Fremdenhatz

JAGD Waschbären und Grauhörnchen sind unerwünschte Einwanderer. Die Strafe für ihren Grenzübertritt lautet oft Tod. Warum?

■ Fremd: Unbestritten können Tiere und Pflanzen schädlich für Menschen sein, für Flora und Fauna, für die Landwirtschaft. Aber warum die spezielle Abneigung gegen fremde Tiere? Das EU-Parlament hat 2014 sogar eine eigene Verordnung gegen sie beschlossen: zur Eindämmung und Bekämpfung invasiver Arten. Die EU-Kommission fertigt dafür gerade eine Liste solcher Fremdlinge.

■ Vertraut: Doch auch Wildschweine zertrampeln Felder, Rehe zerstören Wälder, Füchse tragen gefährliche Würmer herum. Warum differenziert die EU beispielsweise nicht zwischen nützlich und schädlich, statt zwischen fremd und heimisch?

AUS KLOCKSIN UND MÜNCHEN MARIA ROSSBAUER
(TEXT) UND DIETER JÜDT (ILLUSTRATION)

Der Wind weht günstig, als Volker Koch wieder hinauszieht, um die Fremden zu jagen. Langsam stapft er durch den Matsch, vorsichtig, kein Zweig darf knacken. Dann bleibt er stehen. Ein Blick in den dunklen Wald. Dort, auf der feuchten Erde zwischen Schilf und Moor, könnte einer sein. Aus dieser Richtung kommt ein leichter Wind. Das ist gut, denn so riecht der Eindringling den Jäger nicht. „Wenn er uns riecht“, sagt Volker Koch, „ist er gleich weg.“

Und wenn er wegläuft, könnte man ihn nicht strecken, wie Koch das nennt, und nicht danach im Waldboden vergraben. Dann würde der Fremde wieder durch die Dörfer an der Müritz in Mecklenburg-Vorpommern ziehen, würde Mülltonnen umwerfen, Obst klauen, Reet aus den Dächern der Häuser reißen und Vögeln die Eier wegfressen. Darum gibt es für Koch nur eine Möglichkeit: erschießen. „Leider“, sagt er.

Denn eigentlich findet er die Tiere niedlich.

Volker Koch jagt Waschbären. Eine Menge Menschen sind der Meinung, Jäger wie Koch müssten noch viel mehr Waschbären erschießen. Und alle anderen Tiere, die so sind, wie die pelzigen Räuber aus Nordamerika: Unerwünschte, Dahergelaufene, Fremde.

Der Waschbär ist das, was Biologen eine invasive Art nennen. Ein Migrant der Natur. Einer, der einst von Menschen hergeschleppt wurde, sich nun neben den einheimischen Tieren und Pflanzen wohlfühlt und vermehrt. Ein Unheilstifter.

Die Vertreter dieser Parallelgesellschaften bringen Krankheiten, warnen Ökologen und Naturschützer, sie schaden Natur und Landwirtschaft, sie verdrängen heimische Arten, sie haben unkontrolliert Sex mit unseren Tieren. Der Bund für Umwelt- und Naturschutz zählt Milliardenschäden auf, die die Invasiven in Europa verursachen, der Präsident des Naturschutzbundes spricht von „ökologischen Zeitbomben“, der Spiegel von „Öko-Aliens“, im Internetlexikon Wikipedia steht das Stichwort „Biologische Invasion.“

Deutschland wird angegriffen. Und Deutschland schlägt zurück.

Koch lehnt sein Gewehr, noch ungeladen, an die Metallleiter des Jagdstuhls. Pullover, Jacke, Hut: waidmannsgrün, Haare, Dreitagebart: grau. Koch ist 64 Jahre alt.

Ein bisschen wirkt er wie ein Biologielehrer auf Exkursion. Wenn er nicht gerade zur Jagd geht, verkauft, repariert und wartet er auf seinem Hof in Klocksin Forstkräne, Sägespaltmaschinen, Seilwinden und andere Geräte, die Forstunternehmen brauchen.

