Der schöne, schwule Kommunist

LEGENDE Das Literaturforum im Brechthaus hat eine große Konferenz über Ronald M. Schernikau veranstaltet. In Berlin starb der Schriftsteller 1991 mit nur 31 Jahren an Aids. Doch das Werk bleibt quicklebendig

Narrative Konstruktionen von Sexualität im Dienste der Utopie: Ist Kommunismus bei Schernikau eine Chiffre für freie sexuelle Identitäten?

VON STEFAN HOCHGESAND

„Wenn ich mit allen nett sein wollte, mit denen ich nicht schlafe, hätte ich viel zu tun. Also bin ich nett zu denen, mit denen ich schlafe. Das ist Politik.“ Ein typisches Bonmot des schwulen Kommunisten Ronald M. Schernikau. Er konnte eben ein ganz schöner „Pointillist“ sein, wie es ihm sein intellektueller Vater im Geiste, der bedeutende DDR-Dramatiker Peter Hacks, attestierte. Bei der Konferenz „lieben, was es nicht gibt“ über Literatur, Pop und Politik bei Ronald M. Schernikau im Brechthaus kommen auch sie für die 16 Vorträge, die Lesung und Musik: Menschen, mit denen Schernikau nett war. Das Brechthaus platzte am Donnerstag und Freitag aus den Nähten. Die gut hundert Plätze unten sind belegt. Manche zieht es auf die Empore. „Gehen Sie ein bisschen nach hinten, sonst stürzt der Balkon ab“, bittet man den Autor dieser Zeilen.

Es kommen viele junge Leute Anfang, Mitte 20. Sogar ein paar Schernikau-Lookalikes: mittellange dunkle Haare, zum Zopf gebunden. Große runde Brillengestelle aus Metall. Sie haben die DDR nicht mehr erlebt, doch Schernikau lockt sie. Wie kann das sein? Schernikau war einer, der zu sich stand und trotzdem weit über sich hinaus dachte. Der eloquente Mann, der jung und schön starb, bleibt über seinen Tod hinaus ein attraktives Faszinosum: der Witz, die Selbstironie, die Verve, das klare politische Credo. Zugleich ist er literarisch eine Herausforderung: Wer den frühen Bestseller, die Coming-out-„Kleinstadtnovelle“ genießt, ist noch längst nicht angekommen beim experimentellen 800-Seiten-Montage-Spätwerk „Legende“. Das ist übrigens zurzeit vergriffen, aber wird im Herbst beim Verbrecher-Verlag wieder aufgelegt – als erster von drei oder vier Teilen einer neuen Schernikau-Werkschau.

Coming-out in der Provinz

Die Schernikau-Renaissance ist also voll im Gange. Den Startstoß gab 2009 die Biografie „Der letzte Kommunist“, geschrieben von Matthias Frings. Seit November vergangenen Jahres ist die Schernikau-Hommage „Die Schönheit von Ost-Berlin“ am Deutschen Theater Berlin quasi immer ausverkauft. Vier Figuren, darunter eine Frau, sagen im Stück von Regisseur Bastian Kraft und Dramaturg John von Düffel, das fast ausschließlich aus Schernikaus Texten collagiert ist: „Ich bin Ronald Schernikau.“ Doch wer war Ronald Schernikau?

Als Schernikau sechs Jahre alt war, zog seine Mutter (die während der Konferenz mit Regenbogen-Strickjacke und Marienkäfer-Applikation im Publikum sitzt) mit ihm von Magdeburg nach Lehrte bei Hannover, eines Mannes wegen, der sich als Nazi entpuppt. Der junge Ronald wächst in der westdeutschen Provinz auf, als 18-Jähriger schreibt er das Buch, das ihn über Nacht zum Star macht: „Kleinstadtnovelle“. Danach will jahrelang kein Verlag mit ihm arbeiten. Schernikau studiert in Leipzig, was man heute Kreatives Schreiben nennt. Kurz vor Mauerfall siedelt er nach Ostberlin und wird als letzter Wessi wieder DDR-Bürger. Die Tagung bleibt, ein Glück, nicht beim Biografischen, sondern zoomt auf die Texte, auffällig oft auf die „Legende.“ Der Autor Dietmar Dath zeigt in seiner Analyse von Schernikaus Poetik anhand von pseudosimplen Sätzen wie „Der Kommunismus wird siegen werden“, wie Schernikau die Redeweisen von Kindern oder Alten imitiere, also Perspektiven von Leuten einnehme, die „entweder noch nicht viel vom Leben wissen oder nicht mehr viel von ihm wissen wollen“.

Stefan Ripplinger, Mitbegründer der Zeitung Jungle World, zeigt, wie Schernikau bei aller Pose, allem Glamour und Trash eine „glänzende Gegenwelt“ entworfen habe. Er sei tatsächlich nicht der letzte, sondern der erste Kommunist. Für banalen Agitprop war Schernikau dagegen nicht zu haben. Ein Redakteur wollte von ihm ein Gedicht gegen hohe Mieten. Schernikau spielte nicht mit. Der Redakteur: „Brecht konnte das aber!“

Sie müssen in die DDR

Die Germanistin Gisela Püschel, wegen Krankheit verhindert, betont in ihrem vorgelesenen Essay, Schernikau habe „Schwulsein aus Resten der Illegalität befreit“. Der Gender-Wissenschaftler Sven Glawion arbeitet heraus, wie narrative Konstruktionen von Sexualität bei Schernikau in den Dienst der Utopie gestellt werden. Kommunismus versteht Glawion auch als Chiffre für freie sexuelle Identitäten.

