Fordert die Allmenden zurück

URBAN GARDENING Bauerwartungsland in Bürgerhand: Zu Besuch beim Allmende-Kontor auf dem Tempelhofer Feld, trügerischer Ort sozialer Windstille und Spielwiese für das Volk

VON GABRIELE GOETTLE

„Die Organisation der ganzen Wirtschaft im Hinblick auf das bessere Leben ist das Haupthindernis für das gute Leben.“

Ivan Illich: „Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik“

Berlin besitzt etwas, das einmalig ist, die größte innerstädtische freie Fläche der Welt, das Flugfeld des ehemaligen Flughafens Tempelhof. Einst von Bauern bestelltes Ackerland, war das Gelände seit 1722 Parade- und Exerzierplatz, 1909 startete dort der erste Zeppelin, seit 1923 existiert der Flugplatz. Die Nazis bauten ihn 1936 bis 1941 im Vollgefühl zukünftiger Weltherrschaft zu einem monumentalen Flughafen aus. Über den Flughafen Tempelhof verließen auch viele der rassisch und politisch Verfolgten das Land. Während der Berlinblockade 1948 diente er als Landepunkt für die Luftbrücke zur Versorgung der Bevölkerung, war dann einige Zeit ausschließlich in militärischer Nutzung der US Air Force, danach (im zivilen Teil) jahrzehntelang innerstädtischer Flughafen. 1975, nach der Inbetriebnahme des Flughafens Tegel, Stilllegung des Flugverkehrs in Tempelhof. Zuletzt, bis zur endgültigen Schließung 2008, landeten hier nur noch Kleinflugzeuge von Geschäftsleuten.

Aber auf dem Tempelhofer Feld wurde nicht nur geflogen. Hier organisierten die Nazis am 1. Mai 1933 einen Massenaufmarsch von eineinhalb Millionen Menschen zum neuen „Tag der nationalen Arbeit“. Von 1933 bis 1937 war im alten Militärgefängnis (Abriss 1938), dem berüchtigten „Columbia-Haus“, das Berliner Folterzentrum der Gestapo, das ab 1935 als KZ Columbia der Inspektion der Konzentrationslager unterstellt war. Im Krieg befand sich eine Rüstungsindustrie für den Bau von Kampfflugzeugen auf dem Gelände. Dazu gehörten Zwangsarbeitslager entlang des Columbiadamms. Das Areal ist getränkt mit deutscher Geschichte, schon aus diesem Grund ist es von besonderer Bedeutung, was auf ihm in Zukunft geschehen soll.

Die „Randbebauungspläne“ des Senats, angeblich zwecks Beseitigung eines Wohnungsmangels, waren erwartungsgemäß die erste Option. Jeder kann sich unschwer ausmalen, dass dieses Filetstück als Bauerwartungsland einer alles gleichmachenden Bauindustrie und weiterer Gentrifizierung in die Hände fällt. Um das zu verhindern und um die Pläne des Senats durch einen berlinweiten Volksentscheid zu stoppen, gründete sich 2011 im angrenzenden Schillerkiez die Bürgerinitiative „100% Tempelhofer Feld“. Und sie erreichte ihr Ziel. Der Volksentscheid fand am 25. Mai 2014 statt: 64,4 Prozent der abgegebenen Stimmen waren dafür, 35,5 Prozent dagegen. Das notwendige Abstimmungsquorum wurde damit deutlich überboten. Ein Volksgesetz tritt dann in Kraft, wenn 25 Prozent der Wahlberechtigten dafür stimmten. Damit war fürs Erste der Erhalt des Tempelhofer Feldes gesichert.

Heute ist das Tempelhofer Flugfeld wie das Auge des Orkans. Ein trügerischer Ort sozialer Windstille. 300 Hektar Tristesse, aber eine ungeheure Spielwiese, auf der sich das Volk tummelt, obgleich es nur drei Toilettenhäuschen auf dem gesamten Areal gibt. Modellflugzeuge surren durch die Luft, Jogger sind kreuz und quer unterwegs. Radfahrer mit und ohne Hunde, Rollstuhlfahrer, Inline- und Windskater benutzen die Start- und Landebahnen, um ungehindert zu gleiten. Gruppen spielen Ball, Spaziergänger mit und ohne Kinder vergnügen sich auf den Wiesen, alte Männer lassen Drachen steigen. Im westlich und nördlichen gelegenen Teil gibt es kommerzielle und nichtkommerzielle Angebote. Vom Shaolin-Tempel über Würstchenbuden, Minigolf, Fahrradverleih zu Wissenschafts- und Kunstprojekten wie „Arche Metropolis“ wimmelt es von Angeboten.