Es ist kurz vor 18 Uhr, Januar, stockdunkel. Ein Bach plätschert, in der Ferne schreien Wildgänse, der Wind lässt verdorrte Schilfgräser rascheln. Sonst ist es still.

„Der Waschbär ist nachtaktiv“, sagt Koch, „so wie die meisten Räuber, der Fuchs, der Marderhund, der Dachs.“ Das sei das Problem bei der Jagd. Manchmal hockt er fünf Stunden nachts auf Hochsitzen, auf seinem Land, das direkt hinter seinem Haus beginnt, oder auf dem Gebiet der Gemeinde. Er sitzt, wartet und horcht in die Nacht.

Diesmal aber ist er früher da. Ein Kollege hatte eine Wildkamera installiert, die in den vergangenen Tagen schon um 18 Uhr Waschbären fotografiert hat. Der Himmel ist klar, der Vollmond wird gleich Felder, Sumpf und Moor erleuchten – eine wunderbare Jagdnacht.

Langsam steigt Koch die Leiter hoch, vorsichtig und leise, hebt Stufe um Stufe seine schweren grünen Stiefel. Dann greift er nach seinem Gewehr, zieht es zu sich nach oben und öffnet die Tür.

Vielleicht wird Koch in Zukunft noch öfter auf einen Hochsitz klettern. Denn seit Beginn dieses Jahres haben Fremdlinge wie die Waschbären ihr eigenes Gesetz. Alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union verpflichten sich dazu, invasive Arten abzuwehren. Die EU-Kommission erstellt derzeit eine Liste mit Tieren und Pflanzen, die sie als besonders gefährlich erachtet. Naturschützer in Brüssel sagen, dass es um etwa 100 Arten gehen soll.

Es wird ein Verbot geben, diese Tieren und Pflanzen einzuführen und mit ihnen zu handeln. Die Grenzen sollen strenger kontrolliert werden. Viele unerwünschte Tiere geraten versehentlich nach Europa – sie treiben im Ballastwasser von Schiffen, sie kleben an ihren Rümpfen. Sie verstecken sich in Containern, Obstkisten, im Gepäck. Andere haben Menschen hierher geholt, weil sie hübsch blühen, in einer Voliere lieblich zwitschern, weil es Spaß macht, sie zu jagen, oder weil sie Schädlinge fressen.

Die meisten zugezogenen Pflanzen und Tiere verschwinden schnell wieder. Sie überleben in der Fremde nicht. Manche aber finden eine ökologische Nische. Einen Ort, an dem sie sich wohlfühlen, sie kommen mit dem Wetter zurecht, sie haben Futter, und vielleicht sind sie hier sogar sicherer als in ihrer Heimat, etwa weil keiner sie auffrisst.

In den Vereinbarungen der EU-Länder wird es auch darum gehen, wie man die, die hier unerwünscht leben, wieder los wird. Für viele Wildtiere bedeutet das: Abschuss.

Ob Waschbären auf der Todesliste stehen werden, ist noch unklar. Sicher aber Schwarzkopf-Ruderenten und Grauhörnchen.

Dieser nordamerikanische Verwandte des europäischen Eichhörnchens lebt zwar gar nicht in Deutschland, doch das ist nur eine Frage der Zeit, warnen Wissenschaftler.

Mit vier Tieren fing es an. Ein italienischer Diplomat soll sie 1948 aus Washington mitgebracht und im Garten seines Hauses bei Turin gehalten haben. Heute springen sie in Norditalien hordenweise durch die Bäume. Bald könnten die grauen Tiere über die Alpen hopsen, dem heimischen Hörnchen seine Nistplätze streitig machen und die Eicheln wegfressen.

Lange bevor das Grauhörnchen Deutschland erreicht hat, ist die Angst vor ihm schon da.

