Letzter Teil der Ridder-Serie: Wo Schloss und Riegel für
Henricus Hubertus Jansen, Gefängnisseelsorger in Diez, lernte die Ärztin Dorothea Ridder über Manfred Grashof kennen, den Jansen intensiv betreute.
Henricus Hubertus Janssen, geb. 1937 in Nederweert/Niederlande. Wuchs als eines von acht Kindern auf, der Vater war Landwirt. Nach Grund- und Hauptschule Besuch d. Handelsschule, 1 Jahr Banklehre bei einer Privatbank, dann Abbruch. Gymnasium. Juli 1959 Noviziatseintritt in die Kongregation der Passionisten-Patres. Juli 1960 Ende d. Noviziats, Studium d. Philosophie u. 1962-1966 Studium d. Theologie. Am 9. Juli Priesterweihe in Mook. 1966-1967 Universität in Louvain/Belgien, Studium d. philos. Anthropologie. Aug. bis Dez. 1967 Gastseminar a. d. Universität Straßburg (Beschäftigung m. d. Existentialismus, insbes. Sartre u. Merleau-Ponty). Ab 1968 im Kloster d. Passionisten Frankfurt/Main, Krankenhaus-Seelsorger im Unfallkrankenhaus. 1969 Präses d. Kolpinghauses in Ffm. u. Bezirkspräses der Kolpingfamilie bis 1. 12. 77. Ab März 1973 zusätzlicher Gefängnisseelsorger i. d. Justizvollzugsanstalt Diez/Lahn. Dezember 1977 Umzug n. Limburg-Eschhofen, wo er als Seelsorger d. Pfarrgemeinde d. St.-Antonius-Kirche übernahm (u. weiterhin Gefängnisseelsorger in Diez/Lahn war). Bis heute ist er in Eschhofen Pfarrer. 1979 wurden die RAF-Gefangenen Manfred Grashof u. Klaus Jünschke in die JVA Diez verlegt, um die er sich besonders intensiv bemühte. 1983 lernte er über Astrid Proll Dorothea Ridder kennen, die Grashof im Gefängnis besuchte und dann dort auch heiratete. Bis zur Begnadigung 1988, durch d. rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten B. Vogel, kümmerte er sich engagiert um d. beiden RAF-Häftlinge. Nach d. Rücktritt Vogels verschlechterte sich d. politische Klima. Hubertus Janssens Tätigkeit als Seelsorger i. d. JVA Diez wurde auf Betreiben des Anstaltsleiters 1990 jäh beendet, sein Gestellungsvertrag z. 1. Mai gekündigt. Kurz danach wurde er zum Vorstandsmitglied d. "Komitees für Grundrechte und Demokratie" gewählt, wo er sich im "Arbeitskreis Strafvollzug" engagierte u. i. d. "Aktion Ferien vom Krieg", für traumatisierte Kinder aus d. ehem. Jugoslawien. Auch war er viele Jahre Vorstandsmitglied im "Förderkreis f. Obdachlose" und arbeitete auch bei "Gewalt gegen Frauen". 1994-1996 war er als Prozessbeobachter durchgehend anwesend beim Prozess gegen das RAF-Mitglied Birgit Hogefeld, im Auftrag d. "Komitees f. Grundrechte u. Demokratie". Ebenfalls 1993 stand er wegen einer gewaltfreien Aktion "Gegen die Abschiebehaft für Asylsuchende" vor Gericht. Man warf ihm "Aufruf zum Landfriedensbruch und gemeinschaftliche Sachbeschädigung" vor. 1999 gehörte er zu d. Erstunterzeichnern eines Appells an d. Bundeswehrsoldaten (veröffentlicht i. d. taz vom 21. April 1999), sich nicht am Kosovo-Einsatz d. Nato zu beteiligen. Er bekam eine Anklage wegen Aufforderung zu Fahnenflucht u. Gehorsamsverweigerung. 2001 erhielt er, zusammen mit den anderen Erstunterzeichnern, den Fritz-Bauer-Preis für sein radikalpazifistisches Engagement.
