„In welcher K-Gruppe waren Sie denn?“

Was war 1968? Damals liefen die Kinder deutscher Massenmörder dem Massenmörder Mao hinterher, meint der Historiker Götz Aly. Ganz falsch, sagt die Publizistin Katharina Rutschky. Viel wichtiger als die Ideologien war damals die Praxis – zum Beispiel in den Kinderläden

KATHARINA RUTSCHKY, 1941 in Berlin geboren, studierte Germanistik und Geschichte in Berlin und Göttingen. Mit 15 ging sie zu den Falken/Sozialistische Jugend, 1960 trat sie dem Berliner Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bei. Seit Beginn ihres Studiums engagiert sie sich in der außerschulischen politischen Bildungsarbeit für Lehrlinge und Schüler. Seit 1980 ist sie freie Autorin, arbeitet für Zeitschriften, Zeitungen (darunter die taz) und Rundfunk. Ihre Schwerpunkte sind Bildungsgeschichte, Frauen-, Kinder- und Jugendpolitik.

MODERATION STEFAN REINECKE & JAN FEDDERSEN

taz: Frau Rutschky, an welche Szene erinnern Sie sich, wenn Sie an 1968 denken?

Katharina Rutschky: Eine schöne Szene war der Vietnam-Kongress im Februar 1968. Wir hatten das Gefühl: Uns gehört die Zukunft. Jetzt sind wir dran. Ich habe zwei schöne Sachen erlebt: 1968 und die Wiedervereinigung

Also war ’68 ein Fest?

Rutschky: Fest? Na ja. Wir kriegten Luft unter die Flügel. Wir im SDS waren elitär. Wir waren wenige, aber immer die Besten. Wir hatten die meisten Bücher gelesen, waren am besten informiert etc. Und dann merkten wir, dass wir plötzlich von einer Grundwelle getragen wurden. Dass damals Feltrinelli mit Sprengstoff anreiste, der im Kinderwagen von Rudi Dutschke transportiert wurde – das wussten wir ja nicht.

Welche Szene erinnern Sie, Herr Aly?

Götz Aly: Es gibt die Fotos von Michael Ruetz. Da sieht man immer das Gleiche: ein paar oft bärtige, wild gestikulierende Protestprotze und eine stille Frau. Das ist die Sprache der Bilder: drei Männer und eine Frau. Es gab damals ja weniger als 25 Prozent Frauen an den Hochschulen. Das hat auch die Dynamik dieser Revolte sehr stark befördert.

Mit mehr Frauen hätte es keine Revolte gegeben?

Aly: Wenn das Geschlechterverhältnis ausgeglichen gewesen wäre, wäre es anders gelaufen. Es war ja ein Tanz auf dem Affenfelsen. Es gab an den Universitäten wenig Frauen – und gleichzeitig die Pille und die sexuelle Revolution. Bei Reimut Reiche steht, dass schon Freud gesagt habe, dass protestierende Männer über ganz besondere sexuelle Qualitäten verfügten – also XXL-Männer seien. In diesem Sinne verfolgten die sexuelle Selbst- und vor allem Fremdbefreiung sehr unmittelbare Zwecke. Das war lustig, hatte aber mit Emanzipation nicht viel zu tun.

Haben Sie 1968 nicht als Befreiung empfunden?

Aly: Doch. 1967 siezten sich die deutschen Studenten ja noch. Da war man Fräulein Schmidt und Herr Aly. Man trug Faltenrock oder Krawatte und Jackett und kriegte einen Nervenzusammenbruch, wenn man zum Professor in die Sprechstunde musste. Aber all die Befreiungsschriften von damals sind Müll, unerträglich. Nicht nur die Theorie, auch die Schriften zu den Kinderläden. Es steht kein vernünftiger Satz drin, nichts, was man heute noch mit Gewinn lesen könnte.

Und „Sexfront“ von Günter Amendt?

Aly: Ach was, lächerlich. Blöde und altmodisch.

Waren die Männer auf den Fotos denn damals Vorbilder für Sie, Herr Aly?