Heidi Gallenberger weiß, was es heißt, wenn Menschen Tiere danach beurteilen, wie sie aussehen. Nach ihrer Farbe. Einmal rief eine aufgeregte Frau bei ihr an: Da ist ein verletztes Eichhörnchen in meinem Garten. Aber es ist grau! Soll ich dem jetzt überhaupt helfen? Heidi Gallenberger seufzte still und hielt ihren immer gleichen Vortrag: Natürlich helfen wir einem verletzten Tier, egal welche Farbe sein Fell hat. Europäische Eichhörnchen sind nicht immer rot. Manche kommen auch beige, schwarz oder eben grau zur Welt.

„Solche Anrufe bekomme ich ständig“, erzählt Gallenberger. Seit acht Jahren rettet sie Eichhörnchen. Rote und graue.

Gallenberger, 60 Jahre alt, sitzt in ihrem Wohnzimmer in München-Waldtrudering, sie trägt bequeme Hauskleidung, die weißblonden glatten Haare fallen ihr als Pony ins Gesicht. Überall stehen Säcke mit Walnüssen, die Temperatur ist hörnchengerecht kühl, es riecht leicht nach Stall. „Wir haben unser Zuhause der Eichhörnchen-Arbeit geopfert.“ Sie lacht. Heidi Gallenberger ist eine, die sich kümmert.

Begonnen hat es mit einem verwaisten Tierbaby, das eine Nachbarin brachte. Mittlerweile behandeln die Gallenbergers etwa 400 verletzte Eichhörnchen im Jahr. Wenn es sein muss, bezahlen sie mitten in der Nacht ein Taxi als Tiertransporter. „Es gibt bei uns keine öffentliche Auffangstation für Wildtiere“, sagt Heidi Gallenberger.

Ihren eigentlichen Beruf hat sie fast aufgegeben. Sie und ihre Tochter Sabine stehen nur noch sporadisch im Schreibwarenladen der Familie. Für ihre Eichhörnchen-Hilfe bekam Sabine Gallenberger im vergangenen Jahr den Bayerischen Tierschutzpreis. Sie sind ständig in Geldnot.

Wie man ein Eichhörnchen versorgt, haben die Gallenbergers von Tierärzten gelernt. Sie geben den Tieren, die sie aufnehmen, meist einen Namen. Neben der Couch rascheln Rosi, Santa, Luis, Pino, Arno und Puscheline in ihren Volieren.

England ist erobert. Wann fällt Deutschland?

Heidi Gallenberger nimmt einen Schluck Kaffee aus der Tasse mit dem Eichhörnchen darauf. Das Wohnzimmer ist voll von Eichhörnchentellern, Eichhörnchenporzellanfiguren, Eichhörnchenkuscheltieren, auf einem elektronischen Bilderrahmen ziehen Fotos von Eichhörnchen vorbei.

Seit einigen Jahren häufen sich Berichte über die Bedrohung durch das Grauhörnchen. Irgendwann sahen sich die Gallenbergers genötigt, Farbbilder von grauen und schwarzen Eichhörnchen auf ihre Flyer und die Homepage zu packen. Daneben der Hinweis: Das ist normal.

Einige Tierschutzorganisationen haben das auch getan. Damit aus der Furcht besorgter Bürger keine Gewalt wird.

Statistisch zählen in Deutschland 1.149 Tierarten zu den Neozoen. Das sind Tiere, die nach 1492 vom Menschen hergebracht wurden. Die Fahrt von Christoph Kolumbus nach Amerika gilt als Stichdatum, weil Handel und Verkehr bei der Einwanderung der Tiere und Pflanzen eine wichtige Rolle spielen.

Lediglich etwa ein Dutzend Tierarten in Deutschland gelten dem Bundesamt für Naturschutz als invasiv, also potenziell schädlich. Die EU-Kommission rechnet mit höheren Zahlen. Aber auch nach diesen Angaben haben sich weit mehr als 90 Prozent der Fremdlinge entweder vorbildlich integriert oder sind einfach wieder verschwunden.

Dennoch liest sich vieles zum Thema tierische und pflanzliche Einwanderung so, als gelte es, ein ökologisches Abendland zu verteidigen, eine von Überfremdung bedrohte reine und echte Natur.

