„Alles hat Wucht“

Wer bin ich, wenn sich alles dreht und wendet? Für den Heidelberger Stückemarkt hat die Kuratorin Luisa Brandsdörfer in der rumänischen Theaterszene nach neuen Stücken gesucht. Ein Gespräch

LUISA BRANDSDÖRFER wurde 1976 in Rumänien geboren. 1981 wanderte sie mit ihren Eltern nach Deutschland aus. Nach ihrem Studium an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt lebt und arbeitet sie in der Mainmetropole als freie Regisseurin. Für den Heidelberger Stückemarkt betreut sie den diesjährigen Schwerpunkt Rumänien: Vom 10.–13. Mai werden in szenischer Lesung unter anderem „Rumänien 21“ von Peca Stefan, „Amalia atmet tief ein“ von Alina Nelega, „Das blutige Verbrechen aus Bad Veilchenau“ von Dumitru Crudu und „Auf den Spuren Ciorans oder Dachwohnung in Paris mit Blick auf den Tod“ von Matéi Visniec präsentiert. www.heidelberger-stueckemarkt.de FOTO: THEATER HEIDELBERG

INTERVIEW KRISTIN BECKER

taz: Frau Brandsdörfer, vom Heidelberger Stückemarkt wurden Sie als Stücke-Scout nach Rumänien geschickt, wie fängt man eine solche Suche an?

Luisa Brandsdörfer: Ich hatte Glück, ich war gleich zu Beginn letzten Herbst beim nationalen Theaterfestival in Bukarest. Im Jahr des EU-Beitritts wollte ich Texte vorstellen, die wirklich Rumänien-spezifisch sind, schließlich ist Rumänien eines der unbekanntesten Ostländer – man weiß nur „Dracula, Dacia und Ceaușescu“ und dieses „Wissen“ ist mit vielen Vorurteilen behaftet. Allerdings musste ich schon beim Festival feststellen, dass nicht rumänische, sondern russische, deutsche, englische und amerikanische Dramatiker die Szene bestimmen.

Sind die rumänischen Stücke so schlecht?

Viele Autoren orientieren sich sehr an der angelsächsischen und deutschen Schreibweise. Meiner Meinung nach geht dabei viel verloren. Die Theatermacher sind derzeit von den eigenen Autoren nicht besonders begeistert. In Rumänien bestimmen die Regisseure, was gespielt wird – und am liebsten inszenieren sie ausländische Stücke. Da besteht großer Nachholbedarf. En vogue ist der Westen, etwa Sarah Kane. Es gibt aber inzwischen eine ganz junge Riege von Schauspielern und Regisseuren, die sich DramAcum – Drama heute – nennt und junge rumänische Autoren fördert, indem sie jedes Jahr eine Anthologie der fünf besten Stücke herausgibt. Daraus hervorgegangen ist beispielsweise Peca Stefan, der Shootingstar der Dramatikerszene, der mit seinen 24 Jahren schon über 20 Stücke geschrieben hat. Er ist einer der jüngsten und hat diese brutale Sicht auf die Dinge: Sein Stück „Rumänien 21“ ist eine bitterböse Revue, die holzschnittartig die moralische Korruption einer Familie erst im Kommunismus und dann nach der Wende vorführt. Zwischen Securitate und Kapitalismus arrangiert man sich, der Vater denunziert seine Eltern und wird Premierminister, die Mutter betreibt eine Agentur für Babyhandel, die Tochter stirbt beim Snuff-Porno-Dreh und am Schluss gehen alle mit dem EU-Kommissar ins Bett, um den Beitritt zu sichern.

Rumänien ist ein Vielvölkerstaat. Neben den rumänischsprachigen Bühnen gibt es deutsche und ungarische Theater, in Bukarest steht das älteste jüdische Theater. Warum ist in Heidelberg kein Autor dieser ethnischen Gruppen vertreten?

