Vom Sound der Revolte

Vor 20 Jahren erlebte Kreuzberg seinen Aufstand. Der 1. Mai 1987 war nicht nur die Geburtsstunde des „revolutionären Mai“. Er brachte auch die soziale Frage auf die Tagesordnung. Ein Rückblick

von UWE RADA

Für den 1. Mai 1987 gibt es viele Schubladen: soziale Revolte, Kiezrandale, Aufstand der Arschlöcher. In Wirklichkeit war er vor allem eines – Sound.

So viel Rhythmus war noch nie in Kreuzberg. Hunderte oder Tausende schlugen mit Pflastersteinen gegen die Stahlträger der Hochbahn. Es waren dunkle und helle Rhythmen, mal im Stakkato, selten mit Synkopen, meistens im Gleichklang. Der Rhythmus, in den diese Nacht fiel, erinnerte an den Beifall des Publikums nach einem außergewöhnlichen Konzert. Erst verhalten, dann stürmisch, am Ende der Ruf nach Zugabe. Musiker und Publikum spürten es mit sicherem Instinkt: Dieses war eine Sinfonie, die die Zeit in ein Davor und Danach teilen würde.

Ich war am Morgen mit Freunden auf der Maidemonstration des DGB gewesen. Es war, wie immer, langweilig, eine typische Latschdemo, rote Fahnen, warme Worte, nichts dahinter. So war das schon seit Jahren. Das einzig Spannende war, ob die Ordner der „gewerkschaftlich organisierten Arbeiterklasse“ den „schwarzen Block“ aus der Demo drängten oder nicht.

Für uns Autonome war der 1. Mai ein zwiespältiger Tag. Zum einen fühlten wir uns ihm als politischem Kampftag verpflichtet. Doch unter Politik verstanden wir etwas anderes als das Ritual, das der DGB zelebrierte. Unsere Politik war weniger am Reichstag zu Hause als in Kreuzberg. Dort ging es bunt statt rot zu, die Menschen waren zornig und nicht versöhnlerisch, da hörte man die Scherben und keine Schalmeien. Kreuzberg war unser Symbol für Ausgrenzung – ein Terrain wie geschaffen für eine Alternative zum Bestehenden. Unsere Begriffe lauteten: Gegenmacht, soziale Revolution.

Irgendwann am Nachmittag verbreitete sich die Nachricht am Lausitzer Platz, dem traditionellen Maifest der linken Szene, wie ein Lauffeuer: Die Polizei hatte den Mehringhof durchsucht. Kistenweise waren Unterlagen aus dem Volkszählungsboykottbüro weggeschleppt worden. Für uns ein weiterer Tropfen, der das Fass irgendwann zum Überlaufen bringen würde. Schließlich war 1987 das Jahr der 750-Jahr-Feier. Wieder sollte der alte Spontispruch gelten: „Berlin grüßt seine Gäste – und prügelt seine Einwohner.“

Wie es anfing, konnte hinterher keiner sagen. Auf der Waldemarstraße sammelten sich einige Hundert zu einer Spontandemonstration. An der Skalitzer Straße brannten die ersten Barrikaden. Später sollte die Polizei sagen, dass es zu viele Konfliktherde gab, um der Randale ein schnelles Ende zu bereiten.

Doch nicht nur die Polizei war überrascht, wir waren es auch. Sogar meine neue Lederjacke hatte ich am Nachmittag weggegeben. Ich hatte sie einer Freundin geliehen, die am selben Tag als Komparsin drehte – in „Helsinki–Napoli. All Night long“ von Mika Kaurismäki, einem Gangsterfilm, in dem der Held in unvorsehbare Situationen schlittert.

So war meine Lederjacke am 1. Mai 1987 also beim Film, obwohl es in Kreuzberg spannender war als an jedem Set. Über mehrere Stunden trauten sich die Bullen nicht nach Kreuzberg 36. Geschäfte wurden geplündert, Bolle war angezündet, die Gegenmacht Wirklichkeit geworden. Jeder von uns schlief in dieser Nacht wohl mit dem Gedanken ein: Das hatte es in Westberlin noch nicht gegeben.