Eine kleine Insel

Im Osten, angrenzend an den Bezirk Neukölln, haben sich die eher pädagogischen, sozialen und nachbarschaftlichen Projekte angesiedelt. Es gibt eine mobile Fahrradwerkstatt, eine alte Telefonzelle mit Büchern zum Mitnehmen, ein Lernprojekt für Schüler. Vor allem: Hier liegt eine farbenprächtige kleine Insel aus Obst, Gemüse und Blumen, der „interkulturelle Garten“ mit dem „Allmende Kontor“, einer Anlaufstelle für urbane Landwirtschaft und Gemeinschaftsgärten in Berlin. In seinem Zentrum ist ein großes weißes Sonnensegel aufgezogen, Versammlungsplatz und Regenschutz für Gärtnerinnen, Gärtner und Besucher.

Hier sind wir – Elisabeth Kmölniger und ich – mit einer der Mitgründerinnen des Allmende-Kontors, der Soziologin Frau Dr. Meyer-Renschhausen, verabredet. Sie ist seit vielen Jahren in der Frauen- und Umweltbewegung aktiv und beschäftigt sich seit Mitte der 90er Jahre auch mit dem Thema Gemeinschaftsgärten. Als Hochschullehrerin an der Landwirtschaftlich-Gärtnerischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin gründete sie dort, zusammen mit Studierenden, die AG Kleinstlandwirtschaft, aus der heraus sich dann andere Projekte entwickelten. Sie sammelte Erfahrungen im In- und Ausland, unter anderem in den USA, wo sie mehrmals die Gemeinschaftsgärten nordamerikanischer Community Gardeners besuchte. Sie ist eine leidenschaftliche Gartenaktivistin und schrieb mehrere Bücher zum Thema. Seit einiger Zeit betreibt sie das Büro EMR-Plan (t) für Gärten und Touren in Wort und Bild.

Wir machen einen gemeinsamen Rundgang. Zu sehen sind Hochbeete, ihre Einfassungen wurden aus dem Holz von Kisten und Paletten gezimmert. Die Verwendung von Hochbeeten gehört hier zu den Auflagen der Verwaltung, erfahren wir, keine Wurzel darf sich im Boden ausbreiten, angeblich wegen der Verseuchung des Flughafenfeldes mit Kerosin. Die Gartengruppen vermuten den eigentlichen Grund jedoch darin, dass man sie so, im Fall der Fälle, schneller abservieren kann. Wie auch immer, die Hochbeete sind ein schöner Anblick und wirken auch sehr zweckmäßig. Es gibt Gemeinschaftsbeete und Einzelbeete von verschiedenen Gruppen und Projekten. Dazwischen, eingefriedet hinter einer Hecke, die Bienenkästen des Bienenprojekts. Im gesamten Garten gibt es keine genormten Gartenmöbel, alles ist selbstgebaut und steht meist so eng beieinander, dass gerade noch eine Schubkarre dazwischen Platz hat. Rechte Winkel gibt es nicht, die Pflanzkästen stehen kreuz und quer. Von Erdbeeren über Tomaten, Zucchini, Topinambur, Gurken, Kürbisse, Grünkohl, Sonnenblumen, Mais, vielen Küchen- und Heilkräutern bis hin zu Wicken und vielen schön blühenden Blumen gibt es so ziemlich alles, was hier zu gedeihen vermag. Gegossen wird mit Brauchwasser aus der alten Löschwasser-Ringleitung. Es gibt auch einige Hochbeete, die sich selber bewässern mittels Regenwassersammlern, sie sind ein Geschenk der Peter-Lenné-Landwirtschaftsschule.