Warum macht das Unbekannte Menschen so viel Angst?

Schließlich bauen auch die Einheimischen allerhand Mist. Wildschweine trampeln die Felder und Wiesen kaputt. Rehe fressen Knospen junger Laubbäume und vernichten reihenweise Eichen, Ahorne und Birken. Füchse schleppen für den Menschen gefährliche Bandwürmer mit sich herum.

Doch nur die Neubürger stehen unter Generalverdacht.

Falscher Migrant: Diese Schnecke ist richtig böse. Sie frisst sich durch Gemüseplantagen, verwüstet Gärten, kackt graugrün neben ihre Schleimspur auf die Kopfsalatblätter, vermehrt sich wie die Karnickel und lässt sich nicht einmal von anderen wegfressen, weil ihr Schleim besonders aggressiv ist. Definitiv gehört die Spanische Wegschnecke, dieses braune, nackte Ungetüm, in die Top 5 der invasiven Tiere – genau wie Ochsenfrosch und Halsbandsittich. In unserer Galerie der eingewanderten Schädlinge hat diese kriechende Obszönität einen Platz in der allerersten Reihe verdient: taz.de/topinvasive. Es gibt da nur ein kleines Problem: Die Spanische Wegschnecke stammt gar nicht von der Iberischen Halbinsel. Sie ist eigentlich, das haben Gen-Analysen im vergangenen Jahr ergeben, von, äh tja, also sie ist von hier.

Ist das Grauhörnchen der Tod seines europäischen Cousins?

„Totaler Blödsinn“, sagt Heidi Gallenberger. Grauhörnchen hätten es hier nicht besonders gut, vermutlich würden sie von Greifvögeln wie dem Habicht gefangen. Eichhörnchen, die eine hellrote Farbe haben oder als schneeweiße Albinotiere zur Welt kommen, überlebten schließlich auch nicht lange. „Die dunklen Farben sind am sichersten in unseren dunklen Wäldern.“

Also keine Gefahr. Aber was ist mit England? Dort leben mittlerweile fast nur noch Grauhörnchen. Das europäische Eichhörnchen ist in Großbritannien nahezu ausgestorben.

Lange dachten Forscher, es liege daran, dass Grauhörnchen größer und stärker seien. Dass sie sich schneller vermehren und vielleicht auch daran, dass sie keinen Winterschlaf halten. In Wahrheit starb das europäische Eichhörnchen in England wohl an einem Virus, den das Grauhörnchen in sich trägt. Es selbst ist dagegen immun.

Volker Koch öffnet das Fenster in seinem Hochsitz, es knarzt leise, dann ist es wieder still. Nichts bewegt sich im Schilf, kein Knacksen, kein Gurren, kein Geschrei. „Die Waschbären“, flüstert er, „verkriechen sich gerne unter Baumstümpfen im Moor.“ Treten sie auf einen Zweig oder rangeln sie miteinander, kann man sie hören.

Reglos sitzt Koch auf einem kleinen Schemel und schaut in die Dunkelheit zu dem kleinen Teich. Nichts. „Wenn noch Schnee liegen würde, dann könnte man sie vielleicht sehen.“ An die 60 Waschbären hat er erlegt.

Ein richtig großes Tier war noch nicht dabei, sonst hätte er es zum Gerber gegeben. So aber vergräbt er jeden Waschbären, den er erlegt, im Waldboden. „Man hat ja auch Angst vor Krankheiten.“

Die Jagd habe er schon als Kind toll gefunden, „sie ist ein Urtrieb des Menschen“, sagt er. Heute ist er Vorsitzender des Kreisjagdverbandes, er organisiert Jägerfeste und berät die Jagdbehörde, er vertritt die Interessen der Jäger, die wie er Tiere schießen und verkaufen dürfen.

