Die langsam Begreifende

DIVA Fast 40 Jahre lang war sie die „Königin vom Friedrichshof“; ein Jahr saß sie in Österreich wegen Unzucht mit Minderjährigen im Gefängnis. Mühsam findet sich Otto Muehls Witwe außerhalb der radikalen Sex-Sekte zurecht

■ Der Mann, 1925 – 2013, war ein österreichischer Aktionskünstler. Er gründete Anfang der 70er Jahre auf dem Friedrichshof bei Wien (später auch auf Gomera und anderswo) eine Kommune, die sich AAO – Aktionsanalytische Organisation nannte. Als Lebensform, die von kleinbürgerlichen Zwängen befreien sollte, wurde die AAO für viele der bis zu 600 Mitgliedern zu einer sektenhaften Zwangsgemeinschaft. 1991 wurde Muehl zu sieben Jahren Haft verurteilt wegen Kindesmissbrauch und Suchtmittelverstößen.

■ Die Sekte war streng hierarisch organisiert, obwohl sie das Kleinfamilienmodell wie auch Privateigentum ablehnte, freie Liebe predigte und Kinder im Kollektiv erzog. Die Kollektiverfahrung wurde durch öffentliche Körperinszenierungen praktiziert. Im Laufe der Zeit wurde der damit einhergehende Missbrauch und die Manipulation immer deutlicher.

VON ANKE RICHTER

Weißensee im Berliner Osten – ein ruhiges Pflaster. Der griechische Imbiss, der Tante-Emma-Laden sind Highlights. Ihnen gegenüber befindet sich das „SoLeKu“, „Solidarische Lebenskunst“, ein Wohnprojekt für Behinderte und Nichtbehinderte. „Muehl“ steht unten an der Klingel.

Claudia Muehl, 38 Jahre lang Hauptfrau des österreichischen Aktionskünstlers, Bürgerschrecks und Sekten-Leitwolfs Otto Muehl. Am Friedrichshof, dem damaligen Kommunensitz der „Aktionsanalytischen Organisation“ (AAO) in der Parndorfer Heide bei Wien und später auf dem Landgut „El Cabrito“ auf Gomera war sie die verwöhnte Königin einer Stammeshorde von rund 600 Getreuen. Die Kommune, in den 70er Jahren gegründet und streng hierarchisch organisiert, mit Oberen und Unteren, hatte Gebote wie: kein Privatbesitz, kein Kleinfamilienidyll, kein Vater-Mutter-Ideal, keine Zweierbeziehungen. Stattdessen predigte sie freie Liebe. Sex gab es zwischen allen, auch mit Kindern. Otto Muehl wurde im Jahr 1991 zu sieben Jahren Gefängnis wegen Kindesmissbrauchs und Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz verurteilt, die Strafe saß er restlos ab. 2013 starb er in Portugal. Auch seine Frau wurde zu einem Jahr Gefängnis verurteilt.

Jetzt ist die dreifache Mutter Witwe und Hartz-IV-Empfängerin. Sie öffnet nicht aufs Klingeln – angeradelt kommt sie, steigt ab, glüht noch von der Sonne, steht da in engen Jeans, die hennaroten Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Ihr ganzer Körper hat etwas Federndes, Raubkatzenhaftes – eine Powerfrau, 64 Jahre alt, auf Wirkung bedacht.

Im rollstuhlgerechten Aufzug geht es in ihr helles WG-Zimmer im ersten Stock. „Guten Morgen“ steht auf dem Türrahmen. In der Ecke ein Doppelbett, am Fenster eine Tischplatte aus rohem Holz. Bücher, Koffer, Getöpfertes. An der Wand hängt ein Selbstportrait der einstigen Muehl-Schülerin. Sie habe schon ewig nicht mehr gemalt, sagt sie in ihrem schweizerischen Singsang, verkauft aber frühere Werke unter ihrem Mädchennamen Claudia Steiger im Internet ab 250 Euro. „I’m not a sex machine, but eine Pantherin“, schreibt sie dort über sich und verweist auf ihren „berühmten Charme“.