Vorzüge der Schwarzerde

Die Gartengruppe vom Schiller Kiez hat über einem gebogenen Holzgerüst üppig wuchernde Feuerbohnen, nebst Amaranth und Quinoa wachsen lassen, so dass ein farbenfroher Gartenpavillon entstand, den man abernten kann. Andere haben einen kleinen Hochsitz gebaut, von dem aus sich ein guter Überblick bietet. Ein Mann hat seine Hochbeete kniehoch eingezäunt mit bunten Holzpfählen und gräbt sie gerade um für den Winter. Er sagt, er sei Maurer und erzählt von den Vorzügen der „Terra preta“, der legendären „Schwarzerde“ der Indios. Aus einem Blecheimer hat er sich ein Öfchen gebaut, darin stellt er Holzkohle her zur Verbesserung seiner Erde.

Wir kehren unter das Sonnensegel zurück, nehmen in den gemusterten Polstersesseln Platz, die dort stehen. Frau Meyer- Renschhausen erzählt: „Das ist also der ‚Gemeinschaftsgarten Allmende-Kontor‘. Den Namen habe ich teils aus den USA mit gebracht, teils haben wir ihn gewählt in Anlehnung an die ursprüngliche Allmende, als genossenschaftlich verwalteter und genutzter Landbesitz. ‚Ödländer‘ wie Wald, Moorland, Weiden oder Seen waren überall in Europa bis weit in die Neuzeit hinein kommunaler Besitz, der dann sozusagen enteignet wurde. Es gibt in den USA die Forderung: ‚Reclaim the Commons!‘ – ‚Fordert die Allmenden zurück!‘ Aber bis es so weit ist, muss man die Bodenfrage wieder neu stellen und sich dafür einsetzen, wo immer man Stücke von Brachland findet, in der Stadt oder auf dem Land, dass da wieder Gartenstrukturen hinkommen. In der Stadt in Form von Gemeinschaftsgärten. Wo wir jetzt hier sitzen, ist unser ‚Dorfplatz‘, den haben einige unserer Aktivisten gebaut, das Podest, die Bänke, die Wände. Das große Sonnensegel ist geleast und unverzichtbar bei Sonne und Regen. Wir hatten schon schöne Zusammenkünfte hier mit vielen Teilnehmern. Jetzt wird gerade wieder ein Treffen organisiert, Niels hat die Agronauten aus Süddeutschland eingeladen, das sind auch Illich-Freunde. Die waren schon mal hier und haben Workshops gemacht, über das Leben in der zukünftigen geldlosen Gesellschaft. Mal sehen, was wir hinkriegen werden in den nächsten Jahren.

Das Allmende-Kontor, das sich für die Vernetzung und Unterstützung von Berliner Gemeinschaftsgärten und Projekten der urbanen Landwirtschaft engagiert, wurde von uns 2010 gegründet. Unseren Garten hier gibt es seit Frühjahr 2011. Damals waren wir in der Gründergruppe 13 Gemeinschaftsgarten-Aktivistinnen und -Aktivisten – meist sind es um die 60 Prozent Frauen und 40 Prozent Männer, die sich an solchen Gartenprojekten beteiligen. Es gab viel Fluktuation, aber wir halten uns. Inzwischen haben wir so um die 700 Gärtnerinnen und Gärtner auf unser Liste stehen. Sie sind zwischen 20 und 75 Jahre alt. 30 bis 40 Prozent sind Nichtmuttersprachler, meist türkischer und auch arabischer Herkunft, hier aus der Nachbarschaft. Wir haben Arbeiter, Handwerker, Ungelernte, Hausfrauen, Rentnerinnen, Akademiker, alles. Die Studenten kommen von überall her, haben aber oft auch so wenig Geld wie die Arbeitslosen und Alten. Die Armut wird total unterschätzt! Es wird ja nirgends zugegeben, dass Frauen eine Durchschnittsrente von 650 Euro haben.

Und da wird es natürlich manchmal schwierig, das Geld für die jährliche Pacht von allen einzutreiben. Wir haben diese 5.000 Quadratmeter ja nicht kostenlos, wir müssen dafür 5.000 Euro im Jahr aufbringen. Versicherung müssen wir auch zahlen. Das ist eine Menge Geld! Der doppelte Preis von einem Kleingarten. Nur, beim Kleingarten hab ich noch einen Zaun drumrum, und es ‚klauen‘ dann wenigstens nur die Haselmäuse und Schnecken. Aber hier klauen eben alle anderen auch noch. Leider. Meist morgens und abends, wenn keiner da ist. Nachts ist ja geschlossen. Das Wort Garten sagt schließlich ‚Hege‘, etymologisch leitet es sich von den zum Weidenzaun geflochtenen ‚Gerten‘ ab. In vielen Sprachen ist der Schutz, das Einhegen, noch enthalten, wie in Hortus, in Jardin oder Gaard. Also eine Einhegung mit Rosen und Brombeeren, dazu stets offene Schwingtürchen, das wäre eine Lösung, aber das ist eben nicht erlaubt.