Aly: Ja, klar. In Berlin war das das SDS-Trio Rudi Dutschke, Bernd Rabehl und Christian Semler. Natürlich haben wir damals „Die Rebellion der Studenten“ gelesen. Aber da stehen Dinge drin, da zieht es Ihnen die Schuhe aus. Da sagt Dutschke sinngemäß: Wenn wir nach dem Tod von Benno Ohnesorg den Widerstand nicht fortsetzen, machen wir uns zum Juden. Stellen Sie sich vor, ein brandenburgischer Bürgermeister würde heute sagen: Wenn wir den Widerstand gegen eine Müllverbrennungsanlage oder ein Ausländerheim nicht fortsetzen, machen wir uns zum Juden. Der Kerl würde morgen im politischen Orkus verschwinden. Aber damals war Dutschke ein Vorbild. Das Radikale war schön. Man konnte die Welt erklären und hatte immer Recht. Das war wunderbar. Wenn man sich heute anschaut, womit wir diesen eigenen kulturellen Raum füllten, erfasst einen das Grauen.

Zum Beispiel?

Aly: Der Personenkult, die Mao-Begeisterung. Die Kinder der deutschen Massenmörder sind damals einem Massenmörder hinterhergerannt. Ich hab auch eine Mao-Plakette getragen. 1968 war ein Spätausläufer des europäischen Totalitarismus – und besonders des deutschen.

Rutschky: Herr Aly, entschuldigen Sie, aber jetzt rege ich mich auf! Damals wurde in den Kinderläden doch eine andere Pädagogik erfunden, verdammt noch mal. Herr Aly, Sie reden, wie Renegaten es oft tun, über sich – und verallgemeinern. In welcher K-Gruppe waren Sie denn? Ich war in keiner. Hier, ich habe meinen Ausweis der „Falken“ mitgebracht, unterschrieben 1960 von Holger Börner. Und meinen SDS-Ausweis. Ich muss mich, anders als Sie, für nichts entschuldigen. Ich bin nicht hinter Thälmann hergerannt. Ich habe auch Dutschke nie verstanden. Der war nett und charmant, aber verstanden hat ihn keiner. Ich hatte eine kurze Mao-Phase – Jan Myrdals und Edgar Snows Bücher über China waren damals ja populär. Ich kannte das Ausmaß der Hungersnot dort nicht. Und Sie auch nicht.

Aly: Ja, ich wusste es auch nicht.

Rutschky: Aber Sie tun heute so, als wäre 1968 eine Symptomatik des deutschen Faschismus: die Kinder der Massenmörder. Ich bin kein Kind eines Massenmörders. Meine Familie ist seit 1906 quasi in der SPD. Und ich war immer politisch, so wie viele, die damals demonstriert haben. Manche haben sich damals an den Leithirschen orientiert, sind in K-Gruppen gegangen oder sogar bei der RAF gelandet. Das ist nicht meine Geschichte. Ich habe als Kind einer Arbeiterfamilie studiert. Sich als Frau durchzusetzen war schwierig. Auch an der liberalen FU wurde man als Frau nur HiWi und nie Assistent. Das war einfach noch nicht drin. Trotzdem ging es für viele Frauen im SDS und der Gewerkschaft aufwärts. Zwischen 1969 und 1972 sind 300.000 junge Leute zwischen 18 und 25 in die SPD eingetreten. Aber in dem Bild von 1968 kommt das nicht vor: sondern nur Jugend, Rebellion, pittoreske Sexualität mit Uschi Obermaier. Das wird gehypt, bis heute. Sex und Gewalt. Und ich ärgere mich tot, welche Öffentlichkeit diese RAF-Gangster haben: diese Inge Vietts und Irmgard Möllers, denen noch das Mikro hingehalten wird.

