berliner szenen Kostbare Lesezeit

Die Bibliothekarin

Seit ich in der Esmarchstraße wohne, gehe ich mindestens einmal die Woche in die Kurt-Tucholsky-Bibliothek. Ich muss nur fünf Stockwerke hinunter und über die Straße gehen und schon bin ich da. Ich war schon als Kind von Bibliotheken fasziniert, und daran hat sich bis heute nichts geändert, aber ich habe noch nie so dicht neben einer gewohnt.

Mit schiefgelegtem Kopf wandere ich an den Regalen entlang und lese die Titel und Autoren auf den Buchrücken. Wenn wenig los ist, sitzt die Bibliothekarin hinter ihrem Tresen und liest in einem Buch. Neben dem Buch liegt ein Lesezeichen, das sie behutsam zwischen die Seiten legt, sobald man zu ihr kommt und eine Frage hat. Es ist ein sehr schönes Lesezeichen. Ich mag die Bibliothekarin. Sie gibt mir das Gefühl, dass Zeit nicht Geld, sondern etwas viel Kostbareres ist. Vorgestern haben wir uns über einen Roman unterhalten, den ich gelesen hatte und nun zurückgab. Er hieß „Das Leben entzwei“ und erzählt eine ziemlich traurige Geschichte. Sie hatte ihn auch gelesen – wir sprachen darüber, wie wir uns beim Lesen gefühlt haben. Ich glaube, solche Gespräche über Bücher kann man nur mit Bibliothekarinnen führen. Vielleicht noch mit Buchhändlerinnen. Aber Buchhändlerinnen arbeiten in einer Buchhandlung, und Buchhandlungen sind keine Bibliotheken.

„Hier ist ihre Karte, und hier ist der Beleg. Die Ausleihfrist beträgt vier Wochen.“ Sie sieht mich an. „Aber sie kommen ja sicherlich schon vorher wieder.“ Und lächelt. „Ja, ich komme vorher wieder“, sage ich und lächle auch. Diese Sätze sagen wir immer. Wir sind gut aufeinander eingespielt. Beinahe so gut wie die beiden Angler (wie Vojtech und Matyas) in der tschechischen Novelle, die neben ihr auf dem Tisch liegt. DANIEL KLAUS