schhofen ist ein kleiner hessischer Ort nahe Limburg. Fachwerkhäuser, mehr oder weniger triste Neubauten, Eigenheime, Geschäfte und Durchfahrtsstraßen prägen das Bild des flüchtigen Besuchers. Neben der hohen neugotischen St.-Antonius-Kirche liegen würfelförmig Gemeindezentrum und Pfarrhaus. Hier ist Hubertus Janssen zu Hause. Er empfängt mich mit großer Herzlichkeit. Wir bereiten zusammen in der Küche den Tee. Ich war noch nie in einem Priesterhaushalt. Dieser jedenfalls ist gutbürgerlich gediegen, verschüchternd säuberlich. Er versorgt sich selbst und wird nicht, wie ich dachte, von einer tüchtigen Haushälterin betreut. Wir nehmen im Wohnzimmer Platz in schwarzen Ledersesseln, über der Couch hängt ein altes Gemälde, ein niederländisch aussehendes Seestück, mit Segelbooten und dramatischem Wolkenhimmel. Seitlich, neben seinem Lesesessel, hängt ein schlankes Kruzifix an der Wand.
Ich frage ihn, wie er eigentlich Gefängnispfarrer wurde. Und er erzählt, mit holländischem Akzent, in den sich manchmal ein wenig vom hessischen Dialekt einschleicht, wie das damals war:
"Ich hätte nicht in irgendwelchen Funktionen arbeiten wollen in Büro oder Verwaltung. Ich wollte immer was machen, wo ich mit Menschen zu tun habe. Und ich hatte auch immer so ein Gerechtigkeitsempfinden - das habe ich wohl von daheim so ein bisschen mitbekommen -, und deshalb war der Knast sehr spannend und interessant für mich. Nee, ich hatte keine Angst davor. Ich hatte überhaupt keine Berührungsängste und ich glaube auch, dass ich relativ wenig Vorurteile hatte. Ich hatte ja die Möglichkeit, mir immer auch die Akte von den Insassen geben zu lassen. Das habe ich aber abgelehnt, zunächst mal, ich wollte mir selber ein Bild machen oder einen Eindruck bekommen, durchs persönliche Kennenlernen. Wenn man mit der Akte anfängt, dann wird man beeinflusst, das sind Führungsakten, in denen alle mögliche Wertungen usw. drinstehen.
Diez ist ein altes Gefängnis. Als ich 1973 hinkam, gabs noch die Einrichtung einer Zelle, in der renitente Gefangene im Dunkeln, bei Wasser und Brot sozusagen, auf einer Betonliege schmoren mussten, das wurde 1977 durch das neue Strafvollzugsgesetz abgeschafft. Ein katholischer und ein protestantischer Pfarrer waren zuständig für bis zu 600 Gefangene, davon etwa 80 Lebenslängliche. Das klingt jetzt viel, aber die große Menge war gar nicht interessiert am Seelsorger. Mir war schnell klar, in einem Gefängnis geschieht eigentlich nix Gutes. Gefängnisse sind Institutionen, die abgeschafft werden sollten! Da drin wird mit den Menschen nichts Positives gemacht.
Ich habe überlegt: Was kann ich machen? Und ich habe dann erst mal mit kleinen Schritten angefangen. Zum Beispiel, ich hatte Schlüsselgewalt, genau so wie die Vollzugsbeamten, aber ich habe immer mit dem Schlüssel angeklopft an der Tür und einen Moment gewartet, bevor ich die Zelle aufgeschlossen habe. Man kann doch nicht einfach den Schlüssel ins Schloss stoßen und die Tür aufreißen, wenn vielleicht gerade jemand auf dem Klo sitzt oder sonst was macht, ich finde, das ist eine Verletzung der Intimsphäre. Aber das gehört dort zum Alltag und es ist auch ein Stück Demütigung. Aber es gab immer auch einige Beamte, die menschlich waren.
nd wir haben, zusammen mit dem katholischen Bildungswerk, überlegt, was können wir machen, und haben dann über viele Jahre hinweg Kurse angeboten, in allen möglichen Bereichen, von Schreibmaschine über Englisch bis hin zu einem Strickkurs sogar, den eine Frau aus der Gemeinde später angeboten hat. Es gab Zeiten, wo wir gleichzeitig zehn bis zwölf Kurse laufen hatten, die waren auch sehr gefragt. Wir haben auch Supervision angeboten für die Beamten, das war wichtig, und später haben wir auch Familienseminare gemacht für die Gefangenen, damit die Bindungen nicht so abreißen. Das war alles ungeheuer schwierig, auch wegen den vielen Sicherheitsauflagen. Und ich habe einen Gesprächskreis aufgebaut, der später sehr bekannt wurde, da waren manchmal 20 Männer und mehr dabei.
