Fassaden des Schweigens

Vor 40 Jahren wurde Benno Ohnesorg nahe der Deutschen Oper bei einer Demo erschossen. Sein Tod war ein Fanal für die erstarkende Studentenbewegung. Was erinnert dort noch an den 2. Juni 1967?

VON NINA APIN

Die Bismarckstraße liegt leer und schnurgerade in der Nachmittagssonne. An der U-Bahn-Station, die ihre Passagiere direkt vor die Waschbetonfassade der Deutschen Oper treibt, zieht es. Nur wenige Menschen steigen aus. Ein Mann verschwindet in einer Telefonzelle unter der Überdachung, eine Rucksacktouristin studiert, auf der U-Bahn-Treppe stehend, mit zusammengekniffenen Augen die Programmankündigungen: La Traviata, Sylvia, Der Traumgörge. Unschlüssig geht sie ein paar Schritte auf die Bismarckstraße, mustert die 70er-Jahre-Tristesse, die sich rings um den schlichten Opernbau auftut: den Kaiser’s-Supermarkt gegenüber, Wohnblocks, ein Fitness-Studio. Dann steigt sie wieder hinunter.

Das Denkmal für Benno Ohnesorg bemerkt keiner der Passanten. Es ist an das Gitter des U-Bahn-Schachts gequetscht, neben die Telefonzellen. Das grün angelaufene Bronzerelief zeigt zwei grobschlächtige Polizisten, die einen Menschen brutal an den Beinen packen, sein Kopf schlägt am Sockel auf. Die Schrift darunter ist vor lauter Patina kaum zu entziffern: „Am 2. Juni 1967 wurde der Student Benno Ohnesorg im Hof des Hauses Krumme Straße 66 während einer Demonstration gegen den tyrannischen Schah des Iran von einem Polizisten erschossen.“ Um weiterlesen zu können, muss man sich tief bücken. „Sein Tod war ein Signal für die beginnende studentische und außerparlamentarische Bewegung, die ihren Protest gegen Ausbeutung und Unterdrückung besonders in den Ländern der Dritten Welt mit dem Kampf um radikale Demokratisierung im eigenen Land verband.“

Die dürren Worte vermögen kein Gefühl für die gewaltige Erschütterung auszulösen, die der Tod Benno Ohnesorgs in der Bundesrepublik verursachte. Auch nicht das Relief, das „Tod des Demonstranten“ heißt und 1971 von dem österreichischen Bildhauer Alfred Hrdlicka geschaffen wurde. Aufgestellt wurde es erst im Dezember 1990.

Getilgte Erinnerungen

Die Zögerlichkeit passt zu diesem Ort, an dem jegliche Erinnerung an „damals“ spurlos getilgt scheint. Demonstranten, Jubelperser, Schüsse im Hinterhof – kein Stäubchen Erinnerung klebt mehr an der Fassade der Deutschen Oper. Zeitlos und elegant steht sie da – und verrät nichts.

Ulrike Lippe versucht trotzdem, eine Ahnung davon heraufzubeschwören, was am Abend des 2. Juni 1967 vor der Oper los war, als der Schah von Persien und seine Gattin als Staatsgäste der Bundesregierung die „Zauberflöte“ besuchten. Lippe ist eine professionelle Spurensucherin. Als Stadtführerin erkundete sie in den 90ern die Geschichte der Westberliner APO: Das SDS-Gebäude auf dem Ku’damm, die Stelle, an der auf Rudi Dutschke geschossen wurde, das Kranzler-Eck als Demo-Treffpunkt. Ausgangspunkt war stets die Deutsche Oper. „Hier nahm vieles seinen Anfang. RAF und Deutscher Herbst sind ohne die Ereignisse hier nicht zu verstehen.“ Lippes letzte Führung ist zehn Jahre her, sie arbeitet mittlerweile in einem Verlag. Doch es reizt sie, anlässlich des 40. Todestags von Ohnesorg erneut auf Spurensuche zu gehen.