Doch vor allem sieht er sich als Naturschützer und Tierliebhaber. „Das klingt vielleicht komisch, weil ich eine Waffe habe“, er flüstert wieder – und lächelt ein bisschen. Aber es sei notwendig, dass Jäger die Wildtiere kontrollieren. Waschbären würden großes Chaos anrichten. „Sie sind eine Wahnsinnsbelästigung“, sagt Koch.

Ganz ausrotten will er sie nicht. Aber so viele erlegen, dass sie möglichst wenig schaden können.

Manche Ökologen bezweifeln, dass das möglich ist. Sie verglichen schon vor Jahren zwei Waschbärenpopulationen in verschiedenen Gegenden. In einer wurde gejagt, in der anderen nicht. Die Anzahl der Waschbären blieb aber an beiden Orten gleich. Die Forscher nehmen an, intensives Jagen bringe Waschbärweibchen dazu, mehr Junge zu bekommen.

Das würde auch erklären, warum der Waschbär sich zuletzt so sehr vermehrte.

Seine ersten Jahre hier verbrachte das Tier meist in Farmen. Waschbärenjacken und Mützen waren in den 1920ern hip. 1934 wilderten Züchter am hessischen Edersee Waschbären aus. Wenig später wurden auf einer Pelzfarm nahe Berlin welche freigelassen. Wegen Futtermangel. Sie blieben in den Wäldern, unauffällig.

Seit 1954 dürfen Waschbären gejagt werden, zunächst erlegten die Jäger nur wenige. Ab Mitte der 90er Jahre stieg die Zahl der Abschüsse explosionsartig an. 1996/97 töteten Jäger um die 5.000 Waschbären, 2007/08 waren es schon über 36.000, im Jagdjahr 2011/12 mehr als 71.000, im darauf folgenden Jahr schon mehr als 100.000. Währenddessen wuchs die Population rasant. Heute leben in Deutschland schätzungsweise 600.000 bis 800.000 Waschbären.

Eine Gefahr sehen die, die den nordamerikanischen Einwanderer am besten kennen, dennoch kaum. Wissenschaftler, die Tiere an der Müritz untersuchen, schätzen etwa das Risiko, dass sie Krankheiten übertragen, als relativ gering ein. Sie sagen auch, dass der Waschbär keine bedeutenden ökonomischen Schäden verursacht und nur selten negative Auswirkungen auf die heimische Tierwelt hat.

Die Forscher empfehlen präventive Maßnahmen: herunterhängende Äste schneiden, Aufsätze an Regenrohren befestigen, damit er nicht hochklettern kann. Sich schützen, wie man sich eben vor Wildtieren schützt.

Auch beim europäischen Eichhörnchen gäbe es eine Möglichkeit, die Eingeborenen zu schützen, ohne die Konkurrenz aus Übersee zu töten: einen Impfstoff entwickeln. So bekämpfte Deutschland die Tollwut. Flugzeuge warfen Impfköder für Füchse über den Wäldern ab, seit 2008 gilt die Krankheit als ausgerottet.

„Das würde vielleicht schon gehen“, sagt der Ökologe Wolfgang Nentwig, aber das sei eine emotionale Sicht auf die Tiere. Auch geimpfte rote Hörnchen würden verdrängt, vermutet der Professor am Institut für Ökologie und Evolution der Universität Bern, und die Behandlung koste „vermutlich genauso viel Geld wie die Beseitigung der grauen.“

Also töten.

Schießt der Mensch lieber, wenn er dem Fremden begegnet, als ihm ein bisschen Medizin hinzuwerfen?

Menschen hätten eine angeborene Fremdenfurcht, sagt Irenäus Eibl-Eibesfeldt, einer der führenden Verhaltensforscher und Begründer der Humanethologie. Die Angst sei uns evolutionär angeboren, schon die Fremdenscheu des Kleinkindes sei ein Überlebensvorteil. Sie sichere die Bindung an die Mutter. Wegen seiner Thesen, mit denen Rechtsextreme gern argumentieren, wird Eibl-Eibesfeldt vorgeworfen, Rassismus biologisch zu rechtfertigen. Aber auch wenn man die Ansichten des Österreichers nicht teilen mag, so lässt sich im Land der Pegida-Demonstrationen beobachten: Menschen reagieren auf Unbekanntes und Neues oft mit Furcht.

