Mit dem gleichen Feuer wie Franz Kafka

ERLEBEN Reiner Stach hat den dritten und letzten Band seiner akribischen Biografie des Prager Klassikers vorgelegt. Zu entdecken ist darin ein großer Autor der Selbsterfindung

VON DIRK KNIPPHALS

Dies ist ein Buch, in dem man staunend wieder und wieder lesen wird. Das liegt an seinem Gegenstand, Franz Kafka, aber auch an seinem Autor, Reiner Stach.

Im ersten, vor inzwischen nun zwölf Jahren vorgelegten Band seiner Kafka-Biografie behandelte er die nach außen hin entscheidenden Jahre in dessen Leben. Der Band enthielt die Standardthemen, die seit vielen Jahrzehnten die Leser und Germanisten auf Trab halten. Heiraten oder nicht heiraten. Büroarbeit versus Schreiben. Schreiblösungen. Schreibskrupel.

Der zweite Band, vor sechs Jahren erschienen, schilderte die letzten Jahre, und schon für ihn konnte man geradezu dankbar sein. Denn wenn man Kafkas Lebensroman vom Ende her liest, neigt das zu schweren Zeichen um Krankheit und Scheitern. Reiner Stach hat aber darauf bestanden, dass bei Kafka bis zuletzt „die gelingende schriftstellerische Arbeit mit durchgreifender und illusionsloser Selbsterkenntnis verknüpft ist“ – und dass sich diese Selbsterkenntnis mit einem Moment von Glück verbindet. Kafka, das habe ich, als ich diesen zweiten Band las, immer mal wieder gedacht, ist nichts für Feiglinge.

Jetzt, mit dem dritten Band, der diese Kafka-Biografie komplettiert, kann man dessen Lebensroman auch von seinen Anfängen her lesen. Der Band schildert die Welt, in die Kafka hineingeboren wurde, in ein aufstiegswilliges Elternhaus am Rande des jüdischen Ghettos, und durchläuft die frühen Stationen, die sich nach außen hin bei Kafka gar nicht von dem seiner Generationsgenossen unterschieden: Eltern, Schule, Universität, sexuelle Initiation, Studentenleben, Berufswahl.

Kafka war bis zum Ende des Ersten Weltkriegs ein Untertan des Habsburger-Kaiserreichs. Prag war eine zweisprachige Stadt. Beziehungen zwischen den Geschlechtern waren eine heikle, vielfach beaufsichtigte Angelegenheit. Als Jude waren ihm viele Karrieremöglichkeiten versperrt, etwa im Beamtentum. Das alles spielt in Kafkas Künstlerroman hinein. Aber dass man im Ernst das Phänomen Kafka, diesen, wie es bei Stach heißt, „Jahrtausendautor und globalen Klassiker der Moderne“, aus seinem Kontext vollständig erklären kann, daran glaubt Stach keine Sekunde.

Frühkindliche Erfahrung

Auf diesen Höhenkämmen der Literatur geht es darum, das Individuelle zu fassen. Bei Kafka ist es die Intensität, mit der er seine Ich-Grenzen als porös empfindet, die inneren Erfahrungen von Ekel, Schmerz und Lust im Schreiben zu bannen versucht und dabei, das macht nun dieser dritte Band wunderbar deutlich, von Anbeginn seines Schreibens an experimentiert „mit einer ganz eigenen Diktion, deren Literaturfähigkeit noch keineswegs erprobt war“ (Stach). Bei der Rekonstruktion des inneren Erlebens – und auf sie kommt es hier ja an – geht Reiner Stach bis nah heran an die Fragwürdigkeit. Wenn die Quellenlage zu dürftig ist oder, etwa bei Kafkas frühkindlichen Erfahrungen, Quellen gar nicht da sein können, spekuliert Stach, wie es für Kafka gewesen sein könnte.

Aber gerade in diesen Spekulationen erweist sich Stach als Glücksfall. Denn er gesteht Kafka keineswegs ein irgendwie künstlerisch geartetes, besonderes Erleben zu. Kafka erlebt bei Stach dasselbe, was jedermann erleben würde – nur bewusster und klarsichtiger als andere. Das ist im Kern auch Stachs Perspektive auf Kafka insgesamt.

Wie in einem Mosaik legt Stach, während er das Leben Kafkas entlanggeht, Stückchen für Stückchen seiner Deutung an. So hat Kafka, der sich selbst als emotional armes Kind empfand, Stach zufolge „im Schreiben eine Möglichkeit gesucht und gefunden, ein wenig Feuer zu machen, ein wenig von der heißen Vitalität der anderen sich auf eigene Rechnung zu verschaffen“. Gleichzeitig aber wurde in seiner von Kaufmannstraditionen bestimmten Familie das Schreiben als Spinnerei abgewertet. „Ich bekam selbst innerhalb des Familiengefühls einen Einblick in den kalten Raum unserer Welt, den ich mit einem Feuer erwärmen musste, das ich erst suchen wollte“, schrieb Kafka selbst dazu.