Ich habe mich bei der Auswahl auf die Stücke der letzten fünf Jahre konzentriert und von solchen Autoren nur relativ wenig gefunden. Zudem spielt die Trennung in der künstlerischen Praxis kaum noch eine Rolle. In den Theatern gibt es beispielsweise immer auch die Simultanübersetzung auf Rumänisch. Ethnopolitisch ist Rumänien aber kein einheitliches Land. Die Leute reagieren immer noch sehr irritiert, weil ich als Deutschrumänin nicht in Temeswar oder Sibiu geboren bin, sondern in Ploiești, also im „Zigeunergebiet“ auf der Südseite der Karpaten, wo der Balkanismus am größten ist, wie es so heißt. De facto sind die Straßen dort jedenfalls am kaputtesten und es ist sehr schmutzig. Es fehlt eben die Unterstützung aus Deutschland oder Ungarn, wie man sie in Sibiu oder Cluj findet, und ein Wirtschaftswunder ist nicht in Sicht.

Immerhin ist die Theaterförderung nach 89 nicht zusammengebrochen. Wie sieht die aktuelle ästhetische Praxis aus?

Im zeitgenössischen rumänischen Regietheater gibt es tolle Bilder und starke Emotionen. Alles hat Wucht. Die Dekonstruktion der Gefühle fand noch nicht statt. Man will Illusion erzeugen. Kein Wunder – 30 Jahre lang war das nicht möglich, weil es an allem gefehlt hat. Jetzt darf man mehr zeigen, Sex darf auf die Bühne. Früher musste man mit weniger Mitteln mehr sagen, jetzt wird Opulenz betrieben. Allerdings ist die ganze Theaterlandschaft im Umbruch. Man sucht nach einem neuen Gesicht und einer neuen Aufmerksamkeit.

Vor der Wende gab es im rumänischen Theater eine Quotenreglung für rumänische Autoren. Was ist aus diesen Dramatikern geworden?

Die Stücke Matéi Visniecs, der 1987 ins politische Asyl nach Frankreich ging, wurden erst aufgeführt und dann verboten. Nach der Wende wurde er der meistgespielte rumänische Autor in Rumänien. Die anderen schreiben zum Teil auch immer noch, aber man hält ihnen vor, dass sie schon „vorher“ geschrieben haben. Das ist das Dilemma. Ebenso wirft man den Exilrumänen vor, dass sie gegangen sind. Eine ganze Generation ist davon betroffen. Ganz in diesem Sinne sagt eine von Vișniecs Figuren, „es ist nicht schlimm, den Heimweg zu vergessen. Für einen Rumänen wie mich ist das fast schon normal.“ Die Spurensuche für den Stückemarkt hat auch bei mir viele Fragen neu aufgeworfen. Dabei ist es das erste Mal, dass es positiv ist, aus Rumänien zu kommen.

Es passt also, dass es in den Stücken, die Sie nach Heidelberg geholt haben, um das zentrale Thema der Vergangenheitsbewältigung geht.

Dahinter steht auch immer die Frage nach Selbstfindung: Wer bin ich, wenn sich alles so dreht und wendet? Die Protagonistin in Alina Nelegas Monologstück „Amalia atmet tief ein“ gehört einer verlorenen Generation an. Mit 50 wacht sie auf und auf einmal ist Westen, und alles, was gut war, ist plötzlich schlecht. Diese Suche nach Identität und nach einem Platz in der Welt, die sich ständig wandelt, ist, denke ich, ein sehr aktuelles Thema. Auch für uns in Deutschland. Vielleicht war die Erschütterung hier geringer, aber die Ängste sind dieselben. Ich glaube, dass die Rumänen mit ihrer Suche, ihrem desolaten Zustand und ihrem Fatalismus sogar weiter sind als wir. So verzweifelt, so fragend, so suchend werden wir wieder sein. Dabei ist es natürlich ironisch: Da ist dieses Land, das endlich zum Kapitalismus kommt, wo der nun langsam schon zusammenbricht. Das kann doch nur Rumänien passieren.