Wir haben überhaupt viel gegen bürokratische Zumutungen zu kämpfen. Unlängst fiel es der Grün Berlin GmbH ein – das ist eine outgesourcte, sozusagen private Firma –, dass wir mit unserem Gemüse hier auch für die Rattenplage zuständig sind. Eine ‚Rattenentsorgung‘ auf so einem großen Feld, die kostet um die 5.000 Euro. Unsere Leute waren natürlich furchtbar erschrocken, aber für mich war klar, für eine Rattenplage ist der Vermieter zuständig. Wir sind hier Pächter. Dennoch mussten einige entsprechende Telefonate geführt werden wegen der Ratten. Das ist alles sehr arbeitsintensiv. Außerdem, wenn der Kammerjäger Giftköder auslegt, ist das auch nicht gut, denn wir haben hier Falken und Schleiereulen. Die werden dann auch vergiftet, sie jagen ja Mäuse und auch Ratten. Das sind alles Fragen, die geklärt werden müssen, aber nicht mit einer privaten Firma. Die AG Kleinstlandwirtschaft empfiehlt daher dem Land Berlin, nach New Yorker Vorbild eine Kleinbehörde à la Green Thumb einzurichten. Green Thumb (Grüner Daumen), koordiniert die 500 Community Gardens in New York City. Sie war zunächst beim Bürgermeister angesiedelt und ist heute ein Teil der Park- und Freizeitverwaltung.

Der Allmende-Garten jedenfalls ist inzwischen so ein bisschen zu einem der Symbole der neuen Gartenbewegung geworden. Einer weltweiten Bewegung für Urban Agriculture – oder Neudeutsch: Urban Gardening. Dieser Garten hier ist im Anschluss an zehn Jahre Gartenbewegung in Berlin entstanden. Inzwischen gibt es zahlreiche Gartenprojekte in der Stadt. Vor allem interkulturelle Gärten, nach dem Vorbild der Internationalen Gärten in Göttingen, die 1998 gegründet wurden mit der Absicht, Einwanderern eine Möglichkeit zum Gärtnern zu bieten. Die bosnischen Frauen in Göttingen hatten gesagt, dass ihnen in der Asylsituation am meisten ein Garten fehlt. Und so kamen die Internationalen Gärten zustande, auch mit Hilfe der Kirche und der Politik. In diesem Zusammenhang entstand auch die Stiftung Interkultur in München.

1998, im Rahmen meiner Gastprofessur für ‚Rurale Frauenforschung‘ an der Humboldt-Uni Berlin, haben wir eine internationale Gartenkonferenz zum Thema ‚Kleinstlandwirtschaft und Gärten in Stadt und Land‘ organisiert. Später fanden noch zwei ähnliche Konferenzen statt, und es sind dann auch in diesem Kontext zwei Bücher erschienen: ‚Die Wiederkehr der Gärten‘ und ‚Die Gärten der Frauen‘. Letzteres zusammen mit der AG Kleinstlandwirtschaft, die dann auch die letzten vier Jahre sehr engagiert war, diesen Garten mitzugründen. Wir hatten schon 1998 angefangen, der Stadt zu sagen, dass wir das Göttinger Modell in Berlin umsetzen möchten, da es auch hier genug sozialen Bedarf gibt, bei Migranten und Arbeitslosen. Es gab genug Flächen, etwa auf dem Gleisdreieck, das damals die größte Freifläche innerhalb Berlins war und wo neue Parks entstehen sollten. Da könnten sich doch Community Gardens entwickeln. In der Art wie im Chicagoer Liberty Park, wie in vielen anderen Parks der Welt. Aber die Senatsverwaltung machte immer so hm … hm …, auch der damalige Baustadtrat von Kreuzberg, Franz Schulz, konnte sich nicht vorstellen, dass man so ein Projekt für das Gleisdreieck bei der Landesregierung politisch durchsetzen könnte. Und vor allem nicht gegen die Bahn als Bodenspekulant. Seit sie privatisiert ist, 1994 glaub ich, ist sie einer der obersten Bodenspekulanten in der Republik. Alles Land ist für sie lediglich ‚Bauerwartungsland‘.