Zugleich ließ er bei aller Wärme des Schreibens aber so etwas wie Eskapismus nie bei sich zu. „Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten […] Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt“, schreibt Kafka in einem Brief, der berühmt ist, weil in ihm auch eine inzwischen etwas abgenudelte Sentenz vorkommt: „Ein Buch muss die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.“

Interessant zu sehen ist auch, wie früh sich Kafka von japanischer Kultur fasziniert zeigte. Kafkas Kunstwille, komplexe Sachverhalte in äußerster Einfachheit – präzise wie ein japanischer Pinselstrich – aufs Papier werfen zu können, kommt zum Teil daher.

Stach bringt das alles nicht auf eine Formel, sondern auf eine Frage. Kafka selbst folgte der – in manchem durchaus kunstreligiösen – Lesart, dass er irgendwann aus dem Leben in die Literatur ausgewandert sei. „Was aber“, fragt nun Stach, „wenn es ganz anders war, wenn die Literatur der für ihn einzig gangbare Weg zurück war?“ So kann er ihn biografisch erden. Zwischen literarischem Schreiben und Nachdenken über sich hat Kafka jedenfalls nie wirklich unterschieden.

Tatsächlich macht Stach, alles in allem, sehr glaubhaft, dass mit Kafka ein zutiefst verunsichertes Kind in die Reflexion und Beobachtung gesprungen ist, um auf seine Art Kontakt zum Leben aufzubauen. Der heiße Punkt liegt dabei auf dem „auf seine Art“. Dass Kafka diesen Sprung im Schreiben durchaus genießen konnte – und dass erst dieses künstlerisch produktive Genießen Kafka ausmacht, verteidigt Stach gegen psychoanalytische Deutungen, hauptsächlich das Defizitäre darin zu sehen.

Das, was man heute das Kafkaeske nennt, kommt bei so viel Realitätsoffenheit unter den zeitgenössischen Bedingungen wie von selbst in Kafkas Schreiben hinein. Seine Schulerfahrungen gingen etwa dahin, dass er verzweifelt pauken musste, um überhaupt etwas zu verstehen, nur um schließlich gesagt zu bekommen, dass er noch viel zu jung sei, um irgendetwas zu verstehen, von der Größe der Odyssee etwa. Da ist man schon sehr nah an seinen Romanwelten, in denen seine Helden sich bis zum Äußersten anstrengen müssen, nur um am Ende doch zwangsläufig zu scheitern.

Lebensreform-Bewegung

Abhängigkeitserfahrungen und Absurditätszumutungen gibt es in Kafkas Texten zuhauf. Der Kern seines Schreibens, so wie Stach ihn uns aufblättert, liegt aber noch in etwas anderem: der Selbstreflexion. Das zielt nun auf etwas, was man, wenn man zuviel Wert auf das Absurde bei Kafka legt, immer wieder zudeckt: darauf, ein eigenes Leben zu leben. Zu den beeindruckendsten Abschnitten in diesem dritten Band gehören diejenigen, in denen Reiner Stach klarmacht, wie stark Kafka von der damaligen Lebensreform-Bewegung beeinflusst war, die zu seinen Lebzeiten sehr stark gewesen ist.

Wer seine Gymnastik, seine Spaziergänge und Diäten also schnell hauptsächlich mit seinen späten, von der Krankheit gezeichneten Fotos kurzschließt, denkt hier vorschnell an Askese, an sein Hungerkünstlertum. In seinen jungen Jahren war das alles auch ein Anlass, sein Anderssein zu demonstrieren, und eingebunden in ein Spiel mit Lebensentwürfen, die die bürgerliche Welt ihm nicht bieten konnte.

Man hat wirklich viel von diesem Buch, auch über das Literarische hinaus. Es ist, glaube ich, dieser Kafka, der Kafka der immer wieder neuen Anläufe der Selbsterfindung und der Selbstreflexion, den man bei Reiner Stach für sich entdecken und zu dem man immer wieder staunend zurückkehren kann. Die Schulen, Familien und Büros mögen sich geändert haben, aber viele von Kafkas Problemlagen – letztlich die Frage aller Fragen: Was mache ich aus meinem Leben? – sind inzwischen allgemeine Problemlagen geworden, denn es sind die normalen Probleme in der heutigen Angestellten- und Beziehungswelt.

Reflektieren müssen wir immerzu, das eigene Feuer muss sich ein jeder erst suchen. Man kann sich da von Kafka inspirieren, trösten und auch herausfordern lassen. Sich so wenig selbst zu belügen wie er wird einem allerdings nicht gelingen.

■ Reiner Stach: „Kafka. Die frühen Jahre“. Fischer, Frankfurt a. M. 2014, 608 Seiten, 34 Euro