Da, wo die Obsessionen alles Tun bestimmen

MUSIKTHEATER Fröhliche Altersweisheit zeichnet die selten gespielte Oper „Phaedra“ von Hans Werner Henze aus. An der Oper Halle macht der junge Regisseur Florian Lutz daraus einen gegenwärtigen Psychothriller und trotzt einer widrigen Kulturpolitik

Was man freilich hört, ist, dass hier ein Genussmensch am Werke war, der sich nie um irgendwelche Dogmen der Moderne kümmerte

VON JOACHIM LANGE

Eine Opernuraufführung wird heute pflichtschuldig vom Feuilleton gewürdigt. Schon mit den ersten Nachfolge-Inszenierungen haben es Novitäten aber schwer. Besonders an mittleren Bühnen, wie etwa der Oper in Halle, braucht es da eine besondere Kraftanstrengung. Oder einen Intendanten mit einer eigenen Beziehung zu einem solchen Werk. Die hat Opernchef Axel Köhler zu Hans Werner Henzes (1926–2012) „Phaedra“, sang er doch bei der Uraufführung die Göttin Artemis.

Gegen Ende seines Lebens hat der in den 50er Jahren aus der Enge der Nachkriegsbundesrepublik ins Traumland der deutschen Künstler, Italien, entflohene Henze die ihm zugewachsene Rolle als Grandseigneur der musikalischen Moderne auch in der alten Heimat genossen. Er reiste oft aus seinem mediterranen Refugium zu den Aufführungen seiner Werke an. Auch 2007 nahm der greisenhafte Mann in der Mittelloge der Lindenoper in Berlin die Huldigung des Publikums vor der Uraufführung seiner „Phaedra“ entgegen.

Es ist die Geschichte der verbotenen Liebe Phaedras zu ihrem Stiefsohn Hippolyt, die Henze als seine 14. Oper komponierte, mit seinem Wunschlibrettisten Christian Lehnert. Als Hippolyt Phaedra zurückweist, verleumdet sie ihn mit einem erfundenen Übergriff. Da der Beschuldigte vor dem heimkehrenden Ehemann und Vater Theseus aber schweigt, wird er von ihm getötet. Bei Henze findet diese Tragödie eine Fortsetzung im Jenseits, bei der die Götter Hippolyt in neuer Gestalt wieder zusammensetzten. So wird das tragische Geschehen auf Erden mit der musikalischen Geste einer fast fröhlichen Altersweisheit gebrochen und dialektisch aufgehoben.

„Phaedra“ ist schon mehrfach nachinszeniert worden. Die Deutung von Regisseur Florian Lutz in Halle musste jetzt widrigen, kulturpolitisch-budgetären Rahmenbedingungen abgerungen werden. Die Landesregierung in Magdeburg macht es mit ihrem Austrocknungskurs der lebendigen Opern- und Theaterszene und besonders ambitionierten Projekten in Sachsen-Anhalt immer schwerer. Zum Glück behielten die Theaterleitung und das Regieteam den langen Atem und die Nerven und ließen sich auch nicht davon abschrecken, dass die Aufführung nicht wie ursprünglich vorgesehen im neuen theater (dem Schauspiel in Halle), sondern im Opernhaus über die Bühne gehen konnte.

Die flippige Werbung verspricht einen Reißer, und den gibt es jetzt tatsächlich. Der Psychothriller beginnt mitten aus dem anfangs einmal hochgefahrenen Orchester. Die klein besetzte, mit exotischem Schlagwerk verstärkte Staatskapelle unter Robbert van Steijn zieht mit einer Spätwerk-Klangwelt von Anfang an in den Bann. Dass Henze dieses Werk Erschöpfungszuständen an der Grenze zum Tode abgerungen hat, gehört zum biografischen Hintergrund. Was man freilich hört, ist, dass hier ein Genussmensch am Werke war, der sich nie um irgendwelche Dogmen der Moderne kümmerte. So erwächst der musikalische Sog aus der beklemmenden Eloquenz, die die Sänger fordert, und aus der aparten Schönheit der Musik.

Im Spiegel der Götter

Genau dem entspricht der szenische Psychothriller, den Florian Lutz, 35, als einer der interessantesten Regisseure seiner Generation aus diesem Lehrbeispiel des Obsessiven gemacht hat. Sein Ausstatter Sebastian Hannak hat dazu effektvoll ein Labyrinth aus weißen Wohncontainern auf die Drehbühne gestapelt, das mit seiner knappen Einrichtung klar auf unsere Gegenwart verweist. Die egalisierenden Kostüme spiegeln die handelnden Menschen bewusst in den lenkenden Göttern wider.

Hier sehen sich alle zum Verwechseln ähnlich. Es ist ein bewusstes Spiel mit dem „Wer bist du und wenn ja wie viele?“ und treibt die Irritation auf die Spitze. Die blonden Lockenperücken zu den Mehrtagebärten für alle gehören zu einer Melange aus Marilyn, Hipster und Conchita Wurst jenseits der Geschlechterrollen. Alles fängt mit einem verhängnisvollen Griff über genau jene Grenze an, wenn Phaedra vergeblich den in seinen Körper verliebten Stiefsohn Hippolyt begehrt.

Es kommt, wie es kommen muss: Phaedra bringt sich theatralisch in der Badewanne um, und vom kurzerhand getöteten Sohn singt nur noch das abgetrennte Haupt aus den Sofapolstern weiter. Wenn die ganze Welt auch tatsächlich als Spiegelung der Räume auf dem Kopf steht, fangen die Götter an, die Geschichte im Jenseits zu korrigieren. Das wirkt makaber und grotesk, aber auch irgendwie heiter.

Da, wo Obsessionen alles Tun bestimmen, der Tod das Spiegelbild der Liebe ist und es im Jenseits „Alles auf Anfang“ heißt, da kann es auch auf der Bühne nicht geradlinig und eindeutig zugehen. Allein die fabelhaften Protagonisten behalten in dieser klugen Inszenierung den Durchblick. Allen voran die exzellente Olga Privalova als Phaedra und der wunderbar flexible Robert Sellier als Objekt ihrer Begierde, Hippolyt. Aber auch Ulrich Burdack als Theseus und die beiden Göttinnen Aphrodite (Ines Lex) und Artemis (Counter Michael Taylor) stehen dem in nichts nach.

Mit dieser „Phaedra“ ist die Oper in Halle programmatisch, szenisch und musikalisch auf der Höhe der Zeit! Und setzt damit den Zeitläuften das Potenzial und die Kompetenz einer in Wahrheit hochmodernen Kunstform entgegen!