Soll der Verfassungs-schutz abgeschafft werden?
Ja

KRITIK Rechtsextremistische Terroristen haben jahrelang gemordet. Die Überwachung hat versagt. Der Verfassungsschutz hat ein Legitimationsproblem

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Gesine Lötzsch, 50, ist eine der beiden Bundesvorsitzenden der Partei Die Linke

Ja, der Verfassungsschutz muss abgeschafft werden, denn er schützt unsere Verfassung nicht. Die verfassungsfeindliche NPD wäre wahrscheinlich schon längst verboten, wenn die Bundesregierung ihre V-Leute aus der NPD abgezogen hätte. Immer wieder müssen wir erleben, dass der Geheimdienst mit Steuergeldern faschistische Organisationen künstlich am Leben hält und offensichtlich auf dem rechten Auge blind ist. Wir beobachten im Augenblick den größten Verfassungsschutzskandal der Nachkriegsgeschichte. Doch die Bundesregierung ist sich keiner Schuld bewusst, obwohl sie die Aufsicht über die Geheimdienste hat. Es geht hierbei nicht um eine mangelnde Kooperation und Kommunikation zwischen den einzelnen Behörden, sondern vielmehr um eine Politik, die jeden Tag den Kampf gegen den Linksextremismus führt und die Bedrohung durch den Neofaschismus verharmlost. Die Verfassung wird durch engagierte Antifaschisten geschützt, die allerdings von der Bundesregierung kriminalisiert werden. Das muss endlich aufhören!

Anne Roth, 44, ist Medien- und Netzaktivistin und bloggt über Terrorismus-Diskurse

Der Verfassungsschutz ist auf dem rechten Auge blind. Das wussten alle, die es wissen wollten. Jetzt ist die Erkenntnis im Mainstream angekommen und wird nicht mal mehr mit Fragezeichen versehen. Die logische Konsequenz ist eine deutliche Zäsur – ein bisschen Kosmetik hilft nicht. Wenn V-Leute faktisch vom Amt Geld dafür bekommen, Nazi-Strukturen aufzubauen, muss die Verfassung vor dem Verfassungsschutz geschützt werden. Bis zu 800.000 Mark pro Jahr für V-Leute in den 90ern in Thüringen: Damit wurde nach ihrer Aussage auch der Thüringer Heimatschutz aufgebaut. Dazu werden Linke verfolgt, die sich dem entgegenstellen (oder -setzen). Dieser Geheimdienst ist so geheim, dass seine Arbeit weder Polizei noch Politik bekannt ist. Das ist auch nicht erst seit der „Zwickauer Zelle“ so. Wir brauchen weder Schnüffelei als Selbstzweck noch Schnüffelei, die Nazi-Strukturen unterstützt. Wenn im Verfassungsschutz noch ein Funken Verfassung übrig wäre, würde er selbst eine Auszeit beantragen.

Rolf Gössner, 63, ist Anwalt und Publizist. Er engagiert sich als Bürgerrechtsaktivist

Verfassungsschutzbehörden sollen dem Schutz von Verfassung und Demokratie dienen. Als Inlandsgeheimdienste sind sie jedoch selbst Fremdkörper in der Demokratie, weil sie mit ihren geheimen Strukturen, Mitteln und Methoden demokratischen Prinzipien der Transparenz und Kontrollierbarkeit widersprechen. Deswegen neigen Geheimdienste zu Verselbstständigung und Eigenmächtigkeit, Machtmissbrauch und Willkür. V-Mann-Skandale, wie sie aktuell oder im NPD-Verbotsverfahren aufgedeckt wurden, oder die systematische Ausforschung unbequemer Menschen und oppositioneller Gruppen haben System. Skandalgeneigte und kaum kontrollierbare Geheimorgane, die Demokratie und Bürgerrechten mehr schaden als nützen, gehören perspektivisch aufgelöst und durch gut ausgestattete unabhängige Forschungsinstitutionen ersetzt – offen arbeitende Einrichtungen, die Gefahren und Bedrohungen für die Gesellschaft seriöser analysieren, die Aufklärung und Politikberatung weniger interessegeleitet und ohne ideologische Scheuklappen gewährleisten könnten.