Aly: Sie haben nach meiner Biografie gefragt. Also: Jahrgang 1947. Ich kam im November 1968 nach Berlin. Ich habe die Zeitschrift Hochschulkampf 1970 mitgegründet. Das war eine Zeitung der Roten Zellen. Ein schreckliches Blatt, wenn ich heute darin lese. Von 1971 bis 1973 war ich bei der damals sehr radikalen Roten Hilfe. Wir fanden damals den Genossen Mahler, der die RAF gegründet hatte, sehr toll – und Ströbele, der damals noch SPD-Mitglied war, viel zu reformistisch, um in diesem sozialistischen Anwaltskollektiv in die großen leeren Schuhe des verhafteten Horst Mahler zu passen. Ich habe mich auch mit meinen Schriften aus dieser Zeit beschäftigt. Die waren meist anonym, ich hätte mich gar nicht dazu bekennen müssen. Aber ich dachte, ich will meinen Kindern erklären können, was ich damals getrieben habe. Deshalb habe ich ein Buch geschrieben. Es trägt den Titel: „Unser Kampf: 1968 – ein irritierter Blick zurück“.

Aha. Waren die Roten Zellen auch Maoisten?

Aly: Wir waren doch alle Maoisten. Frau Rutschky behauptet: Das war eine Phase, wir haben uns für etwas Fernes begeistert. Vom Terror konnte man nichts wissen. Ich bin Historiker und habe geprüft, was man hätte wissen können. Der große deutsche China-Experte lehrte damals an der FU Berlin und hieß Jürgen Domes. Der hat seit 1966/67 systematisch veröffentlicht, was dort passiert. Wer in den Selbstmord getrieben wurde, er hat Zahlen über die Hungersnot in China veröffentlicht: 10,5 Millionen – das war allerdings zu niedrig. Enzensbergers Kursbuch veröffentlichte 1967 einen Text von Joachim Schickel über die Kulturrevolution, der sich hauptsächlich auf einen Zeugen stützte, den deutschen Ökonomen Max Biehl, der in der NS-Zeit Chef der Grundsatzabteilung des Deutschen Wirtschaftsministeriums im besetzten Polen in Krakau gewesen war. Der hatte China bereist und fand die, wie er sagte, etwas strenge Entwicklungspolitik, die Kapitalakkumulation zulasten der Massen, sehr angenehm. Das waren unsere Quellen! Wir haben damals unsere Eltern gefragt: Was hättet ihr von den Verbrechen im Nationalsozialismus wissen können? Aber wir selbst wollten von den Massenmorden und Gewalttaten in China nichts wissen. Das ist doch erschütternd. Wir hätten viele Details kennen können. Die Zerstörung von Kirchen und Tempeln, die Unterdrückung buddhistischer Mönche, das ist 1967/68 alles publiziert worden. Wir hätten es wissen können. Aber es wollte niemand wissen.

Rutschky: Nein, Herr Aly. Ich war zum Beispiel kein Maoist. Ich war Antiantikommunist, und China diente gewissermaßen der politischen Selbstpositionierung in der Bundesrepublik. Das verkennen Sie im Nachhinein ja völlig. Wir haben doch nicht in China Politik gemacht, wir haben keine Bücher über China geschrieben. Wir haben gehofft, dass es etwas anderes gibt als diesen grauenhaften DDR-Sozialismus. Da kriegte man als Antiautoritäre ja schon an den Grenzübergängen Anfälle. Herr Aly, Sie waren damals 20 und ich ein bisschen älter. Ich kam aus dem sehr theoretischen SDS. Und aus dem SPD-Milieu. Und ich kam von unten und hatte auch viel zu verlieren.

Aly: Es gibt sehr große Unterschiede in unserer Biografie …

Rutschky: Ja, und es gab damals nicht nur Maobegeisterung. 1969, als SPD und FDP die Wahl gewonnen hatten, haben wir – alles Linke – ein Wahlfest gemacht.

Aly: Frau Rutschky, dass Sie mit ihrer sozialdemokratischen Familientradition, das Totalitäre nicht mitgemacht haben, ehrt Sie außerordentlich …

Rutschky: Nein.

Aly: Sie müssen mir nicht immer widersprechen.