Die Kulturwissenschaftlerin Christine Künzel skizziert die enge Dichterfreundschaft zwischen Gisela Elsner und Ronald Schernikau. Matthias Brandt widmet sich im Vortrag dem biografisch so entscheidenden Briefwechsel mit Peter Hacks, der Schernikau schrieb: „Falls Sie ein großer Dichter werden wollen, müssen Sie in die DDR.“ Was der dann auch wollte und tat. Dennoch, so Brandt, habe sich Hacks zuweilen am „Rockigen und Modischen“ von Schernikau gestört. Thomas Wagner von der Jungen Welt unterstreicht die Bibelreferenzen Schernikaus, der freitags vor der Schwulengruppe in die Kirche ging, um den Thomanerchor zu hören. Für Schernikau sei Gott die Projektion eines Ideals von einer herrschaftsfreien Gesellschaft.

Während sich die älteren ReferentInnen stärker am Historischen (Georg Fülberth, Ursula Püschel) abarbeiten und am Verhältnis zwischen Literarischem und Dokumentarismus (Stefan Ripplinger, Helmut Peitsch), entdecken die Jüngeren einen ganz frischen Blick auf Schernikau, etwa in Gender-Fragen (Glawion) oder einer Nahbetrachtung von Schernikaus Komik in Figurenzeichnung und Sprachwitz (Laura Schütz). Für sie ist die Überlagerung von Fakt und fiktionaler Kunstfigur im autobiografisch eingefärbten Schreiben Schernikaus wohl nicht mehr problematisch. Und die politischen Positionen wollen sie weniger geschichtswissenschaftlich fruchtbar machen denn als Utopie für Gegenwart und Zukunft sehen.

Für einen Knall sorgt Marlies Janz, Schernikaus Lektorin der „Kleinstadtnovelle“. Sie sieht, besonders durch Mathias Frings’ Biografie einige „Mythen“ über sich und die Novelle im Umlauf, die sie entzaubern will: Sie habe das Manuskript keineswegs kräftig eingekürzt oder massive Kürzungen verlangt. Schernikau selbst attestiert sie „verzeihliche Selbststilisierung eines jungen Autors“: Keineswegs habe der Rotbuch-Verlag damals, wie von Schernikau und Frings behauptet, sofort zugegriffen. Und den Titel habe sie als Lektorin nicht eigenmächtig von „Die Umarmung“ zu „Kleinstadtnovelle“ geändert. Vielmehr habe das Verlagskollektiv Ronald Schernikau mehrere Vorschläge gemacht, und Schernikau habe dann selbst gewählt. Bum!

Eine Werkausgabe kommt

Thomas Keck bekommt Applaus, als er verkündet, dass der Schernikau-Nachlass noch im ersten Halbjahr 2015 an die Akademie der Künste übergeben werde. Ein Schatz für Schernikau-Fans, allein 2.500 Seiten Klebefassungen und Schnipsel zur „Legende“. Briefe, Briefdurchschläge, Arbeitsaufträge, aber auch Fotos von DDR-Sportlern und DDR-Schlagersängern, sogar Kinokarten. Aber auch fertige Gedichte. Ein immenses Tagebuch. Der Umzug des Nachlasses hat allerdings zur Folge, dass er ein halbes Jahr lang nicht einsehbar sein wird.

Gute Nachricht bringt Jörg Sundermeier, Verleger des Verbrecher-Verlages: Über die Werkausgabe wolle er auch den Nachlass erschließen, „damit Referentinnen und Referenten auf zukünftigen Konferenzen ihn zitieren können“. Auf schicke Hardcover, die er als „Buchspießer“, wie er sagt, schätze, wolle man hingegen verzichten: „Wir würden damit einen Grabstein bauen.“

Das letzte Wort geht an Ronald Schernikau. O-Töne aus dem grandiosen Rias-Interview mit Erika Runge spielt man im Brechthaus ein. Es war das letzte Interview, das Schernikau vor seinem Tode 1991 in Berlin gab. Schernikau sagt darin: „Für mich ist der Sozialismus nicht nur eine Idee – er ist etwas, das auch verwirklicht werden will.“ Im Kleinen sei er pessimistisch, im Großen optimistisch. Und was für ihn der Sinn des Lebens sei? „Zu leben.“ Einen Monat später starb er, an Aids. Sein Werk, es ist lebendiger denn je. Seine Fans feiern ihn. Und auch der Applaus am DT gilt sicher nicht bloß der witzigen Inszenierung, sondern auch Schernikau selbst. Das gesteht sogar der Dramaturg von Düffel ein. So schön, dass die „Legende“ im Herbst wieder geliefert wird. Antiquarisch kostet sie zurzeit leicht 200 Euro.