Die Störerin

Dezember 2003: Malalai Dschoja sorgt mit ihrem ersten Auftritt vor der verfassungsgebenden Versammlung für Furore. Sie sagt: „Die Glaubwürdigkeit dieser Versammlung ist dahin, weil in ihr all jene sitzen, die unser Land in diese Lage gebracht haben. Schaut euch die Kommissionen an und wer ihnen vorsteht. Warum bilden wir nicht eine Kommission aus all diesen Verbrechern? Dann wissen wir gleich, woran wir sind.“

Dezember 2005: Im neu gewählten Parlament erhebt Dschoja erneut ihre Stimme gegen die Warlords. „Ich spreche allen Afghanen mein Beileid aus dafür, dass sie von Kriegsfürsten, Drogenbaronen und anderen Kriminellen vertreten werden“, sagt Dschoja. Ihre Rede sorgt für tumultartige Szenen im Parlament. Ihr wohl gesinnte Abgeordnete bringen Dschoja in Sicherheit. Sie erhält Todesdrohungen.

Mai 2007: Im Interview mit dem Privatsender Tolo TV vergleicht Dschoja das Parlament mit einem Zoo. Sie sagt: „Ein Stall oder ein Zoo ist sogar nützlicher. Dort gibt es wenigstens Esel, die einen Karren ziehen, oder Kühe, die Milch geben.“ Das Parlament beschließt ihre Suspendierung. KEL

AUS KABUL PETER BÖHM

Sie hat mal wieder für Schlagzeilen gesorgt. Am Montag ist Malalai Dschoja vom Unterhaus des afghanischen Parlaments für den Rest der Legislaturperiode suspendiert worden. Kurz zuvor hatte die Abgeordnete im Interview mit einem regierungskritischen Privatsender das Oberhaus des Parlaments einen „Stall“ genannt. Einen Stall, in dem „Ochsen“ und „Esel“ hausen.

Unverkennbar: Das sind Sprache und Stil von Malalai Dschoja. Erst in der vergangenen Woche hatte sie gegenüber dem taz-Reporter das afghanische Parlament einen Zoo genannt. Bei dem Gespräch in Kabul vergaß sie auch nie, ihre Parlamentskollegen Verbrecher zu schimpfen. Die 28-jährige Politikerin pflegt gern einen klaren Sprachstil.

Im Unterhaus des Parlaments trafen denn auch Welten aufeinander. Auf der einen Seite die Anwältin für Menschen- und Frauenrechte, die die Verbrechen der Warlords aufgearbeitet wissen wollte. Auf der anderen die Mudschaheddin, die für ihren Kampf gegen die sowjetischen Besatzer in den 80er-Jahren als Helden gepriesen werden wollen, aber über ihre Untaten lieber schweigen.

Schmeißt sie raus!

Der Sprecher des Unterhauses hat der Abgeordneten Dschoja regelmäßig einfach das Mikrofon abgestellt, um sie im Plenum zum Schweigen zu bringen. Sie selbst hat vier Anschläge auf ihre Person gezählt, und die Parlamentssitzungen bezeichnete sie als „Folter“. Dennoch funkeln ihre Augen, als sie erzählt, ihre größte Genugtuung als Abgeordnete sei, wenn sie ins Plenum gehe mit dem Wissen, „dass die Warlords zittern, weil sie sich den Kopf zerbrechen, wie ich sie nun wieder bloßstellen werde“.

Nun haben ihre Gegner gesiegt. Fürs Erste jedenfalls. Dschojas Intimfeind, Senatssprecher Sibghatullah Mudschadidi, hat gar gefordert, die Abgeordnete wegen ihrer beleidigenden Äußerungen festzunehmen und vor Gericht zu stellen. Als darauf ein Abgeordneter des Gleichberechtigungsausschusses sich für Dschoja einsetzte, verließen die Senatoren unter Protest den Saal.

