Über Jazz und Übermut

JAZZ Es kommt Schwung in die Hamburger Jazz-Szene: Zum zweiten Mal findet dieses Wochenende auf Kampnagel das Festival „Überjazz“ statt und lädt zu einem ausschweifenden Ausflug durch alle Kontinente der Jazzwelt – und immer noch ein bisschen weiter

Es war die eigentümliche Vielfalt und Offenheit, die das Festival auf Anhieb zum Erfolg werden ließ

VON ROBERT MATTHIES

Einen Riesenschritt nach vorn und einen noch größeren über sich selbst hinaus ist das Jazzbüro Hamburg im letzten Jahr mit der ersten Ausgabe des ebenso mutigen wie ambitionierten „Überjazz“-Festivals gegangen. Internationale Stars gemeinsam mit der lokalen Szene – die man noch vor gar nicht langer Zeit nur in einschlägigen Kellerclubs oder in ehrwürdigem akademischen Rahmen zu Gehör und Gesicht bekommen hatte – hatte das Netzwerk, das sich seit fünfzehn Jahren mit zunehmend spürbarem Erfolg für den Jazz in der Stadt stark macht, zwar schon in den Jahren zuvor bei den verdienstvollen „Hamburger Jazztagen“ auf der Bühne zusammengebracht. Immer auf hohem Niveau, dafür mit umso kleinerem Budget – und zu oft mit wenig Publikum.

Neue Auflage

Im letzten Jahr aber wurde die Reihe nun ganz neu aufgelegt, in enger Zusammenarbeit mit der Jazzredaktion des NDR – und vor allem mit finanzstarker Unterstützung durch zwei neue Kooperationspartner: Mit im Boot sitzen die Konzertagentur Karsten Jahnke und das Kulturzentrum Kampnagel. Und die haben nicht nur die Ressourcen, sondern auch den festen Willen, Hamburg mit dem übermütigen Festival langfristig einen festen Platz auf der internationalen Jazzlandkarte zu sichern.

Ordentlich gewachsen sind dabei nicht nur Budget und Rahmen: 23 Bands und Projekte waren im letzten Jahr an zwei Tagen auf vier Kampnagel-Bühnen zu erleben, dieses Jahr tummeln sich dort schon 150 Künstler_innen in 32 Bands. Größer wurde vor allem das musikalische Spektrum. Deutlich konnte man dabei schon im letzten Jahr die Handschrift der neuen Partner erkennen: das Jazzbüro zeichnet vor allem für den Auftritt der lokalen Szene verantwortlich, Karsten Jahnkes Agentur lässt ihre Kontakte zu internationalen Größen spielen – und bringt Konzerte im Überjazz-Rahmen unter, die auch ohne das Festival Selbstgänger gewesen wären – und Kampnagel kümmert sich um die Grenzgänger und zeitgenössischen Jazz-Pioniere.

Neues Terrain

Ihre Wurzeln haben alle Überjazz-Musiker_innen dabei zwar weiterhin irgendwie im ohnehin schon weit verzweigten Feld des zeitgenössischen Jazz. Klangsprachlich aber gehen sie dem programmatischen Titel entsprechend mitunter so weit über die gewohnten Sprechweisen hinaus, dass Puristen, die vom Jazz gewohnt sind, in Vergangenheitsform zu erzählen, ganz schwindelig wird: zum „Blackjazz“ im Death-Metal-Gewand der norwegischen Kombo Shining oder zum Hochgeschwindigkeits-Wahnsinn der japanischen Freaks von Soil & „Pimp“ Sessions hat sich die Dixieland-Fraktion letztes Jahr nur für kurze Stippvisiten verirrt.

Und auch sonst brauchte es offene Ohren: Mit Mulatu Astatke war der „Vater des Ethio-Jazz“ zu erleben, das Trio Rusconi präsentierte eine Jazz-Lesart seiner Helden Sonic Youth, der Isländer Ólafur Arnalds lotete die kammermusikalische Grenze des Jazz aus. Und auch der Jazzmainstream war neben Gitarristen-Legende John Scofield vor allem durch jene vertreten, die auf seiner vordersten Welle reiten wie der Jazzpianisten-Nachwuchsstar Jason Moran. Und es war gerade diese eigentümliche Vielfalt und Offenheit, die das Festival auf Anhieb zum Erfolg werden ließ: Über 3.000 Besucher_innen ließen sich durch Hallen und Foyer treiben, wer eines Konzertes überdrüssig wurde, schaute einfach in der nächsten Halle vorbei. Neuentdeckungen waren dabei vorprogrammiert.

Neue Entdeckungen

Auch in diesem Jahr gibt es jede Menge Neues und Außergewöhnliches zu entdecken. Ungewöhnlich ist schon Thomas Mareks Tap-Dance-Projekt, mit dem der Musiker, Tänzer und Choreograf die alte Kunst mit Bebop und Modern Jazz zusammenbringt. Die große Jane Birkin singt Samstagnacht mit japanischer Backingband Stücke ihres Ex-Lebensgefährten Serge Gainsbourg – ein Programm, dass sie nach der Atom-Katastrophe zusammengestellt hat. Wie weit man sich vom klassischen Bar-Jazz-Piano entfernen kann und dabei trotzdem dessen Essenz destilliert, zeigt The Unspeakable Chilly Gonzales. Sönke Düwers Ensemble Du Verre verwebt Jazz mit Americana, Spoken Word Poetry und Laptop-Elektronik, Goran Kajfes und das Subtropic Arkestra bringen Minimal Jazz, Syntheziser-Teppiche, und Post-Welt-Musik zusammen und auch der Pianist Hauschka erobert neues Terrain: für sein aktuelles Album hat er mit den Wüsten-Grenzrockern Calexico und dem Schlagzeuger Samuli Kosminen von den isländischen Experimental-Glitch-Folktronikern múm zusammengearbeitet.

Auf ihre Kosten kommen aber auch alle Freund_innen des „klassischen“ Jazz, die sich auf zwei absolute Legenden freuen dürfen: Jazz-Piano-Großmeister McCoy Tyner steht am Samstagabend mit seinem Trio auf der Bühne. Zusammen mit dem jungen New Yorker Sänger José James und dem Saxophonisten Chris Potter setzt er John Coltranes und Johnny Hartmans legendäres gemeinsames Album von 1963 zeitgenössisch um, an dem er als Mitglied von Coltranes Quartett beteiligt war. Garantiert voll wird es auch beim einzigen Konzert am Sonntagabend noch einmal: da ist Gitarristen-Legende Pat Metheny mit seinem Trio mit Larry Grenadier und Bill Stewart zu hören.

Alles in allem hat Überjazz damit zum zweiten Mal ein beeindruckendes Programm auf die Beine gestellt. Und macht Mut, dass Übermut eben doch mitunter gut tut.

■ Hamburg: Fr, 28. 10., Sa, 29. 10. und So, 30. 10., Kampnagel, Jarrestraße 20, Infos und Programm: www.ueberjazz.de