Kampf der falschen Minderheit

Der Feuilletonist Jürgen Kaube stört sich an Schwulen, Kopftuchträgerinnen und Gläubigen. Vor allem aber will er seine Privilegien behalten

VON MARK TERKESSIDIS

Vor 20 Jahren hätte wirklich niemand den FAZ-Autor Jürgen Kaube verdächtigt, vom gesellschaftlichen Durchschnitt abzuweichen. Er ist ein übergewichtiger Mittvierziger, der deutlich älter aussieht und einen Schnauzbart trägt. Allerdings haben sich die Zeiten geändert. Man mag sich kaum ausmalen, durch welche Schule der Körperformung Jürgen Kaube heute wohl gehen müsste, würden ihn knallharte Ausbilder der Mediengesellschaft wie „Germany’s Next Topmodel“-Juror Bruce Darnell in die Finger kriegen.

Was Kaube jedoch davor bewahrt, auf einem Plakat der jüngsten Sparkassenwerbekampagne zu landen („Wer die Trends verpasst, hat schlechte Chancen“), ist die Tatsache, dass er Feuilletonist bei der FAZ ist und in Deutschland als Denker gilt. Denker dürfen hierzulande einfach so aussehen. Man werfe nur einmal einen Blick auf die halbjährlichen Vorschauen der Verlage in der Rubrik Sachbuch: Ein im Vergleich zur Restbevölkerung überproportional hoher Anteil der Abgebildeten ist offensichtlich männlich, übergewichtig, faltig und würde Deutschland bei einer Bartweltmeisterschaft alle Ehre machen.

Tatsächlich müsste man diese Leute als eine Art Minderheit bezeichnen. Sie teilen ein bestimmtes Aussehen, einen Habitus, und ihre Aufgabe besteht darin, das schrumpfende Bildungsbürgertum der Bundesrepublik mit fein formulierten Deutungen der Welt, Informationen über spezifische Kulturgüter (Literatur, Theater, Oper etc.) und Stoff für gesellschaftliche Debatten zu versorgen. In Wahrnehmung dieser Aufgabe betrachtet sich Kaube aber keineswegs als Mitglied einer Minderheit.

Minderheiten sind schließlich stets die anderen – erwähnt werden etwa die Kopftuchträgerinnen, die Rechtsradikalen, die Nordic Walker, die Tätowierten, die Gruftis, aber auch die Gläubigen auf Kirchentagen und sogar der Bürgermeister von Berlin. Seiner Meinung nach gibt es einen „doppelten Befund“: „Die Individuen realisieren einerseits weniger kompakte und weniger an lokale Durchschnittlichkeit angelehnte Lebensweisen als früher. Andererseits ist die Zugehörigkeit zu einer Minderheit selbst zu einem gesellschaftlichen Durchschnittsfall mit durchaus expressiven Momenten geworden.“

Der herkömmliche „Normalverbraucher“ existiert nicht mehr, lautet seine Feststellung und der Titel seiner Aufsatzsammlung entsprechend: „Otto Normalabweicher“. Nun kann man mit Fug und Recht sagen, dass dieser Befund ein bisschen spät kommt. Schon seit den frühen 1990er-Jahren lässt sich einer Reihe von Untersuchungen der britischen und US-amerikanischen Cultural Studies entnehmen, dass die Mehrheit in Minderheiten zerfällt und diese Minderheiten immer sichtbarer werden. In Deutschland findet man ähnliche Gedanken bei Ulrich Beck oder Klaus Theweleit. Und mit Tom Holert hat der Rezensent vor geschlagenen elf Jahren einen Sammelband mit dem Titel „Mainstream der Minderheiten“ herausgebracht.

Nun könnte man erwarten, dass Kaube angesichts der mangelnden Originalität seines „Befunds“ zumindest mit neuen empirischen Beobachtungen aufwartet. Doch weit gefehlt. Kaube leitet seine Thesen im Großen und Ganzen aus Erlebnissen in Zügen der Deutschen Bahn ab. „In jedem Intercity Express“, so heißt es, „lässt sich die Kontrasterfahrung jener eigentümlichen Mischung aus Uniformierung des Personals und seiner von der Buntfärbung über den Haarschnitt bis zum Körperschmuck reichenden Individualisierung machen.“ Da ist es auch kein Wunder, dass solche Schaffner andere Minderheiten nicht zur Ordnung rufen – etwa lärmende Fußballfans, die Jürgen Kaube, wie man seinen Schilderungen entnehmen kann, ein klassisch bildungsbürgerliches Unbehagen bescheren.

Diese verstreuten Betrachtungen sind natürlich gar kein Befund, sondern die Formulierung eines Problems. Die Minderheiten rücken Kaube zu Leibe. Mittlerweile, so liest man in seinem Buch, beschweren sie sich über „Vorurteile“, sie sorgen dafür, dass man nicht wie früher einfach „Neger“ sagen kann. Und zu allem Überfluss werden sie auch noch durch Antidiskriminierungsgesetze geschützt.

Tatsächlich hat Kaube Angst. Angst davor, dass morgen Frauen, Homos, MigrantInnen, oder auch Topmodels und Superstars kommen und ihm etwas wegnehmen: die Deutungshoheit in erster Linie, aber bald vielleicht auch den Job. Noch muss er sich allerdings keine Sorgen machen. Denn die Minderheit, der er angehört, ist immer noch ziemlich einflussreich und wird angesichts des immer bedrohlicher wirkenden demografischen Wandels zweifellos einen harten Abwehrkampf führen.

Kaube ist ein Kulturkämpfer – ein Verteidiger der alten Norm der einheimischen, heterosexuellen, bärtigen Männlichkeit. Sein „Befund“ ist eigentlich eine Kampfansage. Statt über die Gestaltung der Zukunft nachzudenken, wollen Leute wie er einfach ihre Privilegien behalten. Er steht dabei in der zweiten Reihe der Abwehr – in der ersten findet man etwa Frank Schirrmacher, Hans-Ulrich Jörges, Matthias Matussek und Henryk M. Broder. Die Waffe dieser Kämpfer ist ihre Geschwätzigkeit. Diese Leute labern, bis auch noch der letzte originelle Gedanke aus diesem Land verdrängt sein wird. Noch können sie so weiter für Stillstand sorgen. Aber zumindest international ist schon jetzt klar: Die Denker in diesem Land sollten sich endlich die Bärte abrasieren.

Jürgen Kaube: „Otto Normalabweicher. Der Aufstieg der Minderheiten“. Klampen Verlag, Springe 2007, 190 Seiten, 16 €