Der Kampf um die Deutungshoheit

ISLAM Liberale Muslime wollen eine andere Auslegung des Korans – und spüren gerade, was es heißt, eine Bewegung innerhalb einer Bewegung zu gründen

Für die Medien ist der Fall klar: Die liberalen Muslime gelten als die Guten, die Traditionalisten als die Schlechten

VON KARIN SCHÄDLER

Offenbart der Koran ewig gültige Regeln? Oder dürfen Gläubige den Text als ethische Richtlinie jederzeit selbstständig und freiheitlich interpretieren – unter der Berücksichtigung ihrer aktuellen Lebensumstände? Eigentlich ist das eine reine Glaubensfrage. An ihr kann man aber erkennen, was es für Prozesse auslösen kann, wenn eine Gruppe innerhalb einer Gruppe, eine Bewegung innerhalb einer Bewegung entsteht.

Die Auseinandersetzung über die Deutungshoheit zwischen textgläubigen und liberalen Muslimen ist nämlich nicht nur ein Wettbewerb um die göttliche Wahrheit. Die Wahrnehmung der nichtmuslimischen Gesellschaft funktioniert gemäß dem Schema: Moderner Muslim kritisiert traditionelle Muslime. Die Liberalen sind dabei die Guten, die Textgläubigen die Schlechten. Der moderne Muslim ist die Ausnahme, der traditionelle die Norm.

Die muslimischen Aktivitäten in Deutschland werden nun in dieses Schema eingeordnet, und zwar erst einmal von Nichtmuslimen. Denn nur so können liebgewordene Vorurteile über rückständige Muslime erhalten bleiben. Doch auch Muslime scheinen ihre eigene Gruppe zunehmend anhand dieses Schemas wahrzunehmen, während sie dieses Schema gleichzeitig kritisieren.

Aus der liberalen Strömung ist ein recht neuer Verein entstanden, der Liberal-Islamische Bund unter dem Vorsitz der Islamwissenschaftlerin Lamya Kaddor. An der Debatte über diesen Verein zeigen sich drei verheerende Folgen des Schwarz-Weiß-Denkens.

1. Das Raster dominiert die Diskussion

Wenn es nun eine Diskussion über einen Verein liberaler Muslime gibt, gilt dieser per Definition als der moderne Teil des Schemas. Denn das Ziel der Mitglieder des Liberal-Islamischen Bundes ist schließlich eine an freiheitlichen Werten orientierte, historisch-kontextuelle Auslegung des Korans sowie der Überlieferungen aus dem Leben des Propheten Mohammed. Das bedeutet zweierlei: Der Liberal-Islamische Bund ist diesem Schema zufolge eine Gruppe von Ausnahmemuslimen. Und alle anderen Muslime, so unterschiedlich sie auch sind, werden dem traditionellen Teil zugeordnet.

Beides ruft einen Sturm an Entrüstung hervor. Die Vorsitzende Kaddor lässt sich angesichts des Ausnahmevorwurfs zu der Aussage hinreißen, der Bund vertrete die „schweigende Mehrheit der Muslime“, obwohl es dazu keinerlei Zahlen gibt. Und aus der Masse der „anderen Muslime“ bilden sich etliche Kritiker des Bundes heraus, die sich unrechtmäßig dem traditionellen Teil zugeordnet sehen.

Alles, was das Schema nicht bedient, fällt ganz aus der Wahrnehmung heraus. Obwohl es selbstverständlich auch in den etablierten Moscheegemeinden und Islamverbänden viele Muslime gibt, die sich für eine selbstständige und freiheitliche Interpretation einsetzen. Ein Beispiel dafür ist Halima Krausen, die eine Moscheegemeinde in Hamburg leitet und progressiven Auslegungen folgt.

Die schärfsten Kritiker des Liberal-Islamischen Bundes sind interessanterweise keine wirklich traditionellen Muslime. Etwa der Blogger Omar Abo-Namous. Er sieht keinen theologischen Grund für die Trennung von Mann und Frau beim Gebet. Er kann auch der Interpretation folgen, dass vom Glauben abgefallene Menschen nicht bestraft werden sollen. Doch die Begründung von Lamya Kaddor, warum das Kopftuch obsolet geworden ist, findet er nicht nachvollziehbar. Und so landet er als Kritiker des Liberal-Islamischen Bundes doch wieder auf der traditionellen Seite des Schemas, obwohl er da wohl gar nicht hingehört.

Durch das Raster der Wahrnehmung fällt auch, dass die historisch-kontextuelle Lesart in einigen Punkten Konsens im Islam ist, etwa beim Thema Sklaverei. Wenig Beachtung findet auch, dass über die richtige Auslegung nicht nur unter liberalen Muslimen diskutiert wird.

2. Die Liberalen werden zu Muslimkritikern erklärt

Die Mitglieder des Liberal-Islamischen Bundes geraten durch das Schwarz-Weiß-Denken in eine seltsame Rolle. Weil sich herumspricht, dass sie einiges anders auslegen, treten viele Menschen mit Fragen an sie heran. Der Islamwissenschaftler Serdar Günes hat den Eindruck, dass sie dadurch dem Druck ausgesetzt sind, recht schnell Islaminterpretationen zu entwickeln. Dass es dann zum Teil an Tiefgang fehlt, ist vorprogrammiert und bringt neue Kritik und damit auch wieder neuen Druck mit sich.

Von Seiten nichtmuslimischer Politiker und Journalisten werden die Mitglieder des Liberal-Islamischen Bundes oft in die Rolle der Kritiker anderer Muslime gepresst. Wenn sie sich – zum Beispiel in Sachen Burkaverbot – gegen die öffentliche Meinung wenden, wird das weniger wahrgenommen als ihre Kritik an einem Mangel an Toleranz unter Muslimen in Deutschland. Dagegen wehren sich wiederrum alle, die sich für tolerante Muslime halten – auch wenn sie gar nicht gemeint waren.

3. Ein Austausch findet nicht statt

Ein Ziel des Liberal-Islamischen Bundes ist es ausdrücklich, Diskussionen über die Interpretation islamischer Quellen anzustoßen. Doch aufgrund der verqueren Konstellation findet der Dialog kaum statt. Im echten Leben begegnen sich die Antagonisten fast nicht. In den Diskussionen auf Webseiten wie Facebook überwiegt, wenn es wirklich anspruchsvoll wird, die persönliche Diffamierung. Durch das Schwarz-Weiß-Denken wird der Austausch fast unmöglich gemacht, weil sich immer jemand ungerecht behandelt fühlt. Dabei wäre es spannend, was beide Seiten sich zu sagen hätten.

Dass das möglich ist, zeigt ein Blick zurück die Vergangenheit. Denn der liberale Islam ist keinesfalls neue Bewegung. Er hatte seine Blütezeit zur Zeit der großen muslimischen Philosophen. Der bedeutendste von ihnen war der Richtersohn Abu Walid Ibn Ruschd, der im 12. Jahrhundert lebte. Für ihn funktionierte der Glaube nur durch einen kritischen Zugang: Erst verstehen, dann glauben. Sein intellektueller Gegenredner Abu Hamid Al-Ghasali sah das anders. Er wollte lieber klare Regeln herausfiltern, damit jeder Gläubige weiß, was erlaubt und was verboten ist. So entstand im Mittelalter ein intellektueller Wettbewerb – der konstruktiver ausgetragen wurde als heute.