Ein Babyfoto von Sohn Attila, mittlerweile 29, steht neben dem Arbeitstisch. Auch er, der Kommune-Kronprinz, lebt nun in Berlin und ist mit vielen der einstigen Jugendlichen aus der Kommune befreundet. Paul-Julien Robert, einer von ihnen, rechnete letztes Jahr in dem preisgekrönten Dokumentarfilm „Meine keine Familie“ nicht nur mit den brutalen Erziehungsmethoden des Übervaters Muehl, sondern auch den intimen Beziehungen seiner Frau zu Teenagern ab.

„Kaffee? Wasser?“, fragt sie, bringt am Ende beides, und ja, sie sei die Königin am Friedrichshof gewesen, aber ausgenutzt hätte sie diese Position nicht. „Das ist so, als ob man einen Chef mit hohem Lohn in einer Firma fragt, ob er seine Position ausgenutzt hat. Natürlich – er hat sich ein besseres Auto gekauft und mehr Anzüge. Ich wollte niemanden übervorteilen.“ Sie habe dieselben Kleider getragen, dasselbe Essen gegessen, im selben Haus gelebt – wobei die Strukturoberen die acht Turmzimmer bewohnten. „Ich hatte Privilegien, aber die waren mehr sozialer Art. Ich saß neben Otto, schlief öfter mit ihm, meine Kinder wurden von ihm geliebt.“

Dass die Niedriggestellten in den Schweineställen oder unter größtem Druck im Finanzdienstbereich schufteten, während die Führungsriege sich drogenbenebelt von ihren Claqueuren hofieren ließ, diesen Eindruck, wie so vieles über sie, will sie korrigieren. In Portugal, in der zweiten Hälfte der Kommunezeit nach der Haft, sei es eh bescheidener zugegangen. „Da habe ich in einer ehemaligen Garage gelebt und es hat mir nichts gefehlt.“

1996 zogen 14 Muehl-Getreue mit zehn Jugendlichen, vier Kindern und dem Gemeinschaftseigentum von Gomera nach Moncarapacho in Portugal. Bald gab es Konflikte um die Finanzen. Dazu kam, dass die enge Muehl-Clique nach Muehls Haft ihr Tun, anders als die Aussteiger und Aussteigerinnen, nie kritisch aufarbeitete. „Wir haben zusammengehalten und uns gegenseitig gestärkt gegen die Angriffe von außen“, sagt Claudia Muehl. „Ich war vom Gefängnis und dem Zusammenbruch der Gruppe traumatisiert und wollte jede Art von Führung vermeiden. Auch Otto wollte diese Rolle nicht mehr übernehmen. Führung war bei uns völlig tabu. Daher herrschte unterschwelliges Chaos.“ Es kam zu Hasstiraden gegen sie, sie wurde angebrüllt. „Ich bin auch verletzlich“, sagt sie.

Mit ihrer Schwester in der Gruppe hat sie sich inzwischen ausgesprochen und sich für manches entschuldigt. Außerhalb der Gruppe in Portugal hat sie noch fünf, sechs Freunde von früher, mit denen sie über die Vergangenheit reden kann. Die anderen meiden sie. Trifft sie das? „Ja, das trifft mich schon“, sagt sie und zupft die Jacke zurecht. „Es trifft mich, dass ich gehasst werde.“ Aber sie sieht diese Reaktionen als normalen Prozess: „Ich war erste Frau, wurde von Otto geliebt und bevorzugt und manche waren auf mich eifersüchtig.“ Vor vier Jahren hat sie die Gruppe in Portugal verlassen und sich von Otto getrennt – hin- und hergerissen, „Wanderin zwischen zwei Welten“.

Otto Muehl litt da bereits schwer an der Parkinson’schen Krankheit, aber war dennoch in bester Laune – für die Außenwelt ein Monster, für seine Großfamilie ein gefallener Held: „Er war bewundernswert und rührend zugleich, wie er mit den Lähmungen und Einschränkungen gekämpft hat.“ Beim Malen stand er in einem gepolsterten Gestell, den Pinsel an einen Stock gebunden. Als er auch das nicht mehr konnte, hat er die Farbe geschüttet. „Er hat sein Ziel den Möglichkeiten angepasst. Ich habe viel von ihm gelernt und bewundere ihn“, sagt Claudia Muehl. Ob sie ihn vermisst? „Ja klar. Sehr.“

