Schwereloser Raumfahrer im Universum

MORPHINE Zuckender Körper, schwache Beine, Dauerlächeln – so wirkt die Droge Vaterwerden. Eine Liebeserklärung

VON ALEM GRABOVAC

Es war mehr als ein Orgasmus. Ich ging alleine zu meiner Stammkneipe. Draußen die Berliner Nacht und die Großstadtlichter. Ich wusste seit sieben Wochen, dass ich Vater werde. Ich stand an der Theke, bestellte ein Bier, um mich herum Gesprächsfetzen und Musik.

Dann wurde es ganz still und ich dachte: „Mann, du wirst Vater. Alles wird sich verändern. Du bekommst ein Kind und dieses Kind wird schreien und laufen und lieben und traurig und fröhlich sein. Mann, du bekommst ein Baby.“ Und als ich dies alles dachte, als mir zum ersten Mal so richtig bewusst wurde, dass ich Vater werde, durchströmte mich pures Glück und ich bekam, während ich da an der Theke stand, einen Orgasmus. Mein ganzer Körper zitterte, meine Beine wurden schwach. Glückshormone und Gänsehaut und diese körpereigenen Morphine, diese selbstausgelöste Droge, die mich fliegen ließ.

Ich schaute, ob jemand mich beobachte, ob jemand meine seltsamen Zuckungen wahrnahm. Aber die Gäste waren in ihre Gespräche vertieft, niemand achtete auf mich. Ich bestellte mir ein weiteres Bier, lächelte und dann durchflutete mich noch so eine Glückswelle und noch eine. Archaisches, kaum zu beschreibendes Glück. Und ich mitten drin, in diesem seltsamen Lustgefühl. Ich glaube, dass ich, während ich an der Theke stand, insgesamt sieben Orgasmen hatte. Herzmasturbation, Muskelkontraktionen, Gehirnverstrahlungen und später, auf dem Heimweg, auch noch ein paar kleine Glückshüpfer in meinem Gehen.

Nach neun Wochen das erste aussagekräftige Ultraschallbild, das erste Foto meines Kindes. Es ist 2,79 Zentimeter lang. Augen, Mund und Nase beginnen langsam hervorzutreten. Es sieht aus wie ein undefinierbares Urzeittier. Es schwimmt in der Fruchtblase. Was für ein Trip. Wir haben ihn alle erlebt, niemand kann sich daran erinnern. Die Eizelle wandert, 500 Millionen Spermien sind unterwegs. Erbmasse trifft auf Erbmasse, in den Chromosomen liegt der evolutionäre Bauplan längst vergangener Jahrtausende. Ein neues Leben beginnt. Der rundliche Zellklumpen fängt an Gestalt und Merkmale eines Säugetiers anzunehmen. Milliarden Zellen entstehen und werden nach einem ausgeklügelten Bauplan zusammengesetzt. Wahnsinn, denke ich, das ist doch alles ein unglaublicher Wahnsinn!

Zwölf Wochen lang haben wir geschwiegen, haben wir es niemandem erzählt. Viele Embryos sterben in den ersten drei Monaten. Wir hatten Verlustängste. Wird auch alles gut gehen? Die ersten Untersuchungen waren alle zufriedenstellend. Unser Baby wächst! Ich sage am Telefon zu meiner Mutter, dass ich eine Überraschung für sie habe, und sie flippt, nachdem ich ihr erzählt habe, dass sie Großmutter wird, am Telefon beinahe aus. Es ist ihr erstes Enkelkind. Sie schreit: „Hurra, Hurra, Hurra“ und sagt: „Alem, mein Sohn, das ist das schönste Geschenk, das du mir jemals im Leben gemacht hast.“ Seitdem fragt sie mich immer am Telefon, wie es „unserem“ Baby geht. Ich habe sie ganz dezent darauf hingewiesen, dass es nicht „unseres“, sondern das Baby von meiner Frau und mir ist. Sie ignoriert diesen Einwand kategorisch und meinte letztens, dass sie „unserem“ Baby ein Bett kaufen möchte. Na ja, was soll’s, dann ist es eben „unser“ Baby.