Dabei liegt Veränderung im Wesen der Natur. Sie ist ihr Wesen. Die Natur war nie ein Museum, in dem das Gestern bewahrt wird. Und doch haben Menschen Angst vor Veränderung. Wir sind bequem, wir geben ungern etwas auf, an das wir uns doch so schön gewöhnt haben.

Es wäre kein großes Problem, wenn die Grauhörnchen tatsächlich einziehen. Selbst dann nicht, wenn sie die europäischen Eichhörnchen verdrängen. Statt rote hüpfen dann graue Hörnchen.

Aber der äußere Schein ist vielen offenbar sehr wichtig. Schwarzkopf-Ruderenten zum Beispiel – sie wurden Ende der 40er Jahre aus Nordamerika eingeführt – könnten sich mit Europas heimischen Weißkopf-Ruderenten paaren. Das aber dürfen sie nicht, vielleicht gäbe es irgendwann nur noch Graukopf-Ruderenten. Und das scheint eine so furchtbare Vorstellung zu sein, dass die Schwarzköpfe massenhaft abgeschossen werden.

Deutschland den Wölfen, Bären raus

Wolfgang Nentwig ist der Ansicht, man müsse alle Tiere und Pflanzen, die in Europa nicht heimisch sind, bekämpfen und ausrotten. Er sagt: „Sie gehören einfach nicht hierher.“

Tage tragen Waschbärinnen meist ihre Jungen aus. Zwei bis vier werfen sie ab dem Frühjahr

Quelle: Gesellschaft für Wildökologie und Naturschutz

Milliarden Euro Schaden richten gebietsfremde Arten der Europäischen Umweltagentur zufolge europaweit an

Quelle: EEA

Prozent der Deutschen finden, dass zu große Wildbestände durch Jagd reguliert werden müssen

Quelle: IfA Marktforschung Bremer und Partner GmbH

Menschen hatten in Deutschland 2013 einen Jagdschein

Quelle: Deutscher Jagdverband

Arten eingewanderter Tiere und Pflanzen könnten einer Warnliste zufolge die biologische Vielfalt gefährden

Quelle: Bundesamt für Naturschutz

Zentimeter ist das nordamerikanische Grauhörnchen ungefähr länger als das europäische Eichhörnchen

Quelle: Eichhörnchen Schutz e. V., Universität Michigan

„Menschen fragen mich auch, warum sind Sie nicht gegen die Brennnessel“, sagt Nentwig. „Aber warum sollte ich gegen die Brennnessel sein. Sie war schon vor uns hier, mit ihr müssen wir leben.“

Müssten wir dann nicht auch die wieder hereinlassen, die in Deutschland einmal heimisch waren? Bettwanzen. Bären.

Der letzte Bär, der es wagte, sich in Bayern sehen zu lassen, überlebte seinen Besuch nicht lange. Landwirte fühlen sich von wiederkehrenden Kranichen belästigt, Fischer von Kormoranen. Heimatrecht hat also nicht jeder, der einmal heimisch war. Sondern nur, wer gerade als erwünscht gilt.

Welche Tiere und Pflanzen sind das? Eine öffentliche Verhandlung dieser Frage gibt es so gut wie gar nicht. Hier versuchen Menschen, den ausgestorbenen Auerochsen zurückzuzüchten, dort das Wollschwein. Wölfe dürfen nach Deutschland zurückkehren. Im bayerischen Burghausen wollen Biologen den Waldrapp wieder ansiedeln, ein schwarzes Geschöpf mit Besenfrisur. Wie der Zugvogel im Winter nach Süden fliegen soll, müssten ihm eigentlich seine Eltern beibringen. Nur: Es gibt keine Eltern mehr, die den Weg kennen. Jäger rotteten das Tier in Mitteleuropa im 17. Jahrhundert aus, einige Exemplare überlebten in Zoos.