Ein konzentrierter Blick über die Bismarckstraße, und die temperamentvolle Frau ist in ihrem Element. Sie postiert sich an der Straßenecke, ihre Stimme ist eindringlich, fast beschwörend. „Die Stimmung in der Stadt war aufgeladen“, beschreibt sie. Ihre roten Locken wehen, die Arme fliegen gestikulierend durch die Luft: „Am Vorabend gab es in der TU einen Irankongress gegen das menschenverachtende Schah-Regime. Aber in den Boulevardzeitungen stand nichts als Märchen vom schönen Persien, vom Pfauenthron des Schahs und seiner eleganten Frau Farah Diba.“ Lippe kann gut erzählten. Die Wut der jungen Leute, die ihren Staat nicht mehr verstehen, liegt förmlich in der Luft.

Nachmittags beim Eintrag ins Goldene Buch Berlins „protestierten die ersten Schah-Gegner vor dem Rathaus Schöneberg“. Busse mit angemieteten Pro-Schah-Demonstranten fuhren vor. „Die gingen mit Stangen auf die Protestierer los, die Polizei griff nicht ein. Am Abend quetschten sich Tausende Demonstranten und Schaulustige zwischen einem Bauzaun und der Polizeiabsperrung auf einem schmalen Stück Bismarckstraße. Überall stand Polizei.“

Die Worte der Stadtführerin vermögen, was das Denkmal nicht kann und wahrscheinlich auch nicht soll: die Atmosphäre dieses fernen 2. Juni 1967 greifbar zu machen. Die Wut, die Arroganz der Macht, die Polizeigewalt. Fast sieht man, wie sich die schwarze Staatskarosse einen Weg durch die aufgebrachte Menge bahnt, sieht Eier fliegen, hört die Rufe: „Schah, Mörder“, oder „Schah-Schah-Scharlatan!“

In Carsten Jenß hat Lippe einen begeisterten Zuhörer gefunden. Als sie die brutale „Leberwursttaktik“ des Polizeipräsidenten Duensing erläutert, der die Kollegen in die Mitte des schmalen Demonstranten hineinstechen ließ, damit er an den Enden „aufplatzte“, erschauert der junge Operndramaturg. Jenß, auch er ein Nachgeborener wie die 1963 geborene Lippe, interessiert sich brennend für das, was damals um und in seiner Wirkungsstätte geschah. Eigentlich wollte er nur kurz mit vor die Tür. Jetzt bleibt er und läuft, zitternd im zu dünnen Jackett, mit der Stadtführerin über die Bismarckstraße hinüber in die Krumme Straße, in die sich damals ein Grüppchen Demonstranten flüchtete. Unter ihnen Benno Ohnesorg. Ein christlicher Romanistik-Student, der nie zuvor politisch aufgefallen war. „Es war eigentlich schon ein Mord“, sagt Lippe zögerlich, unsicher, ob sie etwas zu Radikales gesagt hat.

Es sind nur noch Teile übrig von dem Haus, in dessen Hinterhof Ohnesorg von der Polizei in die Enge getrieben, verprügelt und von hinten erschossen wurde. Von der Krummen Straße aus sieht man nur die schmutziggraue Fassade und ein Stück Innenhof mit Parkplatz. Hier muss irgendwo der Kriminalobermeister Karl-Heinz Kurras die Waffe gezogen haben. Irgendwo bei den Fahrradständern entstand auch das berühmte Foto, das eine erschrockene junge Frau zeigt, die neben dem blutenden Ohnesorg auf dem Asphalt kniet.

Heute erinnert hier nichts an den brutalen Tod eines Unschuldigen, nichts an die Schamlosigkeit, mit der Polizei und Springer-Presse zunächst versuchten, den Mord den Demonstranten anzuhängen. Nichts an die ungeheure Wut und die Ohnmacht, die viele damals empfunden haben. Ulrike Lippe holt eine alte taz aus der Hand und hebt sie in die Höhe: Wo keine Spuren sind, muss ein Abdruck des berühmten Fotos herhalten.

Carsten Jenß späht konzentriert in den Hinterhof, in den man von außen nicht hineinkommt. Er versucht anhand des Fotos zu rekonstruieren, wo genau der Student gelegen hat. Vergeblich. Die Details bleiben genauso im Dunklen wie der exakte Tathergang. „Nicht mal eine Tafel am Haus, nichts“, murmelt Jenß enttäuscht. „Na ja“, sagt Lippe und wirft einen Blick hinauf zu den geschlossenen Fenstern mit Spitzengardinen, „der 2. Juni ist nichts, was man hier gerne im kollektiven Bewusstsein verankert haben möchte.“

Sie erzählt, wie sich die Charlottenburger CDU und manche Anwohner gegen das Hrdlicka-Denkmal gesperrt hätten. Auch Versuche, einen der umliegenden Plätze nach Benno Ohnesorge zu benennen, scheiterten. „Lieber verwischt man die Spuren von damals“, sagt Lippe. Nur schlecht kann sie ihre Empörung über diesen Umgang mit der Vergangenheit verbergen.