Und dann sind 1979 Manfred und Klaus gekommen. Das lief schon ein Jahr im Voraus etwa, es hieß, zu uns kommen auch Terroristen. Es wurden Zellen umgebaut für besondere Sicherheitsmaßnahmen, im Berta-Flügel und im Dora-Flügel, inmitten von den anderen Häftlingszellen, aber drumrum waren immer zwei bis drei Zellen leer. Also sie sollten dann zwar Kontakt zu anderen Gefangenen haben, aber absolut keinen Kontakt miteinander! Wenn die durchs Haus geführt wurden, da hat man extra eine Gruppe von Bediensteten abgestellt. Neun Mann für diese beiden gefährlichen Menschen. Und es wurde bereits im Vorfeld Stimmung gemacht. Das hat mich daran erinnert, wie ich im Oktober 1977, nach der Todesnacht in Stammheim, in die Anstalt kam. Da war unter den Beamten - unter der Mehrheit - eine sehr unangenehme und schlimme Stimmung, so in Richtung: Gut so! Rübe ab! Das hat mich richtiggehend umgeschmissen. Ich habe meine Tasche genommen und bin nach Hause gegangen. Und genau so aufgeregt und unangenehm war die Stimmung, als Manfred und Klaus kamen. Das wurde gezielt in die Anstalt getragen, es kam von oben herunter, hat die Vorurteile verstärkt und ein Klima der Unsicherheit und auch Angst erzeugt. Und wenn dann gesagt wurde: ,Wir lassen uns unseren modernen Strafvollzug nicht kaputt machen durch zwei Terroristen!', dann war klar, wie man mit denen umzugehen hat.
Es war immer viel von Privilegien die Rede, aber da muss ich sagen, über viele Jahre hatten die beiden verschärfte Bedingungen, wesentlich strenger als der normale Gefangene. Also zusätzliche Isolierung in der Anstalt selbst, und dann auch, wenn sie irgendwo hingeführt wurden, mussten sie sich jedes Mal umziehen, nackt ausziehen, Leibesvisitation, bis zu sieben Mal und mehr am Tag! Das ist anfangs auch passiert, wie sie zu mir gekommen sind zum Gespräch, anschließend nackt umziehen. Und gerade dieser Zwang zur Entblößung ist so eine Demütigung, und Demütigungen sind immer auch gefährlich. Und alle Besuche wurden überwacht, selbstverständlich, und mitgehört. Der Seelsorger war eigentlich der Einzige, den sie allein sprechen konnten. Wobei anfangs ein Beamter anwesend sein sollte. Aber das geht doch nicht?! Als Seelsorger habe ich Schweigepflicht, das ist die ganz große Chance, Gespräche mit mir sind Vieraugengespräche. Darauf habe ich von Anfang an bestanden. Da hat zwar immer ein Beamter vor der Tür gesessen, bis die Gespräche vorbei waren, aber der konnte nichts hören.
Ich hatte mein Dienstzimmer mitten zwischen den Zellen, aber das war mein Hoheitsgebiet, sozusagen. Hier, und das war gerade auch für Klaus und Manfred wichtig, konnte spontan und unzensiert geredet werden, nichts davon kam in die Akten. Beide sind übrigens nicht katholisch, aber das spielte überhaupt keine Rolle. Später mal hat Klaus ein Interview für die Kirchenzeitung gegeben und geschildert, wie wichtig es für ihn war, mit mir frei reden zu können. Er sagte: ,Ich konnte ihm auch deshalb vertrauen, weil er der einzige Mensch war, der keine Angst vor mir hatte.' Das ist der Punkt, ich, ich habe keine Berührungsängste, weder sogenannten Autoritäten gegenüber noch gegenüber sogenannten gefährlichen Menschen. Ich hab immer versucht, jedem seine Würde zu lassen und Vertrauen zu schenken. Ganz im Gegensatz zu diesem Spruch, der immer vom Anstaltsleiter kam: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser! Ich war der Meinung, Vertrauen ist wichtig, dann ist Kontrolle gar nicht mehr so nötig. Und das hat sich eigentlich fast immer bewährt. Bis hin, dass später, als es für den Klaus so weit war, dass er im bischöflichen Ordinariat, in der Bibliothek dort, eine Möglichkeit hatte, für sein sozialwissenschaftliches Studium zu arbeiten, da dann einige Leute aus meiner Gemeinde waren, die ihn abgeholt und auch wieder zurückgebracht haben. Und das war auch wichtig, dass der Bischof Kamphaus da vertrauensvoll zugestimmt hatte.