Rutschky: Doch. Weil Sie mich marginalisieren wollen. Ich bin aber nichts Besonderes. Ich vertrete ’68, und zwar den Großteil der Bewegung und nicht die Leithirsche.

Aly: Nein. Sie vertreten nicht ’68.

Rutschky: Doch. Sie glauben, Sie vertreten ’68, weil Sie Schuldgefühle haben. Weil Sie etwas falsch gemacht haben.

Aly: 85 Prozent der Studenten kamen aus bürgerlichen Elternhäusern. Leute mit ihrem familiären Hintergrund waren damals innerhalb dieses Hochschulsystems marginal, Frau Rutschky. Sie gehörten zu einer Minderheit, die über die SPD-Gewerkschaftsschiene aufgestiegen sind. Die Mehrheit der Studenten an der Freien Universität waren Krawallschwaben. Sie kamen aus dem süddeutschen Raum, aus relativ autoritären Elternhäusern. Es waren regelrechte Repressionsflüchtlinge. Und diese süddeutschen Staaten, die reformunfähig waren, Bayern, Baden-Württemberg, auch Nordrhein-Westfalen, haben ihr Rebellionspotenzial in dieses relativ freie, reformerisch-sozialdemokratisch regierte Westberlin abgeschoben. Sie haben das Problem ausgelagert. Dafür müssten Sie eigentlich heute noch Entschädigung an Berlin zahlen. Und dann haben Strauß und Filbinger auch noch gesagt: „Diese unfähigen Berliner Politiker“. Dabei waren die Rebellen doch Kinder ihrer Klientel.

Welcher Repression sind die denn konkret entflohen?

Aly: Nehmen Sie die Prügelstrafen an Schulen. Wir sind bis ins Alter von 14, 15 von unseren Lehrern verdroschen worden.

Haben Sie es als Befreiung empfunden, in die Studentenszene Westberlins zu kommen?

Aly: Ja, sicherlich.

Und was war dann so schrecklich dort?

Aly: Zum Beispiel wie wir Richard Löwenthal gesehen haben. Löwenthal war Professor in Berlin. Er war in der Weimarer Zeit Kommunist gewesen, hatte im Nationalsozialismus im Untergrund gekämpft, sich dann vom Stalinismus abgesetzt, war nach Großbritannien geflohen und kam als Journalist und später Berater Willy Brandts zurück. Als ich an die Universität kam, habe ich den nicht wahrgenommen, weil er als rechts galt. Ich rannte zu einem Mann namens Johannes Agnoli – der uns durchaus erzählte, dass er der faschistischen Partei in Italien angehört hatte. Verschwiegen hat er uns, dass er sich 1943 bei der Besetzung Italiens durch die deutsche Wehrmacht freiwillig über die Waffen-SS zur Wehrmacht gemeldet hat und zwei Jahre in der Partisanenbekämpfung in Jugoslawien eingesetzt war. Dieses Faktum hat er uns verschwiegen. Er hat sich an der Wahrheit entlanggelogen und das eigentlich Wichtige in seiner Biografie weggelassen. Wolfgang Kraushaar hat ja gezeigt, wie Agnoli in seiner Parlamentarismuskritik an die faschistische Parlamentarismuskritik angeknüpft hat. Wir waren da sehr empfänglich. Frau Rutschky, Sie nicht, weil Sie älter waren und einen anderen Hintergrund hatten. Aber das sind meine Erfahrungen gewesen – und das bedrückt mich heute. Es gab an der FU ausgezeichnete Professoren. Etwa Ernst Fraenkel oder Kurt Sontheimer, der ein großes Buch über antidemokratisches Denken in der Weimarer Zeit verfasste. Aber all diese möglichen Lehrer haben uns nicht interessiert.

