Bewegte Gemeinschaft

TANZ Wie wird der menschliche Körper durch Johann Sebastian Bachs Musik in Bewegung gebracht? Mit „Bach/Passion/Johannes“ beendet der französische Choreograf Laurent Chétouane am Mittwoch auf Kampnagel seine Trilogie über das Zusammensein

VON KATRIN ULLMANN

Sie zählt zu Johann Sebastian Bachs bedeutendsten Werken und ist eines der zentralen Kulturgüter des Abendlandes: die Johannes-Passion. Am Karfreitag 1724 wurde die zweite von vier Fassungen in der Nikolaikirche in Leipzig uraufgeführt. Umstritten war sie, ihre Aufführung wurde später sogar verboten. Zu theatral hatte Bach das Johannes-Evangelium nacherzählt. Zu blumig, üppig und prächtig hatte er Gottes Wort in Text und Ton gefasst. Zu affekt- und opernhaft.

„Bachs Musik ist extrem tänzerisch“, findet Laurent Chétouane. Der französische Choreograf nimmt die „Passio secundum Johannem“ als Basis und Ausgangspunkt für seine jüngste Arbeit „Bach/Passion/Johannes“, die er am Mittwoch auf Kampnagel zur Uraufführung bringt. Nach „M!M“ und „15 Variationen über das Offene“ bildet sie den Abschluss einer Trilogie über das Zusammensein.

Tatsächlich interessiert Chétouane an Bachs Werk weniger das Religiöse als vielmehr das Kollektive. „Bach ist musikalisch gesehen der Ursprung von Europa“, sagt er, seine Auseinandersetzung sei keine Bebilderung der Passionsgeschichte. Ein Resonanzträger sei das Werk, „und ich suche danach, was diese Musik – jenseits von ihren christlichen Inhalten – für uns beinhaltet“. Gemeinschaft etwa, ein Zusammengehörigkeitsgefühl, ein gemeinsamer (Kultur-)Kanon. Chétouane selbst ist aus der Kirche ausgetreten, „aber ich bin trotzdem katholisch“. Aus seiner Kirche könne man austreten, fügt er schmunzelnd hinzu, „aber nicht aus seiner Kultur“.

Gemeinsam mit dem Berliner Solistenensemble Kaleidoskop präsentiert Chétouane eine bearbeitete Version der Bach’schen Musik mit vier Tänzern, einer Sängerin und sieben Musikern, die – so heißt es in der Presseankündigung – „gemeinsam singend durch die Passion wandern“. Gefragt, wie man sich das vorstellen solle, wird Chétouane profan: „Die Musiker spielen im Raum, die Tänzer gehen durch die Musiker wie durch einen Wald.“

Als Kind wollte er immer Tänzer werden. Doch angefangen hat er – nach einem Ingenieurstudium und einem der Theaterwissenschaften – als Theaterregisseur. Angeeckt ist er damit. Höchste formale Strenge, eine exzessive, in der Rezeption fast schmerzhafte Hinwendung zur Sprache sowie eine radikale gestische und szenische Verlangsamung kennzeichneten seine Arbeiten. Ein fünfstündiger „Don Karlos“ (2004) und ein umstrittener „Woyzeck“ (2005) waren unter der Intendanz von Tom Stromberg am Hamburger Schauspielhaus zu sehen. „Büchner bleiern, geleiert“, „Schachbrett-Schiller“ und „Schiller in Slowmotion“ titelten die Feuilletons.

Seit 2006 arbeitet Chétouane zunehmend als Choreograf. Das sei keine Abwendung vom Sprechtheater, betont er, „aber aus der Begegnung mit Tänzern sind Fragen aufgetaucht, die ich mit Schauspielern nicht ohne Weiteres verhandeln kann. Es sind Fragen von Raum und Zeit, vom Körper im Raum.“ Sehr konkret sei der Tanz, man sehe Arbeit, Muskeln, Wahrnehmungsprozesse. Nicht mehr und nicht weniger. „Es steht nicht für etwas anderes, ist kein Zeichen. Das reizt mich“, sagt Chétouane.

Und so verzichtet er auf ein Gegenüber, das durch das Sehen entsteht und rückt in seiner Arbeit mit den Tänzern das Gehör ins Zentrum. Im Gegensatz zum Auge kann man es nicht verschließen, es ist immer aufnahmebereit. Es ist das Sinnesorgan des Menschen, das sich als Erstes ausprägt, und auch das empfindlichste – und schließlich ist eine wesentliche Aufgabe des Hörens die Orientierung im Raum: „Tänzer lernen immer, vor dem Spiegel zu tanzen“, sagt Chétouane. „Mit der Konzentration auf das Hören kann ich einen ganz anderen Raum öffnen. Extrem wichtig ist dabei die Konstellation der Körper im Raum, wie die Gruppe sich positioniert.“

Ein weiteres Mal geht es um die Gesamtheit, das Ganze, die Gemeinschaft. Entsprechend sind in „Bach/Passion/Johannes“ die vier Tänzer auch nicht einzelnen Figuren oder Stimmen zugeordnet. „Das wäre wie eine Illustrierung der Musik“, sagt Chétouane, „das entspricht nicht meiner Erfahrung, wenn ich der Musik zuhöre.“ Stattdessen will er in seiner Choreografie der Polyphonie Bachs folgen, der Gleichzeitigkeit der verschiedenen Stimmen möglichst nah sein. Er brauche „eine Reibungsfläche, fast eine Zerreißprobe“.

Mit der konkreten Ausgangsfrage, wie ein menschlicher Körper durch Bachs Musik in Bewegung gebracht wird, konzipiert Chétouane die Tänzer als emotionales Gegenüber des Zuschauers. Die Emotion als physischen Moment, als individuelles „Bewegtsein“, sollen die Tänzer vervielfältigen. Sollen zeigen und darstellen, was im Zuschauer durch Bachs ergreifende Musik empfunden wird. Stellvertreter für die auditiv ausgelösten Emotionen werden die Tänzer, oder in Chétouanes Worten: „Sie sind wie die Körper der Zuschauer.“

So wie sich Bachs Johannes-Passion als Werk zwischen Oper und Kirche verstehen lässt, das sich durch das Ausagieren von Affekten an der Schnittstelle zwischen weltlicher und sakraler Musik bewegt, versteht Chétouane seine Bühnenbearbeitung als ein Stück „zwischen Gehen und Tanzen“. Im – natürlich gemeinsamen – Gehen offenbare sich die Prozession, im Laufen die Emotion. Ob sich Theorie und Praxis einlösen, ob sich Emotionen tatsächlich und im Wortsinn verkörpern lassen, bleibt allerdings bis kommenden Mittwoch – offen.

■ Mi, 1. 10. bis Sa, 4. 10., 20 Uhr, Kampnagel