Dass man Gesetzesbrechern Vertrauen schenkt, das wird nicht gern gesehen. Ich vergesse nie das erste Gespräch, das stattfinden sollte, es war eines mit dem Anstaltspsychologen, und der hat gemeint mir sagen zu müssen, worauf ich unbedingt zu achten hätte beim Umgang mit den Gefangenen. Ich habe das angehört und gesagt: was ich als Seelsorger mache, das ist allein meine Sache! Also was jemand gemacht hat, das spielt für mich eigentlich keine Rolle in dem Sinne. Ich will mich auf Menschen einlassen, und wenn zwei Menschen sich aufeinander einlassen, dann geschieht so oder so etwas, und was geschieht, das bestimmen die zwei, das entdecken die zwei. Ich als Seelsorger kann und will nicht das Ziel vorgeben! Und jeder hat ein Recht darauf, ein Anderer zu werden, das bedeutet, dass Menschen wieder Mut gewinnen und ihr Leben in die Hand nehmen können. Aber ich muss sie frei entscheiden lassen.
as ist Seelsorge? Das ist immer neben dem theologischen Aspekt auch politisch zu verstehen! Das ist auch das, was ich durch meinen Glauben und meine Überzeugungen motiviert vorlebe. Und wenn ich das wirklich praktiziere, das spürt mein Gegenüber, das macht mich glaubhaft, das erzeugt Vertrauen; egal ob im Knast oder im normalen Leben. Ich muss ja ständig die Entscheidung treffen: Sehe ich die Not des konkreten Menschen, oder sehe ich nur die versteinerten Gesetze, Vorschriften, Dogmen und Gegebenheiten? Die sind es ja grade, wodurch Leute unter Umständen auch kaputt gemacht werden, durch blinde Anwendung, verstehst du?! Also die können mir nicht kommen und sagen, in welche Richtung ich bei meiner Arbeit mit den Gefangenen gehen soll. Es geht mir nicht darum, dass ich als Seelsorger irgendwelche Dinge vom lieben Gott erzähle. Dass ich die Leute vertröste. Das ist etwas Schreckliches! Seelsorge hat auch was mit Veränderung zu tun, hat auch eine politische Dimension und dazu gehört die Auseinandersetzung, auch der Streit, ich kann gar nicht sagen, wie sehr wir manchmal gerungen haben.
Man hat immer gesagt, ich muss als Seelsorger in einer geschlossenen Institution wie dem Knast - noch dazu in einer sogenannten langstrafigen Anstalt mit höchstem Sicherheitsgrad - mich den Gegebenheiten des Strafvollzuges unterordnen. Ich habe immer gesagt, wir müssen das, was im Knast geschieht, transparent machen, denn das Urteil wird ja im Namen des Volkes gefällt - also in meinem Namen haben die nie geurteilt -, aber wenn das so ist, muss man das Volk über den Knast informieren, er muss transparent sein. Der Knast ist aber eine vollkommen geschlossene Institution, wo es keine Transparenz gibt. Davor hat man höllische Angst, das darf nicht sein.
Deshalb war es mir auch immer so wichtig und wertvoll, dass so viele Eschhofener, Leute aus der Gemeinde, positiv auf die Arbeit ihres Pfarrers im Knast reagiert haben und sich auch beteiligt haben. Gruppen aus der Gemeinde haben an Kursen teilgenommen, haben dieses oder jenes organisiert - besonders auch an Weihnachten war das wichtig für die Häftlinge, denn da fühlen sich ja viele besonders einsam, und da wurde dann Geld gesammelt, alle haben eine schöne Weihnachtstüte bekommen. Da war dann auch eine ,Bombe' drin, so heißt in der Knastsprache ein Glas löslicher Kaffee, und einen ,Koffer' - das ist ein Päckchen Tabak - gabs selbstverständlich auch. Die Tüten wurden dann immer hier in der Gemeinde gefüllt, und an Heiligabend, vormittags, sind zehn Leute mitgegangen und haben - das war ganz wichtig - die Gefangenen auf der Zelle besucht und die Tüten übergeben. Also es gab immer Kontakte von der Gemeinde in den Knast hinein, da sind viele Vorurteile abgebaut worden, auf beiden Seiten. Und es hat den Knast ein Stück weit transparent gemacht, weil Kontakte nach draußen bestanden.
