Der Ruheraum der RAF

Experten streiten bis heute, ob die DDR westdeutsche Terroristen aus ideologischer Nähe aufnahm – oder eher aus pragmatischen Erwägungen

Fürchtete die SED ein Übergreifen der Gewalt auf DDR-Gebiet?

VON CHRISTIAN SEMLER

Wer wusste wann was? Letzte Woche stand das Wissen der westdeutschen Geheimen um den Tathergang beim Buback-Mord im Aufmerksamkeitsfokus. Jetzt greift das Aufklärungsbedürfnis zum Komplex RAF/Geheimdienste auf das Territorium der DDR über. Der brandenburgische Innenminister Schönbohm appellierte am Wochenende an die Anti-Terror-Abteilung der Stasi, doch endlich mit ihrem Wissen über die Anschläge westdeutscher terroristischer Gruppen aus den Siebziger- und Achtzigerjahren rüberzukommen. Aber diese Experten ziehen es verständlicherweise vor, zu schweigen.

Warum wird der Stasi ein solches Expertentum unterstellt? In den frühen Achtzigerjahren entschloss sich die Staatsführung der DDR, einer Gruppe von „kampfesmüden“ westdeutschen Terroristen ihr Territorium als Ruheraum anzudienen. Insgesamt zehn müde KämpferInnen machten von diesem Angebot Gebrauch. Es blieb ihnen auch nichts anderes übrig, wurden sie doch erst unmittelbar vor dem Reiseantritt vom Reiseziel DDR unterrichtet.

Unter großem konspirativem Aufwand wurde den Übersiedlern eine neue Identität verpasst. Sie schlugen neue berufliche Karrieren ein, fanden zum Teil neue Lebenspartner, arrangierten sich, wenngleich zunehmend resignativ, mit der Wirklichkeit des DDR-Realsozialismus. Als 1986 in zwei Fällen die wahre Identität der Übersiedler aufzufliegen drohte, wurde aufwendig eine neue Identität gebastelt, im Fall der RAF-Aussteigerin Silke Maier-Witt sogar mittels einer Gesichtsoperation.

Das Ministerium für Staatssicherheit ging in seiner Unterstützung von terroristischen Gruppen weit über Resozialisierungsmaßnahmen hinaus. Es half bei der Logistik, bei Pässen, es organisierte sogar Schießübungen. Zwei Fragen drängen sich auf: Warum ging die SED mit dem „Asyl“ ein so hohes Risiko ein, falls die Sache bekannt wurde? Und: Informierte die Staatssicherheit die Kollegen im Westen von der Stilllegung der RAF-Kader?

Beiden Fragen widmete sich am vergangenen Wochenende eine Tagung der Evangelischen Akademie in Berlin unter dem Generalthema „Asyl für die RAF“. Den politischen Rahmen, in dem der westdeutsche Terrorismus angesiedelt war, umriss Gerd Koenen, Autor mehrerer instruktiver Arbeiten zum Thema und selbst einstmals maoistischer Aktivist.

Von Interesse für die Motivlage der SED war sein Hinweis auf die Offensive der Sowjetunion nach der Niederlage der USA in Indochina, den Versuch, die nationalen Befreiungsbewegungen zu dominieren, und insbesondere das „Spiel“ der Sowjets mit den palästinensischen bewaffneten Gruppen. Hierbei gab es nach Koenen ideologische Übereinstimmungen, insbesondere in der gemeinsamen Vorstellung eines weltweit operierenden zionistischen Zentrums. Ein Feindbild, dem auch die SED folgte, woraus sich nach Koenens Ansicht ihre Kooperation mit bewaffneten palästinensischen Gruppen erklärt.

Tobias Wunschik von der Birthler-Behörde, ausgewiesener Experte zum RAF-Asyl in der DDR, zeichnete akribisch die verschiedenen Phasen dieses zehnjährigen Untertauchens auf. Zu der Frage des „Warum“ listete er seitens der Staatssicherheit ein Motivbündel auf, in dessen Zentrum nicht so sehr ideologische Verwandtschaft stand, sondern pragmatische Erwägungen: Sicherung der DDR vor dem Übergreifen des Terrorismus auf realsozialistisches Gebiet. Also partielle Unterstützung als Mittel der Kontrolle. Nach Wunschiks Meinung schloss die zehnjährige intensive Verdeckungsarbeit der Stasi aus, dass bundesreublikanische Stellen von der DDR informiert worden sind. Letzteres war früher von einem hochrangigen Stasi-Funktionär angedeutet worden.

Der ehemalige leitende Direktor für „Beschaffung“ beim Bundesnachrichtendienst (BND), Wolbert Smidt, widmete sich vor allem der Frage, warum der BND nicht energisch den Informationen nachgegangen war, die 1986 über den Aufenthaltsort von Silke Maier-Witt in den Westen gelangt waren. Smidt machte dafür eine Abwägung geltend – einerseits das hohe Risiko eines Agenteneinsatzes zur Verifizierung des Verdachts, weil Maier-Witt stets von einer Schar von Stasi-Leuten umgeben gewesen sei, andererseits die geringe Wahrscheinlichkeit, ein brauchbares Resultat zu erreichen.

Diese Erklärung fand im sachkundigen Publikum keine einhellige Zustimmung – war doch den westdeutschen Stellen angeblich nicht bekannt, dass die RAF-Mitglieder in der DDR deaktiviert worden waren. Man musste also Terroraktionen vom Boden der DDR aus für wahrscheinlich halten.

Fazit: Letztlich keine Klarheit zum „Asyl in der DDR“, aber genug Material für weitere lustvolle Spekulationen.