Und da sind wir wieder bei der Bodenfrage. Diesbezüglich haben die Bürgerinitiativen seit über 30 Jahren durchgehalten, mehrere Kohorten von Bürgerinitiativen. Einige wenige sind heute noch dabei, wie – ich sage immer: der gute Mensch von Schöneberg – der Architekt Norbert Rheinländer. Der von der ersten AG Westtangente bis zum Gleisdreieck und bis heute durchgehalten hat.

Letzten Endes konnten die Gemeinschaftsgärten dann doch durchgesetzt werden, vor vier Jahren ist der Park am Gleisdreieck eröffnet worden mit dem interkulturellen Garten ‚Rosenduft‘. Er ist vor allem für traumatisierte Frauen aus Bosnien und Herzegowina entwickelt worden vom Südosteuropa Kultur e. V. Damals haben sich erst mal alle gefragt, was aus solchen Gärten eigentlich werden soll. Am Anfang kann man das ja oft nicht erkennen, da wirkt alles noch ganz unscheinbar. 2005 haben wir – auch auf dem Gleisdreieck – mit Spitzhacke und den Leuten vom Öko-Werk angefangen, Schaugärten zu errichten. Wir wollten zeigen, dass alle Pflanzen ‚wandern‘. Nicht nur Menschen sind Migranten, unsere Lebensmittelpflanzen auch. Die Kartoffeln kommen aus Südamerika, das Getreide aus dem Fruchtbaren Halbmond in Vorderasien, der sogenannten Wiege des Ackerbaus. Wenn wir uns hier nur lokal ernähren würden, dann gäb’s nur ein paar Möhren, Kaninchen und Wildschweine, mehr hätten wir nicht zu essen.

Jedenfalls war und ist die Gründung solcher Projekte in Deutschland immer schwierig, viele bürokratischen Hürden müssen genommen werden, und dann, um das umsetzen zu können, muss man sich natürlich private Hilfe suchen. Da gibt es etwa die Stiftungsgemeinschaft Anstiftung & Ertomis, die innovative Aktivitäten der Zivilgesellschaft in Stadt und Region fördert. Die hatten damals eine Tagung ausgerichtet in Köpenick, mit der Agenda 21 Köpenick und anderen, und Anstiftung & Ertomis hat daraufhin die Stiftung Interkultur gegründet. Sie hat den Auftrag, bei der Ersteinrichtung von interkulturellen Gärten zu helfen. Der erste offizielle interkulturelle Garten in Berlin war dann der ‚Wuhlegarten‘ in Köpenick.“

Früchte des Gärtnerns

Eine alte Frau im Arbeitskittel, vermutlich Türkin, setzt sich wortlos zu uns, senkt die Augen und legt nach Bäuerinnenart ihre von Arbeit gezeichneten Hände in den Schoß. Sie hat sich zum Gespräch gesetzt wie zu einem wärmenden Feuerchen. Ob sie uns versteht, weiß ich nicht. Frau Meyer-Renschhausen fährt fort: „Inzwischen sind es über zwanzig. Sie leisten durch gemeinschaftliches Gärtnern einen wichtigen Beitrag für die Begegnung und den Austausch zwischen Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsländern. Zugleich sind die Früchte des Gärtnerns eine willkommene und oft notwendige Bereicherung des Speiseplans.

Ich habe es schon erwähnt, dass wir in den 90ern die AG Kleinstlandwirtschaft an der Uni gegründet haben – mit Hartmut Berger, Soziologe und Philosoph, habe ich die ersten Seminare mit den Studenten per Fahrrad auf dem Land in der Uckermark gemacht. Wir haben Gemeinden aufgesucht, die ganz besonders abgehängt waren durch den Strukturwandel in den neuen Bundesländern.

