Jenseits von Strand und Samba

FESTIVAL Seit zehn Jahren erzählt Cinebrasil mit seiner Auswahl an Filmen von der Vielfalt der brasilianischen Gesellschaft

Die Erzählstruktur in „Os Pobres Diabos“ entspringt der Tradition Nordostbrasiliens

VON MARLENE GIESE

Zum zehnten Mal findet in diesem Jahr vom 13. bis 18. März das brasilianische Filmfest Cinebrasil im Babylon Mitte statt. Und vor über zehn Jahren hat Regisseur Fernando Mereilles „Cidade de Deus“ („City of God“) gedreht. Farbgewaltig und knallhart erzählte er vom Leben in der Favela im Südwesten Rio de Janeiros. Ein Kassenschlager, hofiert auf den Filmfestspielen dieser Welt, für vier Oscars nominiert. Doch für die Schauspieler blieb vom schnellen Ruhm fast nichts übrig. Der Dokumentarfilm „Cidade de Deus – 10 Anos Depois“ („City of God – 10 Jahre später“), der jetzt bei Cinebrasil läuft, wirkt ernüchternd bei der Betrachtung ihrer Biografien, die nicht zuletzt von der Hautfarbe abhängig sind.

Mit Ausnahme von Seu Jorge, der als Musiker mit seinem einzigartigen rauchigen Bariton zum Superstar wurde, ergattern die damaligen Darsteller heute nur sporadisch Rollen in Telenovelas oder am schlecht zahlenden Theater. Auch für Rubens Sabino, der „Neguinho“ spielte, war der Leinwanderfolg nur eine kurze Pause von seiner Lebensrealität. Kein Jahr später wird er wegen eines Raubüberfalls festgenommen und vor den Kameras der herbeigerufenen Presse abgeführt. Die internationale Karriere gelang ausschließlich Alice Braga. Ihre Rolle war zwar verhältnismäßig klein, aber der Moment, in dem sie sich am Strand zur Seite lehnt und ihrem Flirt einen Kuss auf die Wange drückt, schrieb Geschichte und machte Alice Braga, die hellhäutigste Darstellerin im damaligen Film, bekannt. Es folgen Filme mit Branchengrößen wie Will Smith und Anthony Hopkins. Die Schauspielerin Roberta Rodrigues, die sich selbst politisch unkorrekt als eine „Morena“ (Mulattin) bezeichnet und in „Cidade de Deus“ Berenice spielte, kämpft täglich mit dem Rassismus in Brasilien. Sie stellt ernüchtert fest: „Als dunkle Brasilianerin hat man es nicht leicht.“ Und in der Tat wird auf dem Bildschirm gern eine verzerrte Realität inszeniert. Weiße Schauspieler dominieren die Szene. Das ärgert auch Sidney Martins, Produzent und Veranstalter der brasilianischen Filmwoche: „Es ist doch absurd. Selbst wenn eine Fernsehserie im Gangstermilieu spielt, sind 90 Prozent der Schauspieler weiß! Das geht an jeder Realität vorbei.“ Mit der Auswahl der Dokumentationen und Spielfilme für Cinebrasil versucht Martins deshalb seit zehn Jahren, ein Bild von Brasilien zu vermitteln, das über Samba, Strand und Fußball weit hinausgeht. Er schärft den Blick für die gesellschaftliche Vielfalt.

„Colegas“ (Freunde) etwa von Marcelo Galvão ist ein Roadmovie, in dem erstmalig überhaupt in Brasilien Schauspieler mit Downsyndrom die Hauptrollen besetzen. Drei Freunde brechen aus einer Anstalt für Menschen mit Behinderung aus und machen sich in einem gestohlenen Auto auf den Weg nach Buenos Aires. Bewaffnet mit einer Plastikpistole leben sie von kleineren Überfällen und nehmen sich die Freiheiten, die ihnen bisher verwehrt wurden.

Regisseur Rosemberg Cariry verwendet in „Os Pobres Diabos“ (Die armen Teufel) eine fast vergessene komödiantische Erzählstruktur, die der Tradition Nordostbrasiliens entspringt. Im Film will die Theatertruppe Gran Circo Teatro Americano die Mitwirkung Luzifers an der Entstehung des internationalen Kapitalismus auf die Bühne bringen – und auch hinter der Bühne inszenieren sich zwischenmenschliche Dramen. Die audiovisuelle Umsetzung wirkt bisweilen trashig, ist aber in ihrer exzentrischen, übertriebenen Art eine ganz eigene Commedia dell’arte.

Der Eröffnungsfilm, „O Senhor do Labirinto“ (Der Herr des Labyrinths), erkundet das Leben des 1989 verstorbenen Avantgardekünstler Bispo do Rosário und den schmalen Grat zwischen Genie und Wahnsinn. Er ist 29 Jahre alt, als er 1938 wegen Schizophrenie in die Psychiatrie kommt. Bis zu seinem Tod fünfzig Jahre später wird er dort bleiben. Mit avantgardistischen Objekten, Stickereien, Assemblagen und Skulpturen schafft es Rosario, die Krankheit, so gut es geht, in Schach zu halten und den Alltag zu bewältigen. Ein wichtiges Element seiner Werke ist Sprache: Er bestickt Gegenstände mit seinen zumeist heiligen Botschaften: Bettlaken, Tagesdecken, alte Uniformen und Kleidung. Hinter den Mauern der Anstalt nehmen seine Werke bald einen ganzen Gebäudetrakt ein. Als eine junge Sozialarbeiterin befreundeten Journalisten von ihm erzählt und ein Filmteam über Rosario berichtet, macht ihn das zu einem der bedeutendsten Künstler Brasiliens. Seit Beginn der neunziger Jahre wurden seine Arbeiten in Gruppenausstellungen in Brasilien und 1995 auf der Biennale in Venedig gezeigt, ein eigenes Museum in Rio betreut heute seinen Nachlass. Wäre Rosario kein Nachfahre afrikanischer Sklaven, wäre seine Biografie sicher eine andere gewesen.

■ Cinebrasil: 13.–18. März, Babylon Mitte, www.cinebrasil.info