Als Seelsorger muss ich immer gucken, wie eigentlich mit Recht und Gerechtigkeit umgegangen wird in so einer geschlossenen Anstalt. Und im Bedarfsfall hat der Seelsorger die Pflicht, den Mund aufzumachen. Das kann dazu führen, dass man deutlich sagt, dies und jenes stimmt nicht, da wird vielleicht sogar gegen die eigenen strengen Vorschriften noch verstoßen, aus Schlamperei oder sonst was, dass man fordert, das muss geändert werden. Und dass man natürlich mit den Häftlingen darüber spricht, denn sie sind ja die Betroffenen. Das ist meine Auffassung von Seelsorge. Aber die gängige Meinung war, der Seelsorger soll Gottesdienste halten und sich um die Seele sorgen. Hab ich auch! Also das ist genauso, wie wenn ich aus religiösen Motiven für die Hungernden bete. Das ist in Ordnung. Nur ist das zu wenig. Weil jetzt muss ich sehen, dass sie auch was zu essen kriegen!
Und, um bei dem Beispiel zu bleiben, muss ich dann auch denen zuerst was versuchen zu geben, die den meisten Hunger haben. Und damit meine ich Manfred und Klaus, sie waren in einer vollkommen anderen Situation als alle anderen Gefangenen. Ihre Haftgründe, sag ich mal, waren viel komplizierter, darüber zu sprechen war viel schwieriger, und ihre Haftumstände waren viel strenger. Gut, deshalb habe ich das dann auch vor mir selbst verantworten können, dass ich, ohne andere dabei zu vernachlässigen, Prioritäten gesetzt und mir für sie mehr Zeit genommen habe. Was anfangs auch die Anstaltsleitung akzeptiert hat, was sich dann leider aber änderte. Das ist aber eine andere Geschichte, auf die ich später vielleicht noch mal zurückkomme.
Man hat häufig zu mir gesagt, ich wäre ein Sympathisant. Und ich habe gesagt: Ja, das stimmt auch! Ich sympathisiere aber mit Menschen. Das heißt nicht, dass ich mit ihren Taten sympathisiere oder sie verharmlosen will. Für die Verurteilung ist der Richter zuständig, nicht ich. Und ich will auch nicht erziehen. Das ist alles nicht meine Aufgabe. Ich habe das mal erlebt, in einem Lokal, abends, nach einer Veranstaltung, dass jemand sagte: Ach, Sie sind der Terroristenpfarrer. Also gut gemeint. Das war für mich ein Schock. Das kann ich überhaupt nicht leiden, diese Stigmatisierung. Das sind Menschen, die wegen Terrorismus verurteilt wurden, nicht mehr, nicht weniger. Das war für mich nie eine Frage, dass ich sie nicht umerziehen muss, sondern ihnen meine Hilfe anbiete, bei der Suche nach einer neuen Perspektive, also rauszukommen aus der Perspektivlosigkeit. Das betraf auch die Gefangenen generell, den Insassen wurde im Alltag des Strafvollzugs eigentlich nie ein wirklicher menschlicher Wert unterstellt, deshalb wars mir immer wichtig, etwas Normalität in den Knast hineinzutragen - sofern im Knast überhaupt etwas normal sein kann.
nast ist eigentlich unerträglich! Ich habe mich in den ganzen 17 Jahren, die ich dort war, nicht an die Haftbedingungen der anderen gewöhnen können. Und da ist es dann besonders wichtig, dass jemand da ist, der zuhört und nicht gleich urteilt oder die Antwort weiß. Es geht um Auseinandersetzung, auch um Einsicht, aber das muss ein Prozess sein. Was glaubst du, wie wir manchmal gerungen haben, gerade auch in Gesprächen mit Manfred und Klaus. Aber ich habe nie versucht, jemandem was unterzujubeln, auch nicht damals, als Manfred 1984/1985 im Hungerstreik war und ich wusste, er war in einer Konfliktsituation.
