Der Duft von SO 36

KREUZBERG Die Fotografien von Siebrand Rehberg in der Collection Regard sind eine echte Entdeckung. Sie setzen die Tradition des flanierenden Fotografen fort und lassen uns den Wandel Kreuzbergs in den 70er Jahren nacherleben

VON RONALD BERG

Das Foto zeigt den typischen Hinterhof einer Berliner Mietskaserne: abbröckelnder Putz (wohl noch aus der Entstehungszeit im 19. Jahrhundert), aufgeplatzter Estrich am Boden, kein Baum, kein Strauch weit und breit. Aber dann doch eine Menge Lebendigkeit. Denn in dem ziemlich abgerissenen Hof gibt es spielende Kinder; die machen Faxen und lachen.

Kinder fotografiert Siebrand Rehberg häufig, damals in den 70er Jahren in Kreuzberg. In den Hinterhöfen, auf Straßen und Gehsteigen, im Schatten der Mauer oder in den zahlreichen Brachen, wo immer wieder Autowracks als Spielgerät einladen. Die Kinder sind meist türkischer Herkunft, das heißt, die Eltern kommen von dort. Deren Kinder bilden die erste Generation, die in Deutschland aufwachsen wird.

Die Fotos von Siebrand Rehberg mit den türkischen Gören erinnern an die Szenerien eines Heinrich Zille. Rehberg einen „Zille mit der Kamera“ zu nennen, griffe aber zu kurz. Rehberg hat nicht nur Zille sein Milljöh fotografiert, sondern auch den Wandel, der sich damals Kreuzbergs bemächtigte. Neubauten in großem Stil, die Straßenfeste auf dem Mariannenplatz, den Transvestiten am Hermannplatz, den hippiemäßig behaarten Vater mit Kind im Tragetuch an seiner Hüfte. Daneben gab es immer noch die Ureinwohner, alte gebeugte Omas mit Hund und all die Lebenskünstler und Bohemiens, die Kreuzberg seinerzeit den Nimbus von etwas Besonderem, Anderem und Alternativem einbrachten.

Mit Stolz bekennt sich Rehberg als Schüler von Michael Schmidt, einem der ganz großen Fotografen in Deutschland. Schmidts Kurse an der VHS Kreuzberg brachten in den 70er Jahren viele fotografische Talente weiter. Von Schmidt hat Rehberg auch eine Haltung übernommen, die der einmal so definierte: „Zuerst wird vor der eigenen Haustüre gekehrt!“ Vor der Haustüre von Rehberg lag das hintere Kreuzberg, der frühere Postzustellbezirk SO 36.

Dort wohnt Rehberg noch heute. Eigentlich wollte er, 1943 in Aurich geboren und ausgebildeter Drucker, in Westberlin Kunst studieren. Gelandet ist er dann aber bei der Fotografie.

Veränderte Topografie

Er arbeitete als freier Mitarbeiter für die Zeit und den Spiegel, machte Fotoreportagen und lichtete Politiker ab. Zugleich war er bis 2008 wissenschaftlicher Fotograf an der TU Berlin. Rehbergs Ansichten aus Kreuzberg sind freie Arbeiten, die bis vor Kurzem unentdeckt geblieben sind.

In der Collection Regard zeigt der Kurator Antonio Panetta jetzt eine Auswahl von 74 Fotos aus einem Konvolut von Tausenden Aufnahmen, die Rehberg während der 70er in Kreuzberg gemacht hat. Die Kreuzung Oranien-/Adalbertstraße liegt ungefähr im Zentrum jenes Koordinatensystems, das er mit der Kamera durchstreifte. Die Fotos sind gleichsam getränkt vom Fluidum jener Jahre. Einem Fluidum, das sich heute fast vollständig verflüchtigt hat. Die Zeiten ändern sich, natürlich. Die politische Aufbruchstimmung von 1968 bis etwa Mitte der Siebziger ist Geschichte. Das heutige Kreuzberg hat auch eine völlig veränderte Topografie.

SO 36 war einmal eine von der Mauer umgebene Schmuddelecke, arm und teilweise verwahrlost – entweder weil die Bombenlücken noch nicht bebaut oder weil die alten Mietskasernen ohnehin zum Abriss vorgesehen waren. Auf das alte Kreuzberg SO 36 wartete eine Autobahn parallel zur Oranienstraße und sozialer Wohnungsbau nach Flächenabriss. Eine Gegend auf Abruf.

Abriss und Neubau

Der Paradigmenwechsel im Umgang mit Kreuzberg kam erst in den achtziger Jahren mit Hausbesetzungen und der Internationalen Bauausstellung IBA. Auf Rehbergs Fotos kann man die Abrissarbeiten beim Altbau und die aufeinandergestapelten Neubauetagen sehen, zum teil auf einem Bild. 1976, zwischen Lindenstraße und Mehringdamm, werden die letzten Reste der alten Häuser gerade geschreddert. Die Neubauten sind im Hintergrund schon fertig.

Rehbergs Fotos sind eine echte Entdeckung. Sie setzen die Tradition des flanierenden Fotografen à la Friedrich Seidenstücker oder Fritz Eschen aus früheren Jahrzehnten Berlins fort. Und sie geben Einblicke in eine Zeit, die viele der heute in Berlin wohnenden Menschen wohl nicht selbst erlebt haben werden. Rehbergs Bilder legen eine historische Dimension frei, die nach Abriss, Neubau und nun auch Gentrifizierung zutage tritt, als würde man alte Farbschichten unter Putz und Tünche der Gegenwart freilegen. Und siehe da: Die Essenz einer anderen Lebenswelt steigt einem entgegen wie ein Duft aus fernen Tagen, der Erinnerung mit sich trägt.

■ Collection Regard, Steinstr. 12; bis 12. Dezember, Fr. (und während des Monats der Fotografie vom 16. 10. bis 16. 11. auch Sa.) 14–18 Uhr sowie nach telefonischer Vereinbarung

■ Publikation: Siebrand Rehberg: „Signale des Aufbruchs – Berlin-Fotografien der frühen Siebzigerjahre“. Nicolai Verlag, Berlin 2014, 24,95 Euro