Mäßigung im Staubsturm

Ex-Taliban-Funktionäre finden lobende Worte für Präsident Karsai und die internationale Wiederaufbauhilfe im Land

AUS GARDEZ THOMAS RUTTIG

Während zwischen Kabul und Berlin heftig diskutiert wird, ob es moderate Taliban gibt oder nicht und ob man gegebenenfalls mit ihnen reden sollte, könnte es sein, dass sie sich in Afghanistan gerade zu Wort gemeldet haben. Fast wie auf Bestellung versammelten sich am Montag in Gardez, der Hauptstadt der südostafghanischen Provinz Paktia, etwa 100 frühere Mudschaheddin-Kommandeure und -Kämpfer und weihten das örtliche Büro einer neuen Bewegung ein, die sich bald als politische Partei registrieren lassen will: die „Islamische Bewegung des Mudschaheddin-Volkes Afghanistans für Nationale Einheit“.

In der Paschtu-Version ihres sperrigen Namens kommt genau dasselbe Wort für „Bewegung“ vor, das auch die Taliban verwenden: Tahrik. Und das ist nicht die einzige Parallele zu den Anhängern von Taliban-Führer Mullah Omar: So bezeichnen auch die Taliban ihre Kämpfer als „Mudschaheddin“. Und während ein Staubsturm durch Gardez fegte und sich zwei Männer an eine Bambusstange klammerten, damit das Zeltdach über der Open-Air-Sitzung nicht davonflog, trugen islamische Geistliche und junge Exmudschaheddin abwechselnd patriotische Gedichte und Reden über den opferreichen Kampf gegen die Sowjets vor. Kein Applaus unterbrach sie, wie es schon unter dem Taliban-Regime zum Ritual gehörte. Zum Schluss zog der Gründer der Bewegung, Saidullah Said, die Flagge der neuen Partei auf: weiß wie die der Taliban, nur durch ein grünes – den Islam symbolisierendes – Dreieck und einen goldgestickten Schriftzug in der Mitte ergänzt.

Die Sprache der Reden war hingegen dezidiert moderat und setzte sich deutlich von der aggressiven Propaganda Mullah Omars und seines Kriegsministers Mullah Dadullah ab. Zwar wurden ausgiebig der Koran und die Verantwortung der Mudschaheddin vor Allah und der afghanischen Nation zitiert. Es war aber auch von Reformen, guter Regierungsführung, offenen Armen für ethnische Minderheiten und der „Chance“ die Rede, die in der internationalen Unterstützung für den Wiederaufbau Afghanistans liege. Ausdrücklich wurde der gewählte Präsident Hamid Karsai gewürdigt. In einem Interview, das zeitgleich in einer hiesigen Regionalzeitung erschien, sprach Parteichef Said gar von weiblichen Mitgliedern. Kein kritisches Wort fiel über die ausländischen Truppen im Land. Den ausführliche Rückblick auf den Kampf gegen die sowjetische Besatzung – „eine Lektion der Freiheit“, so Said – kann man aber auch als Warnung an andere Invasoren verstehen.

Saids Stellvertreter Maulawi Khaleqdad kam schließlich einer Entschuldigung für die Untaten der Taliban näher als niemand anders vor ihm, als er sich „betrübt über Fehler“ zeigte, die zu „Tod und Zerstörung“ geführt hätten. Er legte nach, dass sich „der Weg der Waffen“ als falsch herausgestellt habe. Said forderte indirekt aber auch eine Beteiligung der Taliban an der Regierung und sprach sich, in Anspielung auf wiederholte Kabuler Angebote, für eine „Lösung der gegenwärtigen Probleme durch Verhandlungen“ aus.

Nach der Veranstaltung sagte Said der taz, dass seine Bewegung – offenbar unbemerkt selbst von der einheimischen Presse – bereits vor einer Woche ein Büro in der Hauptstadt Kabul und sogar schon im Juni 2006, allerdings unter anderem Namen, auch in der Paktia benachbarten Provinz Khost eröffnet habe. Said leitete unter den Taliban eine Abteilung im Außenministerium. Nach dem Fall des Regimes verbrachte er geraume Zeit in Guantánamo, steht aber genauso wenig auf der 142 Namen umfassenden UN-Embargoliste gegen ehemalige Taliban-Funktionäre wie Maulawi Khaleqdad, der vor dem Fall des Taliban-Regimes die Finanzen der Provinz Kabul verwaltete.