Und jetzt ist der Moment gekommen, wo auch Dorothea auftaucht, wo ich von ihr erzählen will. Bevor du gekommen bist, habe ich noch mal in alten Unterlagen nachgeschaut. Es ist schon eine spannende Sache, in den Terminkalendern aus diesen Jahren zu blättern. Entdeckt habe ich, dass Astrid Proll in der Zeit vom Juli bis August 1983 öfter bei mir angerufen hat, in der Vermittlerrolle, zwischen Dorothea, mir und Manfred. Am 13. Oktober erster Anruf von Dorothea, um 22 Uhr. Und bald darauf ist sie dann zum ersten Mal gekommen, um Manfred im Knast zu besuchen, das musste ja erst alles beantragt werden usw.
Sie wohnte in Limburg an diesem Wochenende, im Hotel Huss hatte sie ein Zimmer genommen, und sie bat mich um ein Treffen. Wir vereinbarten einen Termin in einem kleinen italienischen Lokal in Diez, unweit vom Bahnhof. Ich war natürlich neugierig, ein bisschen unsicher. Als ich reinkam, entdeckte ich sofort eine junge Frau. Sie ist dann auch gleich aufgestanden, war zierlich, schlank, ganz geschmackvoll gekleidet, und was mir auffiel, war ihr sehr offenes, erwartungsvolles Gesicht. Ich ging zu ihr und sie umarmte mich herzlich, ohne große Umstände. Das war ganz selbstverständlich. Für mich kein Problem. Später erfuhr ich dann, dass sie das mit allen Menschen so gemacht hat.
Wir haben uns dann unterhalten und mitten im Gespräch fragte sie mich plötzlich: Magst du ihn auch? Damit hatte sie etwas Wesentliches und Wichtiges angesprochen, denn darum geht es eigentlich, dass man Menschen mag. Sie war ein Mensch, der Menschen mag, das war sofort spürbar. Und damit war das Eis endgültig gebrochen. Wir waren Ärztin und Pfarrer, bei aller Verschiedenheit vielleicht, haben wir doch das gemeinsam gehabt, dass wir uns in ähnlichen Berufen mit ähnlicher Begeisterung für das Wohl und, ich will mal sagen, für das Heilwerden der Menschen einsetzen.
Dorothea war eine sehr willensstarke Persönlichkeit, sie wusste immer genau, was sie wollte. Und sie hat mir dann erklärt, sie will sich mit allen ihren Möglichkeiten um Manfred kümmern, ihn einmal im Monat in Diez besuchen im Knast und dass sie schon am Freitag kommen wird, damit sie ihn möglichst zweimal besuchen kann an diesem Wochenende. Berlin-Diez, das ist immerhin eine Strecke von 550 Kilometern, damals noch Transitautobahn durch die DDR, ihr Auto war auch nicht mehr ganz neu. Also kein Pappenstiel. Und sie hatte als Ärztin am Wochenende ja immer eine harte Woche hinter sich.
Ich habe ihr dann im Pfarrhaus ein Gästezimmer mit Dusche und Toilette angeboten, wo sie sich bei Bedarf zurückziehen und für sich sein kann, warum sollte sie denn ein blödes Hotelzimmer bezahlen?! Das hat sie gern angenommen. In der Gemeinde wurde natürlich schnell bekannt, dass monatlich eine schöne, junge, charmante Frau mit Berliner Autonummer beim zölibatär lebenden Pfarrer zu Gast war. Aber daran hat man sich bald gewöhnt, und - so sind die Eschhöfener - es wurde akzeptiert, denn viele Gemeindemitglieder waren ja auch freiwillig als Vollzugshelfer und -helferinnen im Diezer Gefängnis engagiert. Also die kannten die Zusammenhänge gut, durch Besuche und Gruppenarbeit.
Jedenfalls, Dorothea war über fast sieben Jahre jeden Monat da, natürlich war es für mich gewöhnungsbedürftig, besonders wenn dann auch noch ihre Freunde kamen aus dem Vogelsberg und Astrid usw. Aber es war letztlich überhaupt kein Problem, wir haben viele Gespräche geführt, auch Streitgespräche, aber es war immer nützlich und fruchtbar. Irgendwann hat sie dann davon gesprochen, dass sie fest entschlossen ist, Manfred zu heiraten im Knast. Sie wurden dann am 23. März 1984 von einem Diezer Standesbeamten getraut, in meinem Dienstzimmer, und anschließend gab es ein Essen dort. Meine Mitarbeiterin war noch dabei und der Anstaltsleiter kam auch noch dazu. Das war sehr schön. Nee, die Ehe durfte nicht vollzogen werden, das war natürlich ein bitterer Tropfen, heute gibts diese Möglichkeit.