Nein

Günther Beckstein, 67, war Ministerpräsident und Innenminister in Bayern

Extremisten sind die Totengräber einer Demokratie. Gerade als Deutsche wissen wir, welche schrecklichen Auswirkungen extremistisches Gedankengut haben kann, wenn es in einer Gesellschaft und in einem Staat salonfähig wird. Wer „Nie wieder Krieg!“ fordert und wer möchte, dass in Deutschland nie wieder Minderheiten diskriminiert und verfolgt werden, der muss auch jeder Form von Extremismus eine Absage erteilen. Der Verfassungsschutz hat die Aufgabe, eben solche extremistischen Bestrebungen aufzuspüren und ihnen im Rahmen des gesetzlichen Auftrags wirkungsvoll zu begegnen. Es ist klar, dass das ein mehr als heikles Unterfangen ist, bei dem es auch zu Fehlern kommen kann. Aufgrund vereinzelter Fehler aber zu folgern, man könne auf den Verfassungsschutz zur Gänze verzichten, halte ich für so realitätsfern wie fatal. Ich jedenfalls möchte nicht, dass Extremisten in Deutschland jemals wieder ein fröhliches und unbeschwertes, weil unbeobachtetes Dasein haben können.

Michael Buback, 66, ist Chemie-Professor und Sohn eines RAF-Opfers

So wie nach Pilotenfehlern der Flugverkehr nicht beendet wird, sollte auch der Verfassungsschutz nicht abgeschafft werden. Wegen seiner enormen Befugnisse – er kann seine Informanten mit eigenständigen Vertraulichkeitszusagen schützen und er unterliegt keinem Strafverfolgungszwang – muss aber eine strenge Kontrolle erfolgen. Forderungen der Politik nach restloser Klärung genügen nicht. Sie wurden auch geäußert, als im Jahre 2007 bekannt wurde, dass eine zu „lebenslänglich“ verurteilte RAF-Terroristin Informantin des Verfassungsschutzes war. Im Prozess gegen Verena Becker ergab sich jetzt, dass der Verfassungsschutz im Jahre 1982 den Namen der Person, die in Karlsruhe drei Menschen ermordet habe, in einem Vermerk niedergelegt hat. Diese Verfassungsschutzakte ging sogar an den Generalbundesanwalt, der aber daraufhin kein Ermittlungsverfahren aufnahm. Anfang 2008 sperrte der Bundesinnenminister die Akte. Dies dient nicht der geforderten und versprochenen Klärung.

Lukas Klemenz, 21, Jura-Student aus Hannover, kommentierte auf taz.de

Der Verfassungsschutz sollte nicht abgeschafft, sondern verändert werden! Im Moment traut niemand der Behörde mehr über den Weg. Denn: Der Verfassungsschutz soll von ehemaligem NS-Personal aufgebaut worden sein. Mit seiner kruden V-Leute-Praxis hat er das NPD-Verbotsverfahren gesprengt. Und jetzt hat er vor lauter al-Qaida und „Linksextremismus“ eine Bande mordender Neonazis übersehen oder sogar unterstützt? Wenn sich selbst Nazis wundern, warum sie unbehelligt Andersdenkende terrorisieren können, dann wurde geschlampt. Das muss aufgeklärt werden. Allerdings untersteht die Behörde dem Innenministerium und spiegelt die aktuelle politische Linie wider. Und wenn der Verfassungsschutz ersatzlos abgeschafft wird, würde es nur noch schwerer, mittlerweile immer kompliziertere Nazi-Strukturen zu kontrollieren. Entschlossenes Vorgehen gegen rechte Gewalt ist aber wichtig für die Sicherheit unserer Gesellschaft. Der Verfassungsschutz muss seine bisherige Praxis und sein antiquiertes Weltbild ändern, um zu beweisen, dass er unverzichtbar ist. Dafür braucht es politischen Druck und Personalentscheidungen!