Porträt einer Oberpfeife

„Der Unbequeme“ – ein neuer Film über den verfemten Querkünstler Günter Grass

Er muss sich schon zu Wort melden, wenn andere noch beim Nachdenken sind

Schnell, ganz schnell sollten wir alle in eines der wenigen Kinos im Lande gehen, wo seit Donnerstag vergangener Woche „Der Unbequeme“ gezeigt wird. Dieser emotionsgeladene Reality-Schocker schließt nahtlos an die anderen großen Kinoerfolge der letzten Zeit an – an Filme, die von großen Deutschen und großen Gefühlen handeln, wie etwa die Fußballsaga „Deutschland – Ein Sommermärchen“ oder das packende Politdrama „Der Untergang“. „Der Unbequeme“ handelt jedoch nicht vom Misserfolg einer verkrachten Schriftstellerexistenz („Mein Kampf“), sondern vom sommermärchenhaften Erfolg eines Großschriftstellers („Mein Jahrhundert“) und seines Buchs, das er beim Zwiebelhäuten schrieb.

„Der Unbequeme“ – damit ist auch keineswegs der Kinosessel gemeint, von dem aus man sich das alles ansehen darf, sondern der Gegenstand des Films, nämlich der Schriftsteller und Nobelpreisträger Günter Grass persönlich.

Man hätte keinen besseren Titel für Grass finden können, denn damit ist der leidenschaftliche Mahner in der guten Gesellschaft anderer großer Unbequemer wie beispielsweise Eugen Drewermann, Paul Breitner, Peter Hahne und – auch er ist laut eigenem Buchtitel „notfalls unbequem“: Horst Köhler.

Grass war schon immer ein großer Unbequemer, und die Unbequemen, die braucht unsere laut Köhler „risikoscheue“ Weicheiergeneration ja nun wirklich, gerade in dieser aktuellen heutigen Zeit. Denn die Unbequemen sind eine bedrohte, schon aussterbende Art. Wer hat denn heute – außer vielleicht Günther Oettinger – noch unbequeme Meinungen? Wer hat heute noch den Mut anzuecken?

Der Unbequeme ist ein enger Verwandter des Querdenkers, des Outcasts und Aufklärers, des Grenzgängers und Gegen-den-Strom-Schwimmers, des Eiskaltduschers und Herdplattenanfassers, des einsamen Kämpfers für Recht und Gerechtigkeit, wie wir sie etwa in Ulrich Wickert oder Roland Koch, in Bischof Wixer … – Pardon: Mixa oder Alice Schwarzer aufs Schönste verkörpert finden.

Sie alle freuen sich noch ihres Lebens, doch viele andere Unbequeme haben bereits mit ihrem Leben bezahlt. Wie etwa Luise Rinser, die, weil andere es nicht taten, sich selbst als „unbequeme Mahnerin“ bezeichnete; wie etwa Regine Hildebrandt oder wie der gleichfalls längst verschiedene Fernsehpfarrer Sommerauer, die sich beide als „Querdenker“ titulieren ließen und uns bis heute zu denken geben; wie etwa der Querdenker Jürgen W. Möllemann, der uns heute Gott sei Dank nicht mehr zu denken gibt, weil sein Fall schon nach wenigen Sekunden abgeschlossen war.

Sie alle dachten kreuz und quer und sind nicht mehr – sie waren unbequem. Bei „unbequem“ fällt uns aber selbstverständlich wieder – Gesetz der Reihung – der Unbequemste von allen ein, nämlich Günter Grass persönlich. Der Mann, der 60 Jahre lang die Unbequemlichkeit auf sich nahm, nicht über seine Mitgliedschaft in der Waffen-SS zu sprechen. Weil er, wie er sagte, „noch keine Form“ dafür gefunden hatte. Kein Wunder, die gesuchte Form war eine Zwiebel, da wäre außer Günter Grass persönlich doch keine Sau drauf gekommen, mal ehrlich.

„Der Unbequeme“ zeigt in mitreißenden Szenen, wie Grass schwere Bedenken gegen seine Vorverurteilung hegt, wie er in letzter Sekunde seine Ehrenbürgerschaft von Danzig rettet, wie er mit dem Göttinger Steidl-Verlag die die erste Druckauflage des Zwiebelbuches verrechnet (300.000) und wie er in einer wilden Verfolgungsjagd seine noch glühende Wurzelholzpfeife einfängt. Grass spielt alle Stunts selbst, teilweise mit nichts als einem Schnauzbart bekleidet. Wir schulden ihm Respekt. Dieser Unbequeme, wir sollten ihn ehren, für das, was er tut. Für seine kompromisslose Offenheit und Ehrlichkeit zahlt er einen hohen Preis, denn er darf kein normales Leben führen. Tagaus, tagein sitzt er in der unbequemen ersten Reihe oder der ersten Klasse, muss sich schon zu Wort melden, wenn andere noch beim Nachdenken sind, und wo unsereins unbehelligt im Hintergrund bleibt, steht er in vorderster Front, in der Schusslinie, er wird bombardiert mit Anfragen, Ehrungen und Honoraren, es hagelt Bundesverdienstkreuze und Nobelpreise. Nein, das wäre nichts für uns bequem Säcke. Erweisen Sie also bitte dem größten Unkomfortablen des Landes die Ehre und machen Sie mit: Gehen Sie ins Kino und zeigen Sie Solidarität mit Günter Grass. Und bitte Vorsicht an der Kasse! Der Film heißt „Der Unbequeme“ – und nicht etwa „Vollidiot“. OLIVER MARIA SCHMITT