Zeugen der Anklage

Er war selbst KZ-Häftling in Dachau und in Neuengamme und hat 35 Jahre lang die Erinnerungen anderer Häftlinge gesammelt: Heute gehen große Teile des Hans-Schwarz-Archivs in den Besitz der KZ-Gedenkstätte Neuengamme über

VON PETRA SCHELLEN

Er war hartnäckig bis zur Manie und hat Unwiederbringliches bewahrt: 35 Jahre lang hat Hans Schwarz, ehemaliger KZ-Häftling, Häftlingserinnerungen gesammelt und zu einem Archiv verbunden, das heute von der Hamburger Forschungsstelle für Zeitgeschichte an die KZ-Gedenkstätte Neuengamme übergeben wird.

Unermüdlich hat Schwarz nach Ende des Zweiten Weltkriegs Mithäftlinge aufgefordert, ihre Erinnerungen aufzuschreiben, damit keine Information verloren gehe. Eine Akribie, die den Historikern wertvolle Quellen bescherte. Denn in den Achtzigern, als die etablierte Wissenschaft sich für KZ-Geschichte zu interessieren begann, lebten viele Zeitzeugen schon nicht mehr. „Er hat eine Quelle generiert, die schon in den Sechzigern in dieser Form nicht mehr existierte. Ohne Schwarz’ Arbeit hätten wir wesentlich weniger Informationen aus erster Hand zu Neuengamme und Dachau – den Lagern, in denen er selbst gesessen hat“, sagt Axel Schildt, Leiter der Forschungsstelle für Zeitgeschichte.

Begonnen hatte die politische Laufbahn des 1904 in Wien geborenen Lehrers Hans Schwarz unspektakulär: Schon als Jugendlicher suchte er Kontakt zu sozialdemokratischen, später zu kommunistischen Organisationen. Ab 1935 arbeitete er für den illegalen österreichischen kommunistischen Jugendverband. 1937 wurde er dafür verhaftet und kurz darauf ins KZ Dachau gebracht.

Dass er dort aufgrund schwerer Misshandlungen einen Schlaganfall erlitt, verbesserte mittelfristig seine Überlebenschancen: Ab sofort wurde er in Dachau und ab 1944 in Neuengamme als Lagerschreiber eingesetzt, der Häftlings-Karteikarten anlegte. Etliche dieser von ihm selbst geschriebenen Karten bilden den Grundstock des Archivs, das seit heute zu zwei Dritteln im Neuengammer Dokumentationszentrum lagert. Anlass der Verlagerung ist der Umzug der Forschungsstelle für Zeitgeschichte, die bis vor zehn Jahren Forschungsstelle für die Erforschung des Nationalsozialismus hieß.

Die Idee, das Archiv den Neuengammer Forschern zu übergeben, existiere aber schon seit einigen Jahren, sagt Schildt. Als „sehr seltene Quelle“ bezeichnet der Forschungsstellenleiter das Archiv, das aus zehn Regalmetern mit Aktenordnern besteht. Bedeutsam sei vor allem die Tatsache, dass diese Texte „vor der politischen Spaltung der Erinnerung“ verfasst worden seien. Will sagen: Bevor sich 1948/49 West- und Ostfraktionen unter den Historikern bildeten und Zeitzeugen ihre Berichte infolge des Kalten Krieges politisch zu filtern begannen. Das habe sich insbesondere auf die Beschreibung der Funktionshäftlinge ausgewirkt, sagt Schildt. „Die Rolle der Kapos – der Häftlinge die den anderen überstellt waren – wurde ab 1949, je nach politischer Couleur, verzerrt oder geschönt.“ Politisch ungefilterte Berichte wie die Schwarz’schen, die in den ersten Nachkriegsjahren entstanden, seien deshalb äußerst selten.

Und wenn auch Hans Schwarz, so Schildt, kein „strammer Kommunist“ gewesen sei, habe er nach dem Krieg doch wenig Vertrauen zu den Institutionen des Westens gehabt. Ins Hamburger Staatsarchiv wollte er seine Sammlung deshalb in den Sechzigern, in denen die KPD hierzulande verboten war, nicht geben, „weil er nicht sicher war, wie verantwortungsvoll staatliche Institutionen mit Archivgut der Arbeiterbewegung umgehen würden“, sagt Schild. Den KPD-Archiven der DDR wollte er seine Sammlung aber auch nicht anvertrauen, denn dann wären sie der Forschung nicht mehr zugänglich gewesen. Also gingen sie 1974, vier Jahre vor Schwarz’ Tod, an das Hamburger Institut für Zeitgeschichte, das sich damals noch ausschließlich dem Nationalsozialismus widmete.

Und wenn Schwarz auch nicht der Einzige war, der systematisch Erinnerungen sammelte, „ist eine solche Sammlung doch selten“, sagt Schildt. Movens des Sammelns sei „der berühmte Schwur der Häftlinge von Buchenwald, die dies niemals vergessen lassen wollten“.

Schwarz’ wichtigstes Ziel in den ersten Nachkriegsjahren war allerdings weniger Gedenken, denn konkrete Unterstützung der Justiz, sagt Reimer Möller, Archivar der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. „Schwarz war eine Art Vermittlungsagentur, würde man heute sagen“, sagt er. „Denn nach kurzer Zeit hatte sich herumgesprochen, dass Schwarz zu etlichen Sachverhalten Zeugen benennen konnte. Er war der Erste, den die Ermittlungsbehörden fragten, ob er nicht einen Zeugen nennen könnte.“ Er konnte. Schwarz kannte etliche – auch durch seine Arbeit im Internationalen Häftlingskomitee und in der Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes. Als Zeugen schlug er meist ehemalige Funktionshäftlinge vor, die mit den SS-Leuten auf den Zimmern gesessen und deren System aus der Nähe studiert hatten. „Manchmal hat er sogar in Eigenregie vorrecherchiert und ehemalige Häftlinge gefragt, ob sie zu einem bestimmten Sachverhalt aussagen könnten“, sagt Möller.

Andererseits war Schwarz selbst einer jener oft unbeliebten Funktionshäftlinge, die Macht über andere ausübten. Schwarz nutzte sie – allerdings zum Vorteil der Gefangenen: „Da konnte man durchaus Eintragungen in den Karteikarten vornehmen, die dem Häftling bessere Arbeitsbedingungen bescherten“, sagt Schildt. Das habe Schwarz wohl auch getan.

Aber Schwarz agierte nicht nur hinter den Kulissen: Er sagte auch als Zeuge aus – in den Hamburger Curiohaus-Prozessen von 1946, in denen es um die Täter von Neuengamme ging. Auch andere taten das; einige reisten damals durch ganz Europa, um vor Gerichten auszusagen. Auch ihre Erinnerungen liegen im Hans-Schwarz-Archiv.