Aber war denn die Neigung zu dem Exfaschisten Agnoli und die Ablehnung des Reemigranten Löwenthal typisch? Es gab 1967/68 doch vor allem eine Wiederentdeckung vertriebener Juden, von Walter Benjamin, Theodor Adorno. War das nicht das Hauptsächliche? Und es gab 1968 ja auch den Rehse-Prozess, der mit einem Freispruch endete – für einen Richter an Freislers Volksgerichtshof. Das hat die Bewegung als Skandal wahrgenommen.

Aly: Ich weiß, ich war bei der SDS-Demo nach dem Urteil dabei. Aber das war rein funktional. Das war im Rahmen der Justizkampagne des SDS. Es gab da 3.000 Verfahren gegen sogenannte Krawalltäter. Der SDS wollte Stimmung gegen die Justiz machen.

Rehse war doch ein Symbol für die Kontinuität der NS-Eliten in der Bundesrepublik …

Aly: Nein. Es ging um die Delegitimierung des Justizapparats, nicht um die NS-Vergangenheit.

Rutschky: Herr Aly, vom wem sprechen Sie eigentlich?

Aly: Von mir.

Rutschky: Gut. Dann sagen Sie das dazu. Denn es gab eine Tradition der Beschäftigung mit der NS-Zeit, nicht nur im SDS, sondern in der Linken. Dazu gehörte der Protest gegen den Rehse-Prozess, dazu gehörte Peter Weiss’ Auschwitz-Stück, die Beschäftigung mit dem Auschwitz-Prozess. Ich habe als Teenager „Nacht und Nebel“ von Resnais gesehen. Mich hat das berührt.

Aly: Mich auch. Da sind wir uns einig.

Rutschky: Nein! Das Bewusstsein, das fatale Erbe wachzuhalten, war ein starkes moralisches Motiv der Achtundsechziger. Das wusste sogar die RAF, die mit Schleyer einen NS-Täter ermordete. Die RAF wusste, dass dies der wunde Punkt der Achtundsechziger war, an dem sie uns kriegen konnten. Und – Sie reden immer von Akten und Texten und von ihren Post-festum-Weisheiten. Diese Texte haben mich damals nicht besonders interessiert – und sie tun es heute auch nicht. Ich wollte ja für das Leben studieren. Wir haben antiautoritäre Erziehung praktiziert. Warum? Weil wir den faschistischen Charakter beseitigen wollten. Auch bei den Kinderläden stand die NS-Vergangenheit im Hintergrund. Die Kinderläden gibt es ja heute noch. Das ist nach wie vor noch ein wunderbares Modell. Das war auch ’68.

Aly: Frau Rutschky, ich möchte Sie etwas fragen: Wie war das mit den NS-Prozessen? An welche Prozesse erinnern Sie sich?

Rutschky: Es gab den Frankfurter Auschwitz-Prozess 1964. Aber ich war nicht dort.

Aly: Frankfurt dauerte von 1963 bis 1965. Gab es noch welche?

Rutschky: Wissen Sie, es ist mir unangenehm, wie Sie fragen. Es ist auch unangenehm, wie Sie argumentieren. Das hat was …

Aly: Interessant …

GÖTZ ALY, Jahrgang 1947, ist Historiker und Journalist. 1968 studierte er Geschichte und politische Wissenschaften in Berlin. Anschließend arbeitete er ab 1973 als Heimleiter in Berlin-Spandau, wurde aber 1976 – Aly war Mitglied der Roten Hilfe – infolge des Radikalenerlasses für ein Jahr suspendiert. Nach journalistischer Arbeit, u. a. bei der taz, habilitierte er sich 1994 an der FU Berlin. Er schrieb u. a. „Vordenker der Vernichtung“ (1991, mit Susanne Heim) und „Hitler Volksstaat“ (2005). Im März 2008 erscheint von ihm bei Fischer „Unser Kampf“.

