Nachdenken über filmische Nähe

Das Prekariat, unbedingt ernst genommen: „Das Block“, ein Dokumentarfilm von Chris Wright und Stefan Kolbe, porträtiert vier Bewohner eines Wohnblocks im sachsen-anhaltinischen Gräfenheinichen. Was ist das, Würde?

Wie sich der Dokumentarfilm zu seinen Protagonisten stellt, darüber lässt sich endlos diskutieren. Meistens wählen Filmemacher Akteure aus, die repräsentativ für ein gesellschaftliches Phänomen sind; diese agieren und sprechen dann als Stellvertreter für andere, die sich in einer ähnlichen Situation befinden. Dass sie nicht spielen und nichts erfinden, ist unausgesprochenes Agreement; zugleich jedoch lebt jeder Film vom Charisma der Akteure, er steht und fällt mit ihrer Eloquenz und ihrer Ausstrahlung, und darin fließen Selbstentwurf und -inszenierung unweigerlich ein. Auch eine weitere Prämisse ist alles andere als evident. Ein Dokumentarfilm soll die Würde der Protagonisten umso weniger angreifen, je mehr sie auf der Verliererseite der Gesellschaft stehen. Doch was genau ist das, Würde? Und kippt allzu großer Respekt nicht in sein Gegenteil, insofern ein Filmemacher, der sein Gegenüber mit Samthandschuhen anfasst, dieses Gegenüber nicht ernst nimmt?

„Das Block“, der zweite Langfilm der Regisseure Stefan Kolbe und Chris Wright nach „Techniken des Glücks“, führt mitten hinein in solche Aporien. Er folgt seinen vier Protagonisten aus nächster Nähe. Die Kamera rückt ihnen so nah zu Leibe, dass man jedes geplatzte Äderchen, jede Hautschuppe und jede Zahnfüllung in Augenschein nimmt. „Das Block“ setzt sich aus radikal subjektiven Perspektiven zusammen; Kausalitäten und Bezüge erschließen sich nicht oder nur bruchstückhaft, und die Frage, was in den Erzählungen der vier Akteure Erfindung, was Wirklichkeit ist, stellt sich immer wieder von neuem, und zwar von den ersten Einstellungen an, in denen der etwa 60 Jahre alte Hans-Joachim Werner eine Angstattacke mimt.

So wie die Kamera sich an keiner Stelle zum Establishing Shot aufrafft, zu jener Einstellung, die Überblick und Orientierung gewährleistet, so sind auch die Erzählungen der vier Figuren wie einzelne Puzzleteile, denen der Kontext fehlt. Einheit stiftet einzig der titelgebende Wohnblock im sachsen-anhaltinischen Gräfenheinichen. In diesem Block leben die vier Protagonisten, doch erstens sieht man das Gebäude nie als ganzes, und zweitens dient es nicht als Ausgangspunkt für eine soziologisch fundierte Untersuchung. Nichts und niemand in „Das Block“ sagt: Schaut her, hier wohnen die Wendeverlierer und die Russlanddeutschen, die, denen die Gesellschaft Anerkennung und Teilhabe versagt. Schaut her, wir zeigen und erklären euch das Prekariat.

Im Fall von Hans-Joachim Werner etwa geht es niemals um den Typus – arbeitslos, seit der Schließung des Braunkohlekraftwerks im benachbarten Zschornewitz im Abseits –, sondern um den Mann selbst beziehungsweise um das Bild, das er von sich erschaffen möchte, um seine Nöte, seine Ängste, seine Liebe zu einer mysteriösen, immer abwesenden Frau. Dasselbe gilt für die übrigen drei Figuren: für den jungen Silvio Pforte, der, Platon zitierend, über die Mäßigung und die Möglichkeiten des Glücklichseins sinniert, für die alte Olga Anaeva, die bald nach Russland zurückgehen wird, weil sich in Gräfenheinichen niemand um ihr Grab kümmern würde, und auch für die rätselhafteste Gestalt, die seltsam alterslose Natalya Tscherkasskaya, die dichtet und malt, die sich aber, weil sie sehr schlecht Deutsch spricht, kaum artikulieren kann.

Damit kann „Das Block“ einen ganz schön gegen sich aufbringen. Wenn gegen Ende Hans-Joachim Werner eine – diesmal wahrscheinlich nicht von ihm selbst inszenierte – Angstattacke durchleidet, fragt man sich, ob Diskretion nicht eine feine Sache wäre und ob das geht: die Figur auf diese Weise in ihrem Elend zu präsentieren. Streben Kolbe und Wright nach einer besonderen Form der Einfühlung, die sich erst einstellt, nachdem alle Möglichkeiten der Distanzierung durchgestrichen sind? Oder geht es um wohligen Grusel? Oder um das markige Statement wider die dokumentarischen Konvention? „Das Block“ lässt keine andere Wahl, als lange über solche Fragen und damit über das Wesen des Dokumentarischen zu grübeln. CRISTINA NORD

„Das Block“. Regie: Stefan Kolbe, Chris Wright. Dokumentarfilm, Deutschland 2007, 75 Min., ab 18. 10. im Kino in der Brotfabrik