Ungewöhnlich ist auch, dass die neue Bewegung sich – im Gegensatz zu den meisten anderen afghanischen Parteien – nicht von Kabul, sondern von der Peripherie aus organisiert. Aber die Taliban genießen vor allem Unterstützung in der paschtunischen Bevölkerung der südlichen Landeshälfte. Aus Paktia kommt sogar jene Taliban-Fraktion, deren Vorläufer sich schon in den 60er-Jahren organisierten und Mitte der 90er-Jahre den Kern der Taliban-Bewegung stellte. Dieser politischen Richtung schienen auch die meisten namhaften Teilnehmer der Sitzung in Gardez anzugehören, auch wenn Angehöriger anderer Gruppen anwesend waren, vor allem derjenigen, die heute Karsai unterstützen. Dies könnte auch die hier kursierenden Gerüchte genährt haben, die neue Bewegung genieße – anders als die vor wenigen Wochen gegründete Nationale Front, eine Neuauflage der Nordallianz, unter Expräsident Rabbani – das Wohlwollen des Präsidenten.

Ein konkretes politisches Programm wird aus all dem noch nicht sichtbar. Von der Notwendigkeit, die Rechte der Mudschaheddin zu verteidigen, sprechen auch andere afghanische Parteien. Saids Slogan von „Islamiat und Afghaniat“ – Islam und Afghanentum – für die seine Bewegung stehe, priorisiert wie die ursprünglichen Taliban die Religion, fügt aber auch den Nationalismus als zusätzliches Element hinzu. Die neue Bewegung ist wohl zunächst vor allem ein Fingerzeig, dass sich frühere Taliban nun organisiert auf der innenpolitischen Bühne des Landes zurückmelden. Als lokales Phänomen gestartet, hat sie die laufende Diskussion um etwaige Gespräche mit den Taliban aufgegriffen und präsentiert sich nun als gesamtnationales Angebot.

Rafiullah Bidar, Leiter der Unabhängigen afghanischen Menschenrechtskommission in Paktia und politisch eher links einzuordnen, unterstützt die Idee, Gespräche mit moderaten Taliban zu führen, die es seiner Meinung nach sehr wohl gebe. Deshalb begrüßt er gegenüber der taz auch die Gründung der neuen Bewegung. „Für die Stabilität und Sicherheit in unserem Land ist das sehr wichtig. Ich glaube, dass diese Leute sehr viel für uns tun können.“ Besondere Hoffnung setzt er in Maulawi Khaleqdad, einen angesehenen Geistlichen mit Verbindungen in den Mainstream der Taliban-Bewegung, den er als mäßigendes Element ansieht. Etwaige Gespräche mit dem Kreis um Mullah Omar hält er hingegen für sehr unwahrscheinlich.

Insgesamt ist es noch zu früh, mit Saids Bewegung die Hoffnung auf eine schnelle Beendigung des Aufstandes in Südafghanistan zu verbinden. Zum einen, weil sich prominente Taliban-Abtrünnige wie Exaußenminister Mutawakkel und der frühere Botschafter Saif bisher aus der organisierten Politik und damit auch aus der neuen Bewegung heraushalten, zum zweiten, weil offenbar auch die Hardline-Taliban Mullah Omars sich bisher nicht zu ihr geäußert haben. Es muss sich erst noch herausstellen, wie stark die neue Bewegung die militanten Taliban überhaupt mäßigend beeinflussen kann. Es könnte sich bei ihr auch um eine Kopie der Doppelstrategie der radikal-islamistischen Hisb-i-Islami Gulbuddin Hekmatjars handeln, die offen die Karsai-Regierung bekämpft. Ein von ihr abgespaltener Flügel, der sich in Kabul etabliert hat, wird von vielen Afghanen für ein Trojanisches Pferd Hekmatjars gehalten. Es wird sich trotzdem lohnen, Saids Bewegung im Auge zu behalten. Auch die Anfänge der ursprünglichen Taliban 1994 blieben von der Presse fast unbemerkt.