Ehemalige Muehl-Jünger munkeln, der Künstler habe sie als Hauptfrau zugunsten seiner jüngeren Muse verstoßen. „Nein!“, protestiert sie. „Der Otto hat mich geliebt bis zum Schluss. Es hat ihm eher wehgetan, dass ich ihn verlassen habe, aber für mich war ein neuer Lebensabschnitt gekommen.“ Die kleine Gruppe lebte abgeschottet. „Es war mir zu wenig anregend. Wir hatten in Portugal wenig Kontakte, um uns herum zum Teil Analphabeten, wir konnten nicht Portugiesisch, also war da wenig Austausch.“ Als die Jugendlichen auszogen, um zu studieren, sei das noch schlimmer geworden. Sie wollte noch was machen aus ihren letzten Jahrzehnten, „mich dem Leben in der großen Gesellschaft direkt aussetzen“ – dieser bürgerlichen, spießigen Gesellschaft, der sie mit 22 Jahren als junge Lehrerin den Rücken kehrte, schwer verliebt in Otto. Und in die sie dann mit 60 Jahren wieder eintauchte. Sie sagt, sie sei „vom Mond herabgestiegen“.

Glück

Claudia Muehl zog 2010 mit ihrer behinderten ältesten Tochter Lili nach Wien und hoffte, eine neue Gruppe starten zu können. Ohne Chef, ohne Chefin. „Das Thema Sexualität wollte ich offen lassen.“ Doch sie stieß nicht auf genug Interesse. „Was ich erlebe, ist eine höfliche und kühle Gesellschaft.“ Was sie befremdet: Wie man heutzutage anonym seine Haut auf den Markt trägt. Dagegen sei sie fast konservativ. „Freie Sexualität in der Gruppe bedeutete, immer neu unter vertrauten Männern wählen zu können und von keinem einzelnen abhängig zu sein.“ Das Wort „Sex“ benutzt sie im Gespräch nie, sondern redet immer nur von „Sexualität haben“. „Wir lebten 20 Jahre zusammen und die Liebesverhältnisse entstanden und vergingen. Sicherheit vermittelte die Gruppe. Mit Fremden ins Bett zu gehen, ist etwas vollkommen anderes.“ Sie fühlt sich einsam und verloren in dieser neuen Welt.

Nach Wien hat sie es in Berlin mit der inklusiven Wohngemeinschaft versucht, in einem Haus mit 20 Zimmern. „Unser Konzept war anspruchsvoll“, sagt sie: „Erforschen, wie man ohne Lüge Menschen mit Behinderungen respektvoll begegnet.“ Doch zum Jahresende 2014 hat sich SoLeKu aufgelöst – nicht nur ideell, auch finanziell ist das Projekt mangels Fördergeld gescheitert. Zu viel Verwaltungsaufwand, zu viele Schulden und Kompetenzgerangel. Nicht nur Malkurse, auch die sogenannten Selbstdarstellungen wollte Claudia Muehl anbieten – unter neuem Namen, etwa als „autarke Kommunikation“. Doch sie fürchtete, dass bei den Veranstaltungen Leute kommen, die mit ihr abrechnen wollen. Meistens bleibt sie stumm und gibt sich nicht zu erkennen, wenn die Sprache in Berlin auf die radikale Sekte kommt. Sie hat schlechte Erfahrungen gemacht.

Öffentliche Angriffe hat es viele gegeben, nachdem Otto Muehl vor ein paar Jahren in Kunstkreisen rehabilitiert wurde und sein Nachlass Spitzenpreise erzielt. Die Betroffenengruppe „re-port“ protestiert im Namen der Opfer regelmäßig gegen Ausstellungen und verweist auf sein „menschenverachtendes System“. Claudia Muehl reagiert darauf trotzig. „Ich habe noch nie gehört, dass sexueller Missbrauch Bilder malen kann.“ Es klingt, als habe sie diesen Satz schon oft abfeuern müssen. Mit ihm ist der einfühlsame Kaffeeplausch vorbei. Jetzt geht es um heiklere Themen. „Im Nachhinein kriminalisieren viele den Otto, die dabei waren, die einverstanden waren und das heute nicht mehr verstehen können.“ Ihr verstorbener Mann würde noch immer zu Unrecht dämonisiert, vieles werde verdreht. „Er hat schlimme Fehler gemacht, aber er hat mehr Gutes gemacht.“