Heute spielen Wissenschaftler Mutter und Vater. Sie setzten sich Tag und Nacht zu frisch geschlüpften Waldrappen. Sie bedröhnten die Küken mit Motorenlärm auf Kassette. Die kleinen Vögel sollten die Angst vor Ultraleicht-Flugzeugen verlieren. In solchen Maschinen wiesen ihnen ihre Menscheneltern in mühsamen Flugetappen den Weg über die Alpen.

Nach jahrelanger Arbeit schaffen es ein paar Waldrappe inzwischen selbstständig in die Toskana. Dort knallen sie Jäger illegal ab.

Es hat etwas Absurdes. Während einige Menschen mit großem Aufwand versuchen, einen Teil der Natur am Leben zu erhalten, der das selbst nicht schafft, lassen andere jene Pflanzen und Tiere beseitigen, die keine Hilfe brauchen. Weil sie angeblich nicht hierher gehören.

Argumentiert wird oft mit ökonomischen Schäden. Was richten Fremdlinge in der Landwirtschaft an? Mais entdeckte Kolumbus in der Karibik und brachte ihn mit nach Europa, die Kartoffel stammt aus Südamerika, Weizen aus dem Nahen Osten, genau wie Hausrinder, Schweine, Schafe und Ziegen. Haushühner wurden aus Südostasien geholt und domestiziert. Selbst Honigbienen haben einen Migrationshintergrund.

Wer das Fremde aus der Natur verbannen wollte, bräuchte einen Flammenwerfer. Einen großen. Der Ökologe Josef Reichholf schätzt: Gebietsfremde Arten prägen 99 Prozent unserer Landschaft. Reichholf gründete mit dem Tierfilmer Bernhard Grzimek Anfang der 70er Jahre die „Gruppe Ökologie“ in München, daraus wurde später der Bund für Umwelt und Naturschutz. Er hält es für Unsinn, Lebewesen in solche einzuteilen, die hierher gehören und jene, die es nicht tun. „Heimisch und fremd sind nichts weiter als kurzfristige Feststellungen. Sie sind Momentaufnahmen im Fluss der Zeit“, sagt Reichholf. „In der Natur gibt es keine festen, keine richtigen Zustände.“ Er warnt, der Jargon mancher Naturschützer gleite in Fremdenfeindlichkeit ab.

„Nur allzu leicht lässt sich ‚Ökologie‘ vorschieben und dazu missbrauchen, scheinbar natürliche Begründungen für die Ablehnung der Fremden zu liefern“, schrieb Reichholf vergangenes Jahr im Magazin Novo Argumente. Um die apokalyptischen Befürchtungen zu dämpfen, ruft er zu Gelassenheit im Umgang mit den Fremden auf. Er ist nicht allein. Vor vier Jahren schrieben 19 weltweit renommierte Ökologen in der Zeitschrift Nature, gebietsfremde Arten hätten die Vielfalt fast immer erhöht.

Ein Ast knackst. Ist er das? Volker Koch beugt sich nach vorn, späht ins Schilf. Seit einer Stunde sitzt er jetzt hier.

So ist das oft. Sitzen, warten, sitzen, warten, stundenlang. Dass er tatsächlich sein Gewehr anlegt, zielt und auf den Abzug drückt, dass er tatsächlich einen Migranten der Natur erlegt, passiert selten.

Er, der Jäger, sagt, es spiele für ihn keine Rolle, von wo ihm etwas vor die Flinte kommt. „Fremd? Das zählt für uns Waidmänner nicht“, sagt Volker Koch. „Was hier ist, ist hier. Und damit müssen wir umgehen.“

Er packt das Gewehr ein, klettert die Leiter herunter und stapft durch den Matsch zurück zum Auto.

Maria Rossbauer, 33, ist Autorin der taz.am wochenende. Ihre liebste invasive Tierart: Hauskatzen

Dieter Jüdt, 51, ist Illustrator und Dozent. Als er von einem Lehrauftrag in China zurückkam, hatten Ameisen seine Küche besetzt