Da habe ich zum ersten Mal gesehen, wie wichtig das Gärtnern in Zeiten der Arbeitslosigkeit ist. Die Alten können es noch aus DDR-Zeiten. Da hieß das ‚individuelle Hauswirtschaft‘, um abzulenken davon, dass es Landwirtschaft ist. Ein Teil der Erzeugnisse wurde an den offiziellen Ankaufstellen abgegeben und zum doppelten Preis abgekauft. Ein Kaninchen etwa wurde für soundso viel Ostmark angekauft und dann, so hat man uns erzählt, konnte man im Prinzip vorn reingehen und es sozusagen küchenfertig für die Hälfte des Preises kaufen.

Das war hoch subventionierte private Kleinstlandwirtschaft. Im ganzen Ostblock dasselbe. Nur in der DDR und in Rumänien wurde besonders wenig darüber geredet. Aber nach der Wende ist diese Kleinstlandwirtschaft – die vor allem von Frauen praktiziert wurde – ganz in der Versenkung verschwunden. Es ist nichts an diese Stelle getreten, im Gegenteil, die Bodenfrage wurde von der Politik zugunsten der Großbetriebe entschieden. In Brandenburg besitzen heute agrarische Großbetriebe mit jeweils über 1.000 Hektar 70 Prozent der Brandenburger Ackerflächen. Die kleinen Höfe haben nur weniger als 5 Prozent vom Bund zur Pacht oder zum Kauf bekommen. In Märkisch-Oderland kontrollieren vier Investoren fast ein Drittel des Bodens. Die wenigen Biobauern sind umzingelt von ‚Biospritfeldern‘, die permanent chemisch behandelt werden. Das ist für die weitgehend arbeitslose Landbevölkerung der ehemaligen DDR bis heute eine Katastrophe. Ihr lässt sich aber fürs Erste wenigstens durch die Wiederbelebung der Kleinstlandwirtschaft etwas entgegensetzen, durch die Einrichtung von Hausgärten, was vielerorts auch gemacht wurde.

Aber hier geht es ja jetzt um die Stadt, um Möglichkeiten in der Stadt. Unsere AG wurde damals in die USA eingeladen, dank Gert Gröning, Professor an der Berliner Universität der Künste. Er fuhr in dieser Zeit schon regelmäßig zu den ‚Community Gardeners Association Conferences‘. In den nordamerikanischen Städten gibt es über 15.000 Community-Gardening-Projekte. Die Leute von Berkeley luden uns ein, und dort lernte ich Karl Linn kennen, einen deutschen Juden, er war schon über 80, aber voller Energie. 2005 ist er leider gestorben. Er war Landschaftsarchitekt, Psychoanalytiker, Sozialpsychologe, Pädagoge und vor allem Commons-Aktivist. Seine Mutter war Lebens- und Bodenreformerin. Sie hatte um 1913 herum eine Obstplantage angelegt im Ruppiner Land und sie arbeitete auch zusammen mit der Obstbaukolonie Eden bei Berlin. Aus dieser Zeit stammte wohl seine Leidenschaft. Die Familie musste 1933 nach Palästina auswandern, 1948 ging er in die USA. Die drei Community Gardens in Berkeley hatte Karl Linn maßgeblich mitbegründet. Er hat mir seine Lebensgeschichte erzählt, hat uns dann auch öfter besucht in Berlin. Er war hier mit einer Haus- und Landbesetzerin vom ‚Ziegenkiez‘ befreundet. Er war ein absoluter Gegner der Privatisierung öffentlichen Bodens. Von ihm habe ich das eigentlich gelernt: to reclaim the commons.

Das war in der amerikanischen Bewegung schon länger im Gebrauch, auch als Forderung. Die Community-Gardening-Bewegung in den USA gibt es schon seit 1973. In New York in der Lower East Side ist damals der erste Garten, der heutige ‚Liz Christy Garden‘, gegründet worden, von Liz Christy und ihren Freunden. Sie waren sogenannte Guerilla Gardeners, bewaffnet mit Samenbomben und Spitzhacke, und haben einfach angefangen auf einem verwüsteten, zugemüllten Grundstück. Zuerst sollten sie vertrieben werden, dann haben sich aber die Medien damit beschäftigt, und es gab einen Aufschrei der Empörung. Die Zahl der Arbeitslosen begann bereits zu wachsen, so dass man das Projekt dann geduldet hat. Erst in den 90er Jahren kam es zu einer zweiten Welle von Community Gardening, und jetzt zu einer Urban-Agriculture-/Community-Gardening-Bewegung, vor allem in Harlem und in der Bronx. In New York gibt es um die 500 Community Gardens. Ich habe die Clinton Community Gardeners kennen gelernt, die Ghettogärten in Harlem und in der Bronx angeschaut. Darüber habe ich dann ein Buch gemacht: ‚Unter dem Müll der Acker‘. Bei uns ist es zwar etwas anders, noch, aber die Bodenfrage stellen wir natürlich auch.“