Das patriarchalische Recht auf die erste Nacht mit den Jungfrauen, das sich Muehl herausnahm, sei auch lediglich Folge eines Irrtums gewesen. Statt sich an Gesetzen zu orientieren, habe die AAO alles in Frage gestellt. „Wir hatten ja keinen Rat der Alten und Weisen wie in früheren Kulturgesellschaften, keine Tradition, auf die man zurückgreift. Wir sind da echt entgleist.“ Orientiert habe man sich an Stämmen der Urzeit, „wo sich alle infantil und glücklich um den Chef scharen.“

Unglück

Glücklich jedoch waren nicht alle im Muehl-Imperium. Dass besonders die Kinder unter dem Gruppendruck, dem Konformismus und der Entfremdung von ihren Eltern, die Väter waren oft unbekannt, gelitten haben, sieht man im Film „Meine keine Familie“. Die Szene, als ein weinender Junge von Otto Muehl zur Maßregelung mit Wasser überschüttet wird, ist schwer zu ertragen. Erschreckend fand auch seine Witwe diese Bilder. Seinerzeit hätte sie es nur „grenzwertig, aber nicht so arg schlimm“ gefunden, denn: „Der Junge war wirklich sehr trotzig.“ Jetzt sagt sie: „Dass die Kinder diese vielen Erwachsenen als enormen beängstigenden Druck erlebt haben, war mir damals nicht klar.“

Ob sie es selber als sexuellen Missbrauch sieht, was zwischen ihr und den Jugendlichen geschah? Sie holt tief Luft. „Ich muss das so sehen, denn ich bin deshalb verurteilt worden“, presst sie heraus. Hat sie sich jemals persönlich schuldig gefühlt? „Das ist eine komische Frage.“ Sie ist angespannt, auf der Hut. Der Gerichtsprozess sei ihr als Racheakt der Konservativen erschienen. Erst durch den persönlichen Kontakt mit den Betroffenen lernte Claudia Muehl nach und nach, was sie ihnen angetan hatte. „Ich war nicht sehr mütterlich, weil ich eigene Hemmungen zu überwinden hatte. Meine Gefühllosigkeit dabei erfüllt mich heute mit Scham.“ Sie sei, sagt sie noch, damals als Persönlichkeit nicht reif gewesen.“ Sie war 38, ihre Bettpartner zwischen 15 und 17.

Waren die Jugendlichen denn reif genug? Sie protestiert: „Nein, wie gesagt, auch wenn ich ihnen eine gute mütterliche Geliebte gewesen wäre. Ich habe sie um ihre eigenen kostbaren Erfahrungen mit der ersten Liebe betrogen.“ Der erste Impuls sei nie von ihr ausgegangen. „Ich hatte Grund anzunehmen, die jungen Männer wären auf mich abgefahren.“ Und dann sagt sie noch: „In unserer kleinen Gesellschaft wollte ich geliebt und anerkannt werden.“ Doch, man habe vor ihr Angst haben können, räumt sie ein, „zu viel Idee, zu viel eherne hohe Ethik“. Wenn sie sich alte Videos anschaut, erträgt sie am wenigsten ihre eigenen Aussagen. „Ich bin oft ideologisch und hochtrabend dahergekommen.“ Erst langsam fängt sie an zu begreifen, was sexueller Missbrauch eigentlich ist. Sie hat viel Philosophisches gelesen, Zeitungen, die Geschichte der Kinski-Tochter.

