Auch mal im Kino schlafen

FILM Keine Angst vor der Digitalisierung: Auf dem Symposium „Das unsichtbare Kino“ im Österreichischen Filmmuseum in Wien ging es undogmatisch und unvorhersehbar zu

Die Cinephilie ist mit dafür verantwortlich, dass die Filmkunst heutzutage einen schweren Stand hat

VON SVEN VON REDEN

Ein „kalter Hauch des Autoritären“ wehe durch das Österreichische Filmmuseum, schrieb kürzlich ein Filmjournalist auf der Internetplattform critic.de. Er bezog sich auf die vor jeder Projektion nachdrücklich ausgesprochene Bitte, während des Films sein Mobiltelefon nicht aufleuchten zu lassen. Bei allem Lob für das Programm des Museums mokiert sich der Text über die „stolzgeschwellte Brust“, mit der hier der Digitalisierung getrotzt würde, und eine bisweilen „unangenehme Hörigkeit gegenüber der Filmkunst“. Solche Anwürfe wären natürlich völlig undenkbar, handelte es sich um ein Museum für bildende Kunst – kein Museumsdirektor würde dafür kritisiert, seine Kunstgattung zu ernst zu nehmen und sie so original und störungsfrei wie möglich zu präsentieren.

Mit diesem Beispiel für den besonderen Status der Kunstform Film ist man mittendrin im Themenfeld einer hochkarätig besetzten Reihe von Vorträgen und Gesprächen unter dem Titel „Das unsichtbare Kino: Film, Kunst, Geschichte und das Museum“, die das Österreichische Filmmuseum letzte Woche in Zusammenarbeit mit dem Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften der Kunstuniversität Linz veranstaltete.

Um es gleich vorwegzunehmen: Weder wurde hier die Filmkunst auf einen Sockel gehoben, noch erging man sich in kulturpessimistischen Weinerlichkeiten über das Ende des analogen Kinos. Das Beziehungsviereck Film, Museum, Kunst und Geschichte wurde auf so undogmatische und unvorhersehbare Weise verhandelt, dass man sich manchmal Filmmuseumsmitbegründer Peter Kubelka im Auditorium als Zwischenrufer gewünscht hätte. Der kompromisslose Großmeister der Filmavantgarde war es, der das Österreichische Filmmuseum vor 50 Jahren als „unsichtbares Kino“ konzipierte, als eine perfekte „Black Box“, in der Filmgeschichte einzig und allein auf der Leinwand in Form von Filmen erfahrbar ist. Kubelkas emphatisch modernistischer Begriff vom Film als autonomer Kunst, sein Bestehen auf dem kategorischen Unterschied zwischen analogen und digitalen Bewegtbildern und Insistieren auf dem Kino als „reinstem“ Ort für das Filmerlebnis wurde auf dem Symposium von vielen Seiten implizit relativiert, untergraben oder widersprochen.

Nicole Brenez, Filmwissenschaftlerin an der Universität Paris III – Sorbonne nouvelle, stellte die Nutzen von (Kino-)Filmen im Internet als „Konsultationsversionen“ heraus, auch wenn diese dort in noch so schlechter Bildqualität vorhanden sein mögen. Die „perfekte“ Rezeption, wie sie das unsichtbare Kino des Filmmuseums bietet, ist für sie nur eine Möglichkeit. Sie blickt optimistisch in eine Zukunft, in der der analoge Film ihrer Ansicht nach nicht verschwindet, sondern es zu einer Multiplizierung seiner Formen und Erscheinungen kommen wird.

Chris Dercon, Direktor der Tate Modern in London, ging sogar in einem Podiumsgespräch so weit, zu fordern, Avantgardefilme oder Béla Tarrs über siebenstündigen „Satanstango“ auf Flügen zu zeigen. Er warb dafür, mit Filmen auch dahin zu gehen, wo man „nicht sofort willkommen ist“, pries mehrfach die Vorzüge des Schlafens im Kino und machte die Cinephilie mit dafür verantwortlich, dass die Filmkunst heutzutage einen schweren Stand hat. Bei Letzterem stimmte sogar der mit ihm auf dem Podium sitzende Lars Henrik Gass zu. Der Leiter der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen war ansonsten der Einzige, der in Kubelkas Sinne ganz „stalinistisch“ den „Zwang zur Wahrnehmung“ im Kino verteidigte – und damit die Entscheidung, auf seinem Festival keine Zuschauer hereinzulassen, wenn ein Film schon begonnen hat.

Überschätzte Bildermacht

Auch der Stargast der Veranstaltung versetzte allen Reinheitsgeboten und -gedanken in Bezug auf das Kino seine Dolchstiche. Der französische Philosoph Jacques Rancière erteilte in zwei Diskussionsveranstaltungen der Autonomie der Filmkunst eine Absage, stellte ihre Wirksamkeit als „dominante Fiktion“ infrage, und auch dem digitalen Wandel wollte er keine allzu große Bedeutung beimessen. Trotz der rasanten Multiplikation audiovisueller Inhalte auf allen möglichen Bildschirmformaten sprach er von einer Überbewertung der Macht der Bilder. Denn: So allgegenwärtig und universell nutz- und umdeutbar wie Worte werden sie nie sein.

Von einer Hörigkeit gegenüber der (analogen) Filmkunst war also nicht viel zu spüren in Wien. Wobei man sich fragen konnte, ob nicht Kubelkas entschiedenes Eintreten für die autonome Kunstgattung Film, so angreifbar sie von einem postmodernen Standpunkt aus ist, immer noch ihre strategische Nützlichkeit haben könnte in einer Zeit, in der durch die Digitalisierung das analoge Filmerbe ganz akut in Gefahr ist.

Chris Dercon erzählte auf dem Podium, in London sei bei einer Retrospektive des heute weitgehend vergessenen Dokumentarfilmers Peter Nestler das Kino immer voll gewesen. Er führte das unter anderem darauf zurück, dass alle Filme wirklich von Film projiziert und nicht gebeamt wurden. Man kann sich in der Tat vorstellen, dass das analoge Filmerlebnis in Zukunft eine ähnliche Renaissance erfahren wird wie das Hören von Schallplatten. Die Frage ist nur, welche und wie viele Filme dann noch physisch verfügbar sein werden. Oder wie Dercon es ausdrückte: „Es ist heute schon schwieriger an die Kopie eines John-Ford-Films zu kommen als an einen Rembrandt.“