Da fällt mir noch ein, dass es ein Treffen gab, ein Jahr später, zwischen Dorothea und dem Bischof von Limburg, Kamphaus. Er hat die ,Friedenswoche' mit einem Gottesdienst eröffnet, und ich bat ihn hinterher um ein Gespräch. Er sagte zu, wollte es aber kurz halten. Es war schon nach 20 Uhr, er war ziemlich fertig und hatte so seine Zeiten, stand um fünf morgens auf und ging um zehn abends schlafen. Gut, das Gespräch mit Dorothea hat ihm dann aber so gefallen, dass es fast zwei Stunden gedauert hat. Das interessierte ihn, und er hat dann später auch ein paarmal Interviews gegeben, zum Umgang mit RAF-Leuten und der Situation im Gefängnis usw. Und er hat sich sehr mutig gezeigt, einen wesentlichen Beitrag geliefert, durch Gespräche mit Bernhard Vogel, dem damaligen Ministerpräsidenten von Rheinland-Pfalz. Und Vogel hat dann ja Jünschke begnadigt, was in seiner CDU großen Unmut ausgelöst hat. Und dann Ende 1988, kurz bevor er - Gott segne ihn - aufgehört hat, weil er quasi rausgeekelt wurde als Ministerpräsident, von seinen eigenen Leuten, hat er noch schnell Manfred begnadigt!
Das war ein Glück, denn wer weiß, wie lang der sonst noch gesessen hätte. Und da hat eben der Bischof auch seinen Anteil dran gehabt. Wenn ich mir das heute vorstelle, was das für ein Mann war! Er hat öfter auch die Gefangenen auf der Zelle besucht, sich zu ihnen aufs Bett gesetzt und sich mit ihnen unterhalten. Nicht salbungsvoll, sondern ganz normal, über die Dinge, die im Argen lagen. Er war oft sehr betroffen.
1989 in der Karwoche habe ich dann noch mal gezielt mit dem Bischof Kontakt aufgenommen damals. Das war, als der große Hungerstreik der RAF-Gefangenen lief. Da hatte ich einen Brief bekommen von Marianne Hogefeld - mit der ich danach jahrelang guten Kontakt hatte und die ich, als sie leider dann starb, in Taunusstein beerdigt habe -, also sie schrieb in etwa: ,Herr Pfarrer, wie können Sie, wie kann die katholische Kirche Ostern feiern und gleichzeitig ignorieren, dass viele Mütter bangen, ob im Hungerstreik vielleicht jemand stirbt?!' Also dieser Brief hat mich schon sehr betroffen gemacht. Ihre Tochter war damals noch im Untergrund. Sie schrieb nicht mal für sich selbst, sondern für die anderen Angehörigen.
Ich habe jedenfalls sofort den Bischof angeschrieben und er hat auch sofort reagiert. Er konnte da nicht direkt was machen, war aber sehr motiviert und hat mich, wie immer, unterstützt. Selig, die Frieden stiften, muss ich sagen, Bischof Kamphaus war ein Segen für das Bistum!
Ich habe dann am Gründonnerstag - ein ganz wichtiger Feiertag (letztes Abendmahl Jesu mit seinen Jüngern, vor Gefangennahme und Tod. Anm. G.G.) - den Hungerstreik dann auch in meiner Predigt mir zum Thema gewählt. Das war natürlich eine sensible Geschichte. Ich habe gesagt, dass in dem Augenblick, wo wir feiern, Hungerstreik stattfindet für die Zusammenlegung der Gefangenen und für die Veränderung der Haftbedingungen. Habe darauf hingewiesen, dass ein Hungerstreik in bestimmten Situationen die letzte Möglichkeit ist, um sich Gehör zu verschaffen. Gut, da waren vielleicht nicht alle Gemeindemitglieder einverstanden, aber es waren ja viele Eschhöfener, die in den Knast gegangen sind zur Gruppenarbeit usw., ,ihre' beiden RAF-Gefangenen waren begnadigt worden und einige hatten ja, wie ich vorhin erzählt habe, den Klaus Jünschke freiwillig vom Knast abgeholt, zur Diözesanbibliothek gefahren und ihn später wieder zurückgebracht. Ganz ohne Angst und Aufregung.