Es ist ein offenes Geheimnis, dass werdende Väter eine Art von Koschwangerschaft entwickeln. Ich habe zum Beispiel niemals scharfes Essen gemocht. Und was mache ich jetzt: Ich esse so scharf wie möglich, bestelle mir beim Imbiss die Falafel mit extrascharfer Sauce. Wissenschaftler der St. George’s Universität in London haben dieses Phänomen genauer untersucht. Sie fanden heraus, dass viele werdende Väter mehr oder weniger stark die gleichen Symptome wie ihre Frauen zeigten. Hauptsächlich nahmen die getesteten Männer an Gewicht zu, durchschnittlich etwa vier Kilogramm. Sie litten – wie die Frauen – an Hungerattacken und bisweilen an wehenartigen Bauchkrämpfen. Ich leide zwar nicht an Bauchkrämpfen, aber das mit den Hungerattacken kann ich bestätigen. Und mein Bauch wächst auch bedenklich!

In der 14. Woche haben wir von unserem Frauenarzt eine DVD bekommen. Ich sehe im Fernsehen, wie unser Kind in der Fruchtblase schwimmt. Es bewegt sich viel, es scheint zu turnen. Es sieht wie ein schwereloser Raumfahrer im Universum aus. Es schwebt und die Nabelschnur ist die Verbindung zum Raumschiff. Ein Newcomer im Weltall. Der Fötus gleicht mittlerweile einem menschlichen Wesen. Man kann alles – die Hände, die Füße und den Kopf – sehr gut erkennen. Der Film dauert zehn Minuten. Unser Baby verschluckt sich und es scheint zu lächeln. Ich weiß, dass es noch nicht lächeln kann. Aber das ist egal, denn es hat gelacht. Ich sehe meinen schwerelosen Raumfahrer im Fernsehen, blicke auf den Bauch meiner Frau und denke mal wieder, dass das alles irgendwie irreal ist. Nein, das ist nicht der neueste Science-Fiction-Blockbuster aus Hollywood. Wir haben uns die DVD an diesem Abend sechsmal angeschaut – es ist der beste Film aller Zeiten!

Der Arzt hat gesagt, dass wir mit achtzigprozentiger Wahrscheinlichkeit einen Sohn bekommen. Wir sind jetzt, während ich diesen Artikel schreibe, in der 19. Schwangerschaftswoche. Der Bauch meiner Frau wächst, und man wenn man die Hand auf den Bauch legt, kann man es manchmal treten spüren. Die Temperatur im Fruchtwasser beträgt angenehme 37,5 Grad. Die Gesichtszüge werden modelliert. Die Augenlider schließen sich und öffnen sich erst wieder im siebten Monat. Das Gehör ist ausgebildet. Er hört die Geräusche des Blutflusses, den Herzschlag seiner Mutter und unsere Stimmen. Ich gehe ganz nahe an den Bauch heran und flüstere: „Hallo, mein Sohn.“

Ich rede viel mit ihm. Ich nehme Kontakt auf und sage Dinge wie: Manchmal wird es schwer sein. Es macht auch keinen Sinn, das Leben. Es ist absurd und launisch und doof und viel zu kurz und es ist wunderschön, das Leben. Ich kann es dir nicht erklären, aber es macht mich einfach glücklich, dass du bald da sein wirst. Und hey, Kleiner, immerhin kann ich dir versprechen, dass ich dich lieben werde. Außerdem wirst du viel Spaß mit uns haben und sehr viel lachen und eines fernen Tages wirst du vielleicht herausfinden, dass dieses Lachen viel, dass dieses Lachen möglicherweise sogar das Entscheidende im Dasein ist.

Dein Geburtstermin ist der 19. Mai 2012. Es wird also Frühling sein, alles wird blühen und die Sonne wird scheinen. Bevor du kommst, musst du mir nur eines versprechen: Du musst Bayern-München-Fan werden. Denn was sollen wir samstags machen, falls du Dortmund, den HSV oder gar Hertha unterstützt? Ich werde jedenfalls nicht mit dir ins Berliner Olympiastadion fahren. Also hör zu, das ist der Deal: Du darfst schwul, bisexuell, neurotisch, dumm oder hyperintelligent sein. Du darfst Bauarbeiter, Friseur, Professor, Banker oder Balletttänzer werden. Das ist mir alles egal – Hauptsache ist, dass du Bayern-München-Fan wirst! Haben wir uns verstanden? Na dann, bis zum 19. Mai. Ich freue mich sehr auf dich!