Rutschky: Sie fragen mich ja nicht nur. Sie insinuieren etwas. Sie haben ja eine ganze Theorie im Hintergrund. Sie versuchen mit historischen Lektüren post festum auf der Basis eines schlechten Gewissens ein Fortleben des Faschismus im deutschen Sozialcharakter nachzuweisen. Das ist Schuldgefühlsökonomie bis zum Gehtnichtmehr, gestützt vonTotalitarismus-Verdächtigungen. Unangenehm ist, dass Sie jetzt im Nachhinein so wahnsinnig schlau sind. Sehen Sie denn nicht, wie jung Sie damals waren? Und dass die meisten, die bei Agnoli studiert haben, keinen Schaden an ihrer Seele genommen haben?

Aly: Ich wollte ja nur sagen, dass wir an der FU durchaus ordentliche Lehrer hatten. Die waren doch diesen Discount-Professoren, die wir als Studenten später in die Universitäten gehievt haben, hundertfach überlegen.

Rutschky: Sie sind mir zu jesuitisch und inquisitorisch.

Aly: Warum schimpfen Sie eigentlich so auf mich?

Rutschky: Weil das eine wichtige Zeit für mich war. Außerdem waren wir damals ja nicht nur von morgens bis abends Achtundsechziger. Man war noch verliebt, hatte Karriereängste und Prüfungsstress. Es war doch nicht so, dass dauernd die Polizei vor der Tür stand.

Aly: Die Frage ist doch, warum junge Deutsche auf Agnolis Parlamentarismuskritik, die inhaltlich und lebensgeschichtlich beim Faschismus anschloss, so abgefahren sind. Und warum wir Mahnungen von Löwenthal, Dahrendorf und anderen überhört haben. Und warum heute niemand weiß, dass 1968 das Jahr mit den meisten NS-Prozessen in der Geschichte der Bundesrepublik und den meisten lebenslänglichen Verurteilungen war. 1968 enden 30 riesige Prozesse, 23 mit lebenslanger Haftstrafe. 1968 sind an die 3.000 neue Ermittlungsverfahren neu eröffnet worden. Doch für die Studentenbewegung war das kein Thema. Es gab kein Teach-in dazu, Sie finden in keiner linksradikalen Zeitung dazu Artikel. Es wurde öffentlich verhandelt: über Treblinka, Sobibor, Belzec, Auschwitz, Sachsenhausen. Täglich stand etwas darüber in der Zeitung. Die Vergasungsversuche durch das Reichskriminalpolizeiamt wurden thematisiert. Aber die Studenten interessiert es nicht …

Wie erklären Sie sich das?

Aly: Die Bewegung flieht vor der NS-Zeit in ein theoretisches Gebäude und in den Internationalismus. Und der Internationalismus heißt – deutlich in der Parole USA – SA – SS –, die Last der deutschen Vergangenheit nach außen zu exportieren, verdünnt und verallgemeinert, denn es ist überall Faschismus. Das ist eine Flucht aus der eigenen Nationalgeschichte. Das machte die Sache attraktiv. Und zwar nicht, weil die Gesellschaft über die NS-Zeit schwieg – sondern weil sie davon redete.

Rutschky: Herr Aly, Sie wissen, dass es 1968 viele NS-Prozesse gab. Schön – aber die Justiz konnte doch dieser Schuld nicht gerecht werden. Sie kann Täter lebenslänglich einsperren – aber das reichte doch nicht. Wir fühlten uns damals alle schuldig. Wir sind ins Ausland gereist und haben Englisch gesprochen, weil wir wussten – „Scheiße, wir kommen aus diesem Land“. Bei meiner ersten Auslandsreise mit den „Falken“ wurden wir noch angepöbelt. Ich habe das ja verstanden. Auch wenn wir das als sozialistische Jugend ungerecht fanden.

Aly: Wenn Sie glauben, Sozialdemokraten hätten prinzipiell mit dem Nationalsozialismus nichts zu tun gehabt, irren Sie.

Rutschky: Na, Sie haben ja eine moralische Lupe vorgeschaltet, die ist ja schon richtig lebens- und menschenfeindlich. Da gibt es nicht den Funken eines Konsenses zwischen uns. Sie suchen so richtig bösartig nach den Schuldspuren in der Vergangenheit, und Sie sehen nicht, was ’68 in der Breite bewirkt hat, nämlich eine Grundwelle von Liberalisierung und Demokratisierung.