Natürliche Ressource

Die alte Frau steht gelassen auf und geht still davon. Es wird plötzlich kühl und windig. Frau Meyer-Renschhausen legt ihren Schal um den Hals und fährt fort: „Mich interessiert an der Allmende die natürliche Ressource. An manchen Orten hat die alte Allmende bis heute überdauert. Die Alm – da steckt das Wort noch drin – gibt’s in gemeinschaftlicher Bewirtschaftung immer noch in der Schweiz. Es gibt noch die ‚Hutanger‘, das sind gemeinschaftlich genutzte Weiden in der Frankenalb im Nürnberger Land. Auch in der Sprache haben wir noch einige Worte, die auf die Allmende zurückgehen, etwa im norddeutschen ‚Asch‘ oder ‚Esch‘, was der Gemeinschaftsacker war, oder auch im ‚Plan‘, Goethe wohnte am Frauenplan. Das sind auch Angernamen, sogar die ‚Mark‘ ist oft eine Alm. Ich habe gerade gelesen, in Ungarn hatten die Dörfer diese Struktur bis in die 1860er Jahre. Bei uns ist, etwa in der Uckermark, ab 1848 der gemeinsame Besitz an Grund und Boden verboten worden.

Mit unserem Projekt wollten wir daran erinnern, an diese Enteignung. To reclaim the commons. Es ermutigt die Leute. Wer nur wenig Geld verdient, ist oft auch ein wenig unsicher und ängstlich, traut sich nicht, ungewöhnliche Forderungen zu stellen. Das ist eine große Aufgabe, so einen Garten zu gründen und ihn schließlich mit ganz unterschiedlichen Leuten zu einem Gemeinschaftsprojekt zu machen. Es ist die konsequente und ideale Kombination von Lokalem mit Globalem und von Sozialem mit Ökologischem.

Das Eigentliche, das die Gesellschaft trotz allem noch zusammenhält, ist das Soziale, das Kommunikative, das Häusliche und die Selbsthilfe, und gerade das wird von der Politik maßlos unterschätzt, auch deshalb, weil man es nicht besteuern kann. Deshalb denke ich, die Städte müssen Boden bevorraten, müssen den Leuten Land geben zum Gärtnern. Besonders in Krisenzeiten ist das lebensnotwendig. Dass man den Arbeitslosen und Armen nichts dergleichen zur Verfügung stellt, dass man den Asylanten und Flüchtlingen jede sinnvolle Tätigkeit verbietet, ist ein Skandal. Menschen zur Untätigkeit zu verdammen ist grausam. In einer völlig verrohten Welt, in der nur noch mit letzten Kräften versucht wird, den Zusammenbruch des Kapitalismus zu verhindern oder zu verzögern, bleibt kein Platz fürs Soziale. Das ‚Reichsgartengesetz‘ war sehr progressiv, das erste Gesetz der Novemberrevolution. Es sprach den Leuten das Recht auf einen Kleingarten zu. Heute sind Kleingartensiedlungen in den Städten im Prinzip nur noch Bauerwartungsland. Alles muss zugebaut werden, alles! Das Parkhaus auf dem Gleisdreieck ist dreimal so groß wie der erste Gemeinschaftsgarten, tatsächlich steht es immer leer, wird gar nicht gebraucht. Aber es musste gebaut werden. In der Krise geht ‚das Geld‘ in Immobilien, in Grund und Boden.“

Es donnert krachend. Über dem Tempelhofer Feld hat sich der Himmel dramatisch verfinstert. Plötzlich geht ein sturzbachartiger Platzregen nieder. Gärtner und Spaziergänger springen über die Pfützen und drängen sich Schutz suchend unter dem Segel zusammen. Für eine Weile sind wir alle vor dem Regen geschützt. Dann aber beginnt es hier und da durchzutropfen. Es tropft auch auf einen Hund, der sich gar nicht darum kümmert.