Der hässliche Wohnblock links neben dem Unglückshaus macht das Ausradieren der Vergangenheit deutlich, er wurde erst 1970 erbaut. Auch die Kneipe an der Ecke Schillerstraße heißt schon lange nicht mehr „Schillerglocke“ wie damals. Der Wirt, ein junger Hesse, lebt seit drei Jahren in Berlin. Als er hört, dass nebenan ein Mord passiert sein soll, reißt er vor Schreck die Augen auf. Er beruhigt sich erst wieder, als er hört, dass die Tat schon 40 Jahre her ist. Wer Benno Ohnesorg war, weiß er nicht.

Kümmerliches Denkmal

Der alte Mann, der auf dem tristen Rund, das nicht Benno-Ohnesorg-Platz heißen darf, auf einer Bank sitzt, weiß es schon. „Jaja!“, ruft er und wedelt mit der Hand vage in die Krumme Straße. Erzählen kann er nichts, er ist taub und kann kaum sprechen.

Ein kümmerliches Denkmal, ein schäbiger Innenhof, den nur eine Stadtführerin findet, und ein Foto. Ist das alles, was vom Tod Benno Ohnesorgs blieb? Ulrike Lippe sagt, sie denke gerade wieder viel an damals. Der Streit um die Begnadigung von RAF-Terroristen, der Buback-Mord, die ganze Opferdiskussion. „Der Polizist, der freigesprochen worde, hat sich nie bei Ohnesorgs Familie entschuldigt“, sagt Lippe.

Auf dem Mittelstreifen der Bismarckstraße rauschen die Autos vorbei. Jenß blickt hinüber zum Haus. Sein Ehrgeiz ist geweckt: „Es wird Zeit, dass sich die Oper mit ihrer eigenen Rolle bei den Ereignissen von damals auseinandersetzt“, findet er.

Beim Rundgang durch den massiven Beton-Glas-Bau, den der in dieser Woche verstorbene Architekt Fritz Bornemann 1961 entworfen und Kanzler Willy Brandt als „Nationaloper“ des Westens konzipiert hatte, setzt sich die Fantasie des Dramaturgen in Gang. Er versucht sich vorzustellen, wie der Schah und seine Frau sich damals durchs Haus bewegten. Ob es eine Spezialvorstellung nur für ausgewählte Gäste war, wie die Sicherheitsvorkehrungen aussahen.

Jenß tritt an die große Glasscheibe im Foyer. Von hier aus blickt man über die Bismarckstraße bis weit in die Krumme Straße hinein. Das Haus, in dem Ohnesorg erschossen wurde, kann man sogar von der Bühne aus sehen, wenn die Tür offen steht. „Eine interessante Blickachse“, sinniert Jenß. „Drinnen singt Papagena, draußen schreien Demonstranten.“ Der Theatermann blickt durch die großen Fensterscheiben und kann sich vorstellen, wie der Regierende Bürgermeister „mit seinem Champagnerglas am Fenster stand und den Polizisten beim Knüppeln zusah“.

Dabei war die Deutsche Oper ein fortschrittlicher Ort. Nicht nur die Architektur, auch das Programm sei bürgernah, demokratisch und antielitistisch gewesen. „Im Gegensatz zur Staatsoper wollte man nicht vornehm sein, sondern mittendrin im Stadtleben.“ Dass das Haus trotzdem zum Kristallisationspunkt bürgerlicher Behäbigkeit und, mit dem Schah-Besuch, zum Hort der Reaktion wurde, findet der Dramaturg eine Diskussion wert. Leider sei just an diesem 2. Juni das Haus schon belegt. Aber nächstes Jahr, zum 40. Jubiläum von „Achtundsechzig“, könne man was machen.

Der bronzene Benno Ohnesorg draußen sieht aus, als könne er noch gut ein Jahr warten. Noch immer hängt er mit dem Kopf nach unten, im festen Griff der Polizisten, und wird jeden Tag ein bisschen grüner.