Herr Aly, wie kann denn eine, wie Sie sagen, totalitäre Bewegung wie die Achtundsechziger-Bewegung zu einer kulturellen Liberalisierung führen?

Aly: Durch eine Niederlage. Dafür muss man sich die Geschichte der Bundesrepublik veranschaulichen. Das Konservative der Adenauer-Republik nach 1945 war historisch gesehen notwendig. 18 Millionen Männer waren Soldaten gewesen und haben ganz Europa verwüstet. Sie kamen traumatisiert zurück, weil ihnen die Gewalt auf die eigenen Köpfe gefallen ist – Gott sei Dank. Nach diesem Größenwahn musste dieses Volk einfach zur Ruhe gebracht und gedeckelt werden. Deswegen der Reformstau in der Adenauer-Ära, diese Bewegungsunfähigkeit. Zwischen den Jugendlichen herrschte nach 1945 ein enorm gewalttätiges Klima. Es gab einen Sadismus auf dem Schulhof, das glaubt heute kaum einer mehr. Die Zwischengeneration – die Generation Kohl, die Wapnewskis und Dahrendorfs – spürten dieses Dumpfe und wollten mehr liberale Reformen. Die waren am Anfang Sympathisanten der Studentenbewegung. Selbst Kohl findet in seinen Erinnerungen positive Worte über die Studentenbewegung. Aber diese Generation Kohl wandte sich 1968 ab, weil sie merkte: Da steckt etwas Wildes, Totalitäres drin. So wird diese große Chance verspielt. Die Studenten fielen in den Totalitarismus zurück, in die Spurrillen unserer Dreiunddreißiger-Eltern, die ja auch schon eine Studentenbewegung ins Werk gesetzt hatten, die mit ähnlichen Methoden operierte hatten. Die „Bewegung“ – ein widerliches Naziwort – denunziert die ernsthaften Reformer als „Scheißliberale“. Deshalb hat die Studentenbewegung für die Liberalisierung der Republik eher einen verlangsamenden Effekt als einen beschleunigenden.

Frau Rutschky, Herr Aly, aus der Distanz betrachtet: Welchen Effekt hatte ’68 für die Republik?

Aly: 1967/68 war Ausdruck einer Gesellschaftskrise der Republik, die Studenten zeigten die deutlichsten Symptome dieser Krise. Die Gesellschaft hat sich in dieser Krise erneuert – im Erziehungssystem, im Schulwesen, in dem, was man unter Pressefreiheit versteht, in der Offenheit der eigenen Geschichte gegenüber.

Also ist es doch eine Geschichte zum guten Ende hin – angestoßen durch die Revolte?

Aly: Nein, nicht angestoßen durch die Revolte. Die Revolte war nur das Symptom. Die Achtundsechziger haben daran keine besonderen Verdienste.

Rutschky: Doch, haben sie. Viele Gesellschaften stecken in Krisen – ohne dass sich etwas ändert. Es stimmt: Es gab damals eine Mischung aus politischem Gangstertum und narzisstischem Größenwahn – vor allem bei Männern. Das hat Gerd Koenen in „Das rote Jahrzehnt“ gezeigt. Und vielleicht ist das noch nicht ganz aufgearbeitet.

Aber die Bundesrepublik brauchte damals – wohl mit allem Wahnsinn am linken Rand – diese Luft unter die Flügel. Das war die Studentenbewegung. Kann sein, dass viele für falsche Helden demonstrierten, aber sie haben gezeigt, dass man überhaupt demonstrieren kann. Die Krise allein hat gar nichts bewegt. Das haben damals junge Leute gemacht, die sahen, dass man etwas tun kann: im Bildungswesen, im Umgang der Behörden mit Bürgern, in der Öffnung des Kleinbürgertums nach außen. Es waren Leute, die später Bürgerinitiativen gründeten und nicht auf den Staat warteten. Und die keine Vorhänge mehr vor den Fenstern hatten.