl nicht erleben: Eine Geschichte gibt es dann nicht mehr, mit seinen Geschichten ist man ganz allein.

Bis dahin sollte man sich an den Bundeskanzler halten. Es ist traurig, aber wahr: Gerhard Schröder ist ein Mann der Zukunft, der Prototyp der geschichtslosen Generation.