Am nächsten Morgen waren die Aufräumarbeiten in vollem Gange. Zwischen fotografierenden Touristen trafen sich unsere Blicke mit einem verstohlenen Lächeln. Ungeteilt war die Freude aber nicht mehr. Neben Bolle und den anderen Supermärkten waren auch kleine Geschäfte geplündert worden.

In den Raum, den wir geöffnet hatten, waren andere gestoßen. Warum richteten sich Wut und Aggression plötzlich gegen den eigenen Kiez? War das die Gegenmacht, die wir propagierten? War der 1. Mai 1987 tatsächlich ein „Vollrausch zum Nulltarif“, wie die taz schrieb?

Umso erstaunten waren wir, als die Medien in den Tagen danach den sozialen Notstand in Kreuzberg entdeckten. In Reportagen war von Renterinnen zu lesen, die aus Bolle Kaffee schleppten, ein Pfarrer berichtete von Mitgliedern seines Seniorenkreises, die er beim Plündern beobachtet hatte, selbst Kreuzberger Ladys in Stöckelschuhen kletterten über die Scherben, um Sekt für die nächste Party zu bunkern.

Plötzlich war sie da, die Kreuzberger Armutsdebatte, und sie kontrastierte auf eigentümliche Weise mit der bunten Broschürenrealität der 750-Jahr-Feier. Nicht einmal die Anti-Berliner, die der damalige Regierende Bürgermeister Eberhard Diepgen am Werke sah, konnten darüber hinwegtäuschen: Die soziale Frage, die Urmutter des 1. Mai als „Kampftages der Arbeiterklasse“, hatte Berlin an diesem 1. Mai 1987 eingeholt. Und der Senat beeilte sich, wieder Millionen Fördergelder nach Kreuzberg zu schaufeln.

Aus heutiger Sicht betrachtet, scheint alles zum 1. Mai gesagt: zur Besetzung Kreuzbergs durch die Polizei, die kurz darauf während des Reagan-Besuchs folgte; zum Versuch der Autonomen, der Revolte am 1. Mai 1988 eine revolutionäre Richtung zu geben; zum Mythos des „revolutionären 1. Mai“, der schließlich im alljährlichen Ritual des Steinewerfens endete; zur zunehmenden Spaltung der Szene in Reformer und Stalinisten, die vom Fall der Mauer noch verstärkt wurde; zur Entpolitisierung dieses so politischen Ereignisses.

Selbst die linksradikalen Parolen, die Jahr für Jahr bemüht werden, können nicht darüber hinwegtäuschen: Der Sound von Kreuzberg ist ein anderer geworden. Aus der Bolle-Ruine wird bald eine Moschee. Nur eines ist geblieben: die soziale Frage. Millionen gibt es heute nicht mehr, dafür gibt es Hartz IV.

Ich werde in diesem Jahr wieder auf den Kreuzberger Mai gehen. Nicht die linksradikalen Parolen sind es, die mich mobilisieren, sondern die Vorstandsgehälter der Herren Ackermann und Co. Auch auf die Diskussion über das bedingungslose Grundeinkommen bin ich gespannt. Dazu wird sich der DGB auch dieses Jahr ausschweigen.

Wahrscheinlich werde ich auf die „Mayday“-Parade gehen. Ein Marsch „gegen die Prekarisierung“ scheint mir als aktuelle Interpretation des historischen Ereignisses angemessen. Selbst das „Myfest“ des Bezirksamts will ich mir nicht entgehen lassen. Dass es den „revolutionären 1. Mai“ befriedet habe, ist Schnullifatz. Befriedet haben ihn die Szene, die keinen Bock mehr hatte und die Polizei, die ihre Zeit inzwischen lieber mit Simsen und Sonnenbräunen verbringt als mit Knüppelschwingen. Ja ja, mit der Zeit werden wir alle milde und versöhnlerisch.

Natürlich wird auch Nostalgie mit dabei sein. 20 Jahre später bin ich Zeitzeuge, für manche gar revolutionärer Geschichtsonkel. Plötzlich wollen alle wissen, wie es war, als sich Kreuzberg bei Bolle köstlich amüsiert hat.

Was ich dann sage? Ich erzähle vom Sound einer Revolte, die schon mit dem Fall der Mauer zu Ende ging. Nur meine Lederjacke habe ich immer noch, irgendwo im Keller liegt sie vergraben.