So war das, und um noch mal auf Dorothea zurückzukommen: Was ich überaus geschätzt habe in den Jahren, in denen sie Manfred im Knast besucht hat, war die Tatsache, dass sie im Umgang mit Manfred - und sie hatte nicht nur seine Probleme, sondern auch die der anderen Gefangenen im Blick -, dass sie im Umgang mit Menschen generell, immer schöpferisch, immer großzügig und frei war. Wenns was zu helfen gab, wollte sie helfen, sie war in ihrem Denken nie dogmatisch, nie starr und versteinert. Manchmal konnte sie auch ein bisschen verrückt sein. Einmal, es war im Sommer, sie stand an der Pforte im Knast und hatte über jedem Ohr zwei Kirschen am Stiel hängen. Die wollte sie Manfred mit reinbringen und dachte, es fällt vielleicht nicht auf. Aber die Beamtin hat es natürlich bemerkt und ohne jeden Humor reagiert. Es darf ja absolut nichts mit hineingenommen werden. Dorothea hat das nicht eingesehen, dass vier Kirschen ein Sicherheitsrisiko sind!
Na ja, und als Manfred dann entlassen war, haben sich die Wege zwischen uns, die sich irgendwann mal gekreuzt hatten, allmählich auch wieder getrennt. Geblieben ist die gemeinsame Geschichte, die wir alle miteinander hatten - und dadurch immer haben werden. Weiter ging es bei mir dann so, dass ich zum 1. Mai 1990 vom Anstaltsleiter gekündigt wurde. Ich musste das allmählich begreifen, nach 17 Jahren hat man mich einfach so gefeuert, angeblich ,um größeren Schaden zu vermeiden'. Es gab ja schon eine ganze Weile Unstimmigkeiten, sage ich mal. Ein Punkt war natürlich, ich, ich hätte den Gefangenen aus dem Terrorismusbereich zu viel Aufmerksamkeit gewidmet, ich sei über meine rein seelsorgerische Aufgabe hinausgegangen usw. Anfangs hat der Justizminister Caesar meine Arbeit gelobt (er war von Vogel ernannt worden. Anm. G.G.), ich habe noch Schreiben aus dem Ministerium, aber nach Vogels Weggang hat sich das Klima stark verschlechtert, und Caesar hat nicht mehr den Mut gehabt.
ie ganze Clique, vor allem die Sicherheitsleute im Ministerium, hat sich als kleine Machtmenschen aufgespielt. In solchen Momenten ist es üblich, dass die Funktionsträger sich verbiegen. Unbequeme Leute müssen gehen. In dieser Zeit, als mein Rauswurf bekannt wurde, waren dann täglich Berichte in der Zeitung, es gab Stapel von Briefen, ich weiß nicht, wie viele, und wer sich da alles für mich eingesetzt hat. Natürlich auch und zuallererst die Gefangenen. "Spiegel TV" kam usw. Aber es nutzte nichts. Der Anstaltsleiter hat ein Mordsschreiben ans Bischöfliche Ordinariat geschickt und alle meine sogenannten Fehler und Verstöße aufgelistet, ich sei eine zwiespältige Persönlichkeit, hätte den Amtsweg nicht eingehalten, habe Unruhe in die Anstalt gebracht, die Gefangenen zur Opposition angestiftet und damit das ,Annehmen der Strafe verhindert', mein Abolitionismus habe sogar auch die Bediensteten verunsichert, zudem sei ich prominentengeil. Das bezog sich ganz klar auf unseren Diskussionskreis in der Anstalt, zu dem ich, auch wegen der Transparenz, über die ich vorhin gesprochen habe, Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens einlud. Da war natürlich Bischof Kamphaus, der mehrmals teilnahm, Horst-Eberhard Richter war da, Dorothea Sölle, Gordian Troeller, Erich Fried war mehrmals da und einige andere. Anfangs hat die Anstaltsleitung das begrüßt, und als es dann problematisch wurde, weil die Teilnehmer, die Gäste oder die Art der Diskussion angeblich problematisch wurden, da war ich plötzlich prominentengeil.
Ich bin fünf Tage vor dem 1. Mai ein letztes Mal in den Knast, habe alles geordnet, meinen Schlüssel unten an der Pforte abgegeben und bin gegangen. Das wars."
Hubertus Janssen seufzt. Wir sind am Ende. Und damit schließt zugleich die Serie über Dorothea Ridder, 1968 und die RAF.
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