Malalai Dschoja ist ungestüm, sie ist alles andere als diplomatisch. Aber dass sie nun von Parlamentssitzungen ausgeschlossen wird – und zwar von jener Mehrheit der Abgeordneten, die Dschoja immer als Kriminelle angeprangert hat –, erweckt zwangsläufig den Eindruck, hier solle eine unbequeme Stimme zum Schweigen gebracht werden. Denn die Abgeordnete hat das immer gleiche politische Credo: Schmeißt die afghanischen Warlords aus ihren Ämtern und stellt sie endlich vor ein ordentliches Gericht. Die so Angegriffenen wiederum haben längst das Parlament für ihre Zwecke entdeckt. Denn es eignet sich hervorragend dafür, Politik nach Gutdünken zu machen unter dem Deckmantel der demokratischen Entscheidungsfindung. Laut einem Bericht von Human Rights Watch (HRW) hat sich jeder dritte Abgeordnete Verbrechen im Bürgerkrieg schuldig gemacht oder verdient heute am Drogenhandel.

Malalai Dschoja zu treffen ist ein schwieriges Unterfangen. Am Parlamentsgebäude, dem vereinbarten Treffpunkt, taucht ein Mann auf, der Besucher zu einem Haus ganz in der Nähe führt. Journalisten werden durchsucht – drei Polizisten drehen Stifte in den Händen und das Diktiergerät – und schließlich zu Malalai Dschoja geführt. Sie sitzt auf dem Boden. Neben ihr, in respektablem Abstand, zwei junge Frauen, gehüllt in Schwarz, madonnengleich, die stumm dem Gespräch folgen. Außerdem ein Mann in den Fünfzigern, ein Verwandter, wie Dschoja sagt. Den Umweg erklärt die prominente Politikerin damit, dass sie in Kabul kein öffentlich zugängliches Büro habe, jeder kenne sie hier. Und weil zwei der Warlords im Parlament ihre Nachbarn seien, verlasse sie das Haus inzwischen nur noch unter einer Burka.

Malalai Dschoja kann gut reden. Aber nicht viel über sich selbst. Sie wirkt zierlich in ihrem großen modisch-bunten Schal, und sie ist jung, im April ist sie 28 geworden. Vier Tage alt war sie beim Einmarsch der Sowjetunion in Afghanistan, referiert sie. Vier Jahre alt, als sie mit ihren Eltern in den Iran floh. Sieben Jahre alt, als die Familie nach Pakistan floh. Dann soziale Arbeit in den Flüchtlingslagern – „Ich weinte mit den Leuten, ich lachte mit den Leuten“ –, geheime Computerkurse für Frauen, ein Waisenhaus unter den Taliban. Das alles hat sie schon oft erzählt. Vier Minuten, 42 Sekunden, abgelesen vom Diktiergerät, braucht sie für ihre Geschichte. Nein, sie kann sich an nichts mehr erinnern aus ihrer Kindheit, „erst mit sechs oder sieben, als wir nach Pakistan gezogen sind, habe ich die ersten Bilder“. Schnell ist sie wieder auf Autopilot, um über Warlords oder andere Kriminelle herzuziehen.

Bekannt geworden ist Malalai Dschoja mit einer kurzen Rede auf der verfassungsgebenden Loja Dschirga im Dezember 2003. Die mächtigen Vorsitzenden der Komitees waren allesamt alte Bürgerkriegskämpfer, trotzdem nannte die damals 24-Jährige sie Verbrecher, die vor Gericht gebracht gehörten. Der Vorsitzende Sibghatullah Mudschadidi ließ sie von Soldaten abführen. Seither lebt sie unter ständiger Bewachung.

Nach diesem Auftritt brach ein riesiger Medienrummel los, für die BBC ist Malalai Dschoja seither „die bekannteste Frau Afghanistans“. Und sie ist wohl noch etwas mehr: eine Art Volksheldin, bekannt und geliebt in Afghanistan dafür, dass sie keine Kompromisse gegenüber den alten und neuen Machthabern eingeht.