Laut einer re-port-Aktivistin soll es in der Kommune auch frühkindlichen Missbrauch gegeben haben. Claudia Muehls Gesicht verzieht sich. „Das glaube ich nicht. Otto war nicht pervers. Er ist wegen 13-Jährigen verurteilt worden, daher kann man ihn schon der Pädophilie beschimpfen. Aber dass er mit Kleinkindern etwas hatte, das ist eine Erfindung.“ Sie sagt, sie könne sich nicht mehr wehren. „Wir müssen uns die schlimmsten Verdächtigungen gefallen lassen. Dadurch dass wir das Gesetz übertreten und uns offen zur freien Sexualität bekannt haben, traut man uns alles zu.“

Wie geht ihr Sohn Attila damit um? „Er geht gut damit um“, sagt sie knapp. Stellt er ihr solche Fragen? „Wir reden über alles und ich mache damit eine Entwicklung durch.“ Ihre dauere noch an. Ihre jüngste Tochter, damals anderthalb, musste sie vor der Haft abrupt abstillen. Der Sohn war sechs, die Älteste 14. Mit einigen der von ihr missbrauchten Jugendlichen habe sie das Gespräch gesucht, sei mit einem sogar ins Gebirge gegangen. „Je mehr ich nachdenke und mit einzelnen rede, desto mehr komme ich darauf, dass die Wirklichkeit in der Gruppe nicht für alle so schön war wie für mich.“

Was würde sie rückgängig machen, wenn sie es könnte? „Die sexuellen Übergriffe natürlich, denn die haben verhindert, dass neue Wege gesucht wurden. Ich hätte gerne, dass die Gruppe noch existiert und sich weiter entwickelt. Auch dieser radikale Kommunismus hat zu wenig Individualismus erlaubt, und das bedauere ich. Mir wäre lieber, wir hätten nicht so viel riskiert und dafür auf manche Erkenntnis verzichtet.“ Und worauf ist sie stolz? „Auf meine Energie. Otto hat das Wilde in mir positiv bestärkt.“ In der Kindheit sei sie oft angeeckt, habe sich mit anderen Mädchen geschlagen, mit Lehrern gestritten. Muehl habe ihr außerdem die positive Sicht auf Sexualität ermöglicht: „Dass man lieben kann, ohne treu zu sein, dass Liebesbeziehungen jederzeit in körperliche Liebe übergehen können, das denke ich noch immer.“

Im Regal hinterm Tisch, zwischen einem Glas Honig und Tuben mit Farben, stehen Aktenordner mit dem Aufdruck „Gesundheit Lili“. Claudia und Otto Muehls 37-jährige Tochter ist mit Zerebralparese zur Welt gekommen. Sie wohnt im dritten Stock mit ihren Pflegern. Davor war sie ebenfalls in Portugal. Mit 21 wurde die behinderte junge Frau am Friedrichshof schwanger. „Ein Wunschkind“, betont die Mutter. Nach dem Kaiserschnitt lag Lili Muehl mit einer Bauchfellentzündung auf der Intensivstation und schwebte in Lebensgefahr. Davon hat sich die junge Frau nie mehr erholt. „Sie war traumatisiert und geschwächt.“ Sie hatte keine Energie mehr, konnte später nicht hinter dem Kleinkind herlaufen. „Nach einigen Jahren wurde sie psychisch krank.“ Der Arzt riet ihr zu einem neuen Umfeld – sie müsse aus den familiären Bindungen raus. Lili Muehls Tochter, „ein Glücksfall, ein wunderschönes Mädchen“, blieb beim Vater in Portugal. Es war ein früherer Betreuer aus ihrer Friedrichshof-Kindheit – zwischenzeitlich mit der Gruppe zerstritten – der das Wohnprojekt in Berlin vorschlug. Es sollte der Behinderten einen neuen Start ermöglichen.

Im Hintergrund knackt jetzt die Sprechanlage. Claudia Muehl steht auf. Jemand von oben fragt nach Saft für Lili. Ein paar Minuten später geht die Tür auf. Ein Rollstuhl wird hineingeschoben. Otto Muehls Tochter hat schwarze Haare, mit einer Haarspange vom Gesicht weggehalten, und ein breites, verschmitztes Lächeln. Der mädchenhafte Körper steckt verrenkt in Sweatshirt und bunter Hose. Lili möchte nach draußen, in die Sonne, sagt die Pflegerin.

Anke Richter ist taz-Kolumnistin und Reporterin in Neuseeland. Sie recherchiert dort über die Centrepoint Community, das Pendant zur Muehl-Sekte, das zeitgleich bestand. Es endete ebenfalls mit Verurteilungen wegen sexuellen Missbrauchs