Die Erlebnisgesellschaft

DER LIVE-ASPEKT Das Festival Impulse in Nordrhein-Westfalen untermauert den Trend zur Show im freien Theater. Zeitgenössische Dramatik spielt kaum noch eine Rolle

„Künstler wie HGich.T oder Peaches bieten die Möglichkeit, ein Ereignis mitzugestalten“

VEIT SPRENGER, FESTIVALKURATOR

VON ALEXANDER HAAS

„Mit der Abwendung von der Literatur als dem Übergott des Theaters“, sagt Nicolas Stemann, „verstärkt sich der Live-Aspekt, das heißt: der Moment des Theaters als eine ganz eigene Kunst. Ich möchte die Vergänglichkeit und Vitalität des Theaters feiern. Man kann auch etwas zu uns und den Themen der Zeit sagen, ohne sich beispielsweise in Kleist zu spiegeln.“ Stemann ist ein Regisseur, der an den wichtigsten deutschsprachigen Stadt- und Staatstheatern inszeniert. Zu Impulse, einem wichtigen Festival des freien deutschsprachigen Theaters, das seit gestern in vier Städten in Nordrhein-Westfalen begonnen hat, ist er nicht eingeladen. Doch seine Aussage reflektiert eine mächtige Tendenz im zeitgenössischen Theater. Aufführungsformate wie Performance, Aktion oder Show dominieren die avancierte freie Szene. Die Entwicklung hat längst auch die subventionierten Häuser erreicht.

Begonnen hat der Trend mit der Ausdifferenzierung des postdramatischen Theaters Ende der 90er Jahre und mit dokumentarischen Formaten, die im Anschluss entstanden. Mit den diesjährigen Impulse-Einladungen an Gruppen und Künstler wie das Hamburger Punk- und Performancekollektiv HGich.T oder die Eloctroclash-Musikerin und (seit einiger Zeit) Theatermacherin Peaches scheint sich die Entwicklung noch einmal zugespitzt zu haben. Mehr Show!

Das zieht dann doch die Frage mit sich, weshalb sich die freie Szene eigentlich nicht für die zeitgenössische Dramatik interessiert. Zehn Produktionen sind bei den Impulsen eingeladen. Keine davon inszeniert ein Stück. Schon gar nicht ein zeitgenössisches. Nur die auch auf dem Berliner Theatertreffen gefeierte Performance „Testament“ von She She Pop, bei der es unter Einsatz der echten Väter der Gruppenmitglieder um den Generationenvertrag geht, bezieht sich auf Shakespeares „König Lear“. Unter anderem, zusammen mit Biografischem.

Speerspitze der Showfront

Die Speerspitze der antidramatischen Showfront dürfte die Gruppe HGich.T bilden. Das Hamburger Performance-Kollektiv agiert zwischen Punk und Theater, 2010 haben sie ihr erstes Album veröffentlicht, „Mein Hobby: Arschloch“. Beim Festival zeigen sie etwas, das den Titel „endzeit 2“ trägt. Sie setzen auf das Ritual, das Bühnenerlebnis, die Entgrenzung und versprechen Anteile von Punkkonzert in ihrer Show. Kaum etwas dürfte weiter von einer „Stückinszenierung“ entfernt sein als dieser Act, der ein „Gesamtkonzept aus körperbetonter Performance, brachial-infantilem Humor und Inszenierung im psychedelischen Goa-Stil“ auffährt, wie ein taz-Kritiker einen Auftritt beschrieb.

So eine Aufführung trifft genau die Kriterien „Live-Aspekt“ und „Vitalität“, die auch Nicolas Stemann als entscheidend wertet bei seiner Suche nach der Theaterform der Zeit. Eine mehr oder weniger konventionelle Sprechtheateraufführung eines noch so aktuellen Autorentextes entspricht hingegen immer weniger den ästhetischen Bedürfnissen der Produzenten. Und, wie Veit Sprenger – langjähriger freier Theatermacher im Performancekollektiv Showcase Beat le Mot und Mitglied der Impulse-Auswahljury – behauptet, auch den Bedürfnissen des Publikums. „Die Leute wollen nicht mehr in verdunkelten, weich ausgepolsterten Zuschauerräumen sitzen und dabei zusehen, wie andere ihnen die Welt erklären“, sagt Sprenger. „Die Show-Formate von Künstlern wie HGich.T oder Peaches bieten die Möglichkeit, nicht nur geistig an etwas teilzunehmen, sondern als ganze Person dabei zu sein und ein Ereignis mitzugestalten.“ Diese Künstler gäben einen Großteil ihrer Kontrolle auf, nicht nur in Bezug auf ihre einzelnen Auftritte, sondern auch was ihre Karriere, ihre Kommunikation und ihre Organisationsstrukturen beträfe. „Das ist ein soziales Experiment“, meint Sprenger.

Dennoch kann man sich fragen, ob die Showformate nicht auch mit gewissen Erkenntnisverlusten verbunden sind, wenn es um Inhalte geht. Kann man wirklich nicht mehr zwischen Form und Inhalt unterscheiden? Veit Sprenger behauptet das. Oder kann man es nur nicht, weil man keinen destillierbaren Inhalt zu bieten hat?

Erfährt man beispielsweise in Kevin Rittbergers Stück von 2010 „Kassandra oder die Welt als Ende der Vorstellung“, das tödliche migrantische Irrfahrten mit Gesellschaftssatire auf den Westen verbindet, nicht Greifbareres über die Globalisierung als etwa in „Trans-Europa-Bollywood“, einer Produktion der österreichischen Gruppe Gods Entertainment? Die Aufführung ist bei den Impulsen im Wettbewerb. Das Festival schreibt über sie: „Der Raum des Spektakels wird zum Raum des Transfers: Die Zuschauer erleben eine Reise ins ferne Indien, tanzen Massenchoreografien und landen schließlich beim heimischen Inder um die Ecke.“ Die Produktion setzt auf Faktoren wie Publikumsbeteiligung und Ortswechsel, nicht auf ein bestimmtes Problem.

60 Minuten Kommentar

Die Vehemenz der ästhetischen Entwicklung im Gegenwartstheater, wie sie sich am Beispiel Impulse zeigt, macht die Abkehr vom auktorial geformten Stück augenfällig. Doch das heißt andererseits nicht, dass Text und Sprache im Showformat keine Rolle mehr spielten. Im Gegenteil, Anna Mendelssohn etwa sitzt in ihrer Festival-Produktion „Cry me a river“ 60 Minuten lang an einem Tisch und redet über ihr Verhältnis zum aktuellen Weltgeschehen. „Aber es wird eben anders gesprochen als in der monoperspektivischen Sittlichkeit des Autorentheaters“, erklärt Veit Sprenger das Text- und Redeverständnis nicht nur dieser Aufführung. Man kann gut verstehen, dass sich viele hierbei besser aufgehoben und angesprochen fühlen als im herkömmlichen Texttheater.

Veit Sprenger sagt das lieber so: „Die überdeutliche Erkenntnisdiktion des traditionellen Sprechtheaters eignet sich nur noch als Lachnummer.“