Vom Grübeln zum Handeln

Richard Rorty, liberaler Ironiker und der große Antiautoritäre unter den Philosophen, ist tot. Die Verwirklichung der menschlichen Freiheit verstand er als prinzipiell nie abschließbares Projekt

VON DIRK KNIPPHALS

Für Menschen auf der Suche nach Autoritäten war Richard Rorty nie der richtige Denker. Wer etwa Philosophie studierte, um ein für allemal etwas über die grundlegenden Strukturen der Welt, der Menschen und der Erkenntnis zu erfahren, der konnte mit ihm seine Rortykrise erleben, so wie viele Generationen von Intellektuellen zuvor ihre Kantkrise erlebt haben.

Ich kann mich noch gut an die Verblüffung erinnern, die mich überkam, als ich zum ersten Mal die Einleitung zu „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ las, seinem Hauptwerk von 1989. Mit welcher Gelassenheit er darin die altehrwürdige philosophische Problematik, zwischen Allgemeinem und Besonderem, Öffentlichem und Privatem zu vermitteln, historisierte!

Richard Rorty kam als Autor stets ohne gedankliches Prunken und Protzen aus. Was man an dieser Einleitung gut zeigen kann. Sein Einsatz, das philosophische Denken pragmatisch zu erden und aus seinen metaphysischen Höhen in unsere Welt aus Raum, Zeit, Zufälligkeiten und Veränderungen herunterzuholen, ist hier auch sprachlich zu sich gekommen. Ohne Auftrumpfungsgesten erklärt Rorty darin den Gegensatz zwischen Denkern des Individuums und der Selbsterschaffung (Nietzsche, Heidegger) und solchen der Gesellschaft und der Gerechtigkeit (Marx, Habermas) für beendet – beide Seiten haben recht: „Die einen erklären uns, dass wir nicht nur die Stammessprache sprechen müssen, dass wir vielleicht unsere eigenen Worte finden können, dass wir möglicherweise uns selbst gegenüber verpflichtet sind, sie zu finden. Die anderen erklären uns, dass das nicht die einzige Verpflichtung ist, die wir haben.“

Wohlgemerkt, die Unterschiede zaubert Rorty gedanklich nicht weg, im Gegenteil. Vielmehr können wir sie uns gerade nutzbar machen, indem wir, so Rortys antidepressiver Weg aus diesem Widerstreit, die verschiedenen Theorien wie Werkzeuge handhaben und sie anwenden, je nachdem, worüber wir nachdenken. Rorty: „Wir könnten denken, dass sie sowenig eine Synthese brauchen wie Malerpinsel und Brecheisen“ – wobei offen bleibt, ob Rorty zum Beispiel Habermas, seinen langjährigen Gesprächs- und Streitpartner, den Pinseln oder den Brecheisen zurechnet, eine der vielen kleinen Ironien dieser Prosa.

Vom Grübeln hin zum Handeln: Das ist die Wendung, die Richard Rorty insgesamt vorschlägt. Er regt dazu an, die Hoffnung aufzugeben, durch tiefes Nachdenken einen letzten Grund, eine unbezweifelbare Gewissheit zu finden, auf der man sein Handeln gründen könnte – eine solche Ordnung jenseits von Raum und Zeit, die festsetzt, worauf es im Leben ankommt, kann es nicht geben. Stattdessen möchte Rorty, platt gesagt, dazu ermuntern, nach vorn zu gucken und die Verwirklichung unserer Freiheit als nie abschließbares und stets mit Versuchen und Irrtümern begleitetes Projekt zu begreifen. Ein sozusagen nach vorne gerichtetes Durchwursteln – mit den Zielpunkten, mehr und vielfältigere Glücksmöglichkeiten für die Individuen zu schaffen und das Leid zu minimieren – ersetzt die Versuche, eine Instanz aufzuspüren, die einem sagt, was man zu tun hat: heißt diese Instanz nun Gott, Natur des Menschen, Vernunft, Moral, Theorie oder wie auch immer. Die Geschichten von solchen Autoritäten hat Rorty dann durch Geschichten von ebenso pragmatischen wie emphatischen Ansätzen zur Gesellschaftsverbesserung ersetzt, die ohne Letztbegründungen auskommen; einer seiner großen Gewährsmänner ist John Dewey.

Die intellektuelle Figur, auf die er insgesamt baut, bezeichnet Rorty in „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ als „liberale Ironikerin“ – liberal insofern, als sie Grausamkeiten verabscheut; Ironikerin, weil sie weiß, dass noch die eigene Sprache und das eigene Selbst kontingent, also vorgegeben und zufällig sind. Sobald man auch philosophisch den antiautoritären Impuls in sich entdeckt hat, ist Rorty der passende Autor für Menschen, die ahnen, dass sie sich mit allen ihren Überzeugungen auf dünnem Eis bewegen und die dennoch nicht aufgeben wollen, an der Verbesserung der Gesellschaft zu arbeiten. Oder andersherum: Die an der Verbesserung der Gesellschaft weiterarbeiten wollen, aber keineswegs in vermeintliche metaphysische Sicherheiten zurückrutschen möchten.

„Achieving our country“, also: Die Verbesserung unseres Landes (im Deutschen mit „Stolz auf unser Land“ übersetzt), hieß Rortys großer politischer Essay von 1998, den man allein schon wegen seiner befeuernden Emphase jedem Leser ans Herz legen möchte. Mit John Dewey hielt er darin an dem gesellschaftlichen Ziel fest, „Subjekte hervorzubringen, die immer neue und reichere Formen menschlichen Glücks erleben könnten“. Diesem Ziel muss man sich nun ohne Rorty widmen: Am vergangenen Freitag ist er 75-jährig in Stanford, Kalifornien, gestorben.