Wo Teejungen und Roma lebten

STADTPORTRÄTS Im siebten Band der corsofolio-Städtereihe zeigt uns Wilhelm Genazino ein umkämpftes Istanbul

Eine Ruine, „die ihre Stimme verloren hat“

VON INGO AREND

Aus der Ferne glich Istanbul der sagenhaften orientalischen Metropole, die wir hatten besuchen wollen. Minarette, Kuppeln, Türme schimmerten wie mit Gold übergossen.“ So wie der Steinbildhauer Albin Kranz in Christoph Peters’ Roman „Das Tuch aus Nacht“ aus dem Jahr 2003 blicken heute viele Menschen immer noch auf die Stadt am Bosporus. Istanbul ist zwar längst kein Märchen aus Tausendundeiner Nacht mehr, zieht aber immer noch dieselben Projektionen auf sich.

Dass ein neuer Band der Corso-Städtereihe ausgerechnet das hippe Istanbul als „sterbende Schöne zwischen Orient und Okzident“ sieht, wirkt wie die elegische Variante dieser Obsession. Doch der „Schwebezustand zwischen Sehnsucht und Versagung“, den der Schriftsteller Wilhelm Genazino, „Gastgeber“ bei seinen Spaziergängen durch die Viertel der kleinen Händler und armen Leute, zu spüren meint, ist kein süßlicher Neoorientalismus. Schließlich hatte schon Literaturnobelpreisträger Orhan Pamuk hüzün, das Gefühl einer unbestimmten Trauer, zur mentalen Konstante seiner Stadt gemacht. Und tatsächlich findet sich ein Schimmer dieser flüchtigen Substanz auf den Gesichtern der Menschen, denen die Fotografin Janet Riedel auf den Fähren oder Basaren begegnet ist.

Die Schriftsteller, Journalisten und Künstler, die in Corso Istanbul zu Wort kommen, belassen es nicht bei Sightseeingtipps. Ob man Karl-Markus Gauss in das Istanbul der osteuropäischen Migranten im Tashan-Basar folgt oder Özlem Topcu in das Atelier der jungen muslimischen Modemacherin Rabia Yalcin in den Sex-and-the-City-Stadtteil Nisantasi: Hier öffnet sich die Tür zu einer Welt jenseits der Panoramatapeten in den Reisebüros.

Und wer mit Ulli Kulke einen Ausflug zur Galatabrücke unternimmt, erfährt, dass Istanbul immer ein europäisches und ein orientalisches Gesicht hatte. Doch dieser Mikrokosmos verschwindet. Die Reportagen von Michael Thumann und Cornelia Tomerius lassen erahnen, welche Veränderungen einer Stadt bevorstehen in einem Land, das in den nächsten zehn Jahren unter die Top Ten der Weltwirtschaft aufrücken will. Sie beschreiben, wie die alten Stadtteile Tarlabasi und Sulukule, der eine bis vor Kurzem Zufluchtsort für Prostituierte, Teejungen und Musiker, Quartier der Roma der andere, mit nahezu kriminellen Methoden für Stadtvillen und Firmensitze aufgekauft wurden. Die Soziologin Pinar Selek hält ihre Heimatstadt immer noch für eine Ruine, „die ihre Stimme verloren hat“. Doch der Titel „Istanbul, die sterbende Schöne“ meint den Albtraum der Globalisierung, in deren Schwerkraft die Stadt längst geraten ist. Eines nicht allzu fernen Tages werden vielleicht nur noch die Schwarz-Weiß-Bilder Ara Gülers an das Istanbul der sechziger Jahre erinnern. Resigniert seufzt der legendäre türkische Stadtfotograf: „Istanbul wird vernichtet, zerstört.“

Die Corso-Reihe ist eine geglückte Kreuzung aus Buch und Magazin. Sie vereint den schwelgerischen Genuss, den das Coffee-Table-Book beschert, mit dem kritischen Geist des Sachbuchs. Ob man der düsteren Prognose des Malers Bedri Baykam zustimmt, für den der Türkei mit Premier Erdogan ein „großer autoritärer Albtraum“ droht, oder ob man dem Unternehmer Bülent Eczasibasi glaubt, der unbeirrt an den Fortschritt in der Türkei glaubt: Jeder Beitrag dieses bemerkenswerten Buches macht klar, dass die Stadt nicht wegen ihrer schimmernden Paläste und irgendeiner Exotik so fasziniert, sondern weil hier alle Widersprüche einer sich im Umbruch befindenden Welt direkt aufeinandertreffen.

■ „Istanbul, ‚sterbende Schöne‘ zwischen Orient und Okzident?“. Gastgeber: Wilhelm Genazino. Corsofolio 7, Corso Verlag, Hamburg 2011, 160 S., 26,95 Euro