Zwei Jahre später, im September 2005, traf sie die alten Mudschaheddin im Parlament wieder. Dschoja hatte das zweitbeste Ergebnis der Abgeordneten von Farah, ihrer Heimatprovinz. Aber viele Warlords hatten ein besseres. Seit diesem Tag war jede Parlamentssitzung, sagt sie, „Folter“. Sie wurde beschimpft, bedroht und mit Wasserflaschen beworfen. Manchmal musste sie stundenlang mit dem fürs Protokoll zuständigen Beamten verhandeln, bevor sie sprechen konnte. „In Afghanistan“, sagt Ahmad Nader Naderi, der Sprecher der Afghanischen Menschenrechtskommission (AIHRC), „ist es leider so, dass die demokratische Institution des Parlaments gegen die Demokratie arbeitet.“

Ständige Provokationen

Tatsächlich hat das Parlament Gesetze erlassen, die Frauen benachteiligen und die Medienfreiheit beschneiden. Und seit sich im März auch noch die Mudschaheddin-Fraktion mit ehemaligen Funktionären des pro-sowjetischen Regimes und Ex-Taliban zur Nationalen Front verbündet haben, ist es für die demokratischen Kräfte noch enger geworden. Als Erster bekam das Außenminister Rangin Dadfar Spanta zu spüren – er sollte unter fadenscheinigen Vorwürfen seines Amtes enthoben werden.

In einem solchen Parlament hatte Dschoja vor allem Feinde. Sie kam und ging nur noch durch einen Seiteneingang. Bei der Sitzung, auf der Außenminister Spanda das Misstrauen ausgesprochen wurde, stand sie in der Pause mit einer Gruppe Frauen etwas abseits. Wieder einmal hatte sie im Plenum nicht sprechen dürfen. Wutentbrannt ließ sie eine Tirade ausgerechnet gegen die Menschenrechtskommission ab, eine „Marionette Irans“ sei die. Und die demokratisch gesinnten Abgeordneten – die würden immer nur duckmäusern.

„Wegen Malalais ständiger Provokationen haben sich die Warlords gegen sie zusammengeschlossen“, sagt Sabrina Sagheb, die jüngste Abgeordnete. „Wäre sie nur etwas diplomatischer gewesen, hätte sie viel mehr erreichen können.“ Und der Menschenrechtler Naderi ist gar der Meinung, wegen Dschojas undiplomatischem Verhalten sei das Amnestiegesetz schon wieder verschoben worden.

Nicht alle sehen das so. Manche geben dem Druck durch Human Rights Watch die Schuld. Einem Nationalen Versöhnungsplan zufolge, den die AIHRC 2005 mit Regierungsvertretern und Gesandten der UN-Mission erarbeitet hatte, sollen diejenigen, die sich früher etwas zuschulden haben kommen lassen, aus ihren Ämtern entfernt werden. Ihre Verbrechen sollten dokumentiert und die Opfer entschädigt werden. Im Dezember 2006 schließlich forderte Human Rights Watch, dass dieser Plan endlich umgesetzt werde. Die Organisation verwies auf einen bereits 2005 erschienenen Bericht, der die Kriegsverbrechen dokumentiert. Der Bericht nennt als Täter genau jene, die heute im Parlament oder in Präsident Karsais Regierung sitzen.

Amnestie für die Täter

Kurze Zeit später, im Januar, verabschiedete das Parlament ein Gesetz, das denjenigen, die im Bürgerkrieg Verbrechen begangen haben, Amnestie verspricht. Präsident Karsai entschärfte es ein bisschen. Er fügte eine Klausel hinzu, nach der jeder gegen einen mutmaßlichen Verbrecher klagen kann, und schickte das Ganze ans Parlament zurück. Das verabschiedete die geänderte Fassung, und Präsident Karsai, so glauben alle Beobachter, wird es fristgerecht bis morgen unterschreiben. Nun liegt der Versöhnungsplan auf Eis.

„Präsident Karsai wird das Amnestiegesetz unterschreiben“, meint auch Malalai Dschoja. „Er hat schon immer Kompromisse mit den Warlords gemacht. Aber das Volk wird ihm das nie verzeihen.“

Bei dem Treffen in der vorigen Woche schien sie mit ihrer Zeit im Parlament schon abgeschlossen zu haben. „Solange ich noch im Parlament bin, solange sie mich noch nicht rausgeschmissen haben“, sagte sie, „werde ich meinen Kampf innerhalb und außerhalb des Parlamentes fortführen.“ Dennoch sollten die Warlords sich klar sein: „Solange sie an der Macht sind, werde ich nicht aufgeben. Befreiung ist nichts, was uns geschenkt wird. Die Warlords können mich umbringen, aber die Stimme des afghanischen Volkes ersticken können sie nicht.“ Fürs